Entscheidungsstichwort (Thema)
Amnestiegesetz, Verzicht auf Umsatzsteuererhebung, Italien
Leitsatz (amtlich)
1. Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage sowie aus Art. 10 EG verstoßen, dass sie in den Art. 8 und 9 der Legge n. 289 concernente le disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (legge finanziaria 2003) (Gesetz Nr. 289 über die Bestimmungen zur Festlegung des Jahres- und Mehrjahreshaushalts des Staates [Haushaltsgesetz 2003]) einen allgemeinen und undifferenzierten Verzicht auf die Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen bewirkten steuerbaren Umsätze vorgesehen hat.
2. Die Italienische Republik trägt die Kosten.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 2, 22
Beteiligte
Kommission der Europäischen Gemeinschaften |
Tatbestand
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats ‐ Art. 10 EG ‐ Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie ‐ Pflichten bei Inlandsumsätzen ‐ Kontrolle der steuerbaren Umsätze ‐ Amnestie“
In der Rechtssache C-132/06
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 7. März 2006,
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und M. Afonso als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Italienische Republik, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Lenaerts, G. Arestis und U. Lõhmus sowie der Richter E. Juhász, A. Borg Barthet (Berichterstatter), M. Ileši&ccaron,; J. Malenovský, J. Klŭcka und E. Levits,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2007,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. Oktober 2007
folgendes
Urteil
1
Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) sowie aus Art. 10 EG verstoßen hat, dass sie in den Art. 8 und 9 der Legge n. 289 concernente le disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (legge finanziaria 2003) (Gesetz Nr. 289 über die Bestimmungen zur Festlegung des Jahres- und Mehrjahreshaushalts des Staates [Haushaltsgesetz 2003]) vom 27. Dezember 2002 (Supplemento ordinario Nr. 240/L zu GURI Nr. 305 vom 31. Dezember 2002, im Folgenden: Gesetz Nr. 289/2002) ausdrücklich und allgemein vorgesehen hat, auf die Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen bewirkten steuerbaren Umsätze zu verzichten.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
2
Art. 10 EG lautet:
„Die Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgabe.
Sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefährden könnten.“
3
Im zweiten Erwägungsgrund der Sechsten Richtlinie heißt es:
„… [D]er Haushalt der Gemeinschaften [wird], unbeschadet der sonstigen Einnahmen, vollständig aus eigenen Mitteln der Gemeinschaften finanziert. Diese Mittel umfassen unter anderem Mehrwertsteuereinnahmen, die sich aus der Anwendung eines gemeinsamen Satzes auf eine steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ergeben, welche einheitlich nach Gemeinschaftsvorschriften bestimmt wird.“
4
Der vierte Erwägungsgrund der Sechsten Richtlinie lautet:
„Dabei ist das Ziel im Auge zu behalten, die Besteuerung der Einfuhr und die steuerliche Entlastung der Ausfuhr im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen und zugleich die Neutralität des gemeinsamen Umsatzsteuersystems in Bezug auf den Ursprung der Gegenstände und Dienstleistungen zu wahren, damit schließlich ein gemeinsamer Markt verwirklicht wird, auf dem ein gesunder Wettbewerb herrscht und der mit einem echten Binnenmarkt vergleichbare Merkmale aufweist.“
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Im vierzehnten Erwägungsgrund der genannten Richtlinie heißt es:
„Die Pflichten der Steuerpflichtigen müssen so weit wie möglich harmonisiert werden, um die erforderliche Gleichmäßigkeit bei der Steuererhebung in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen. Die Steuerpflichtigen haben periodische Steuererklärungen über den Gesamtbetra...