Sachverhalt
Bei der Klage der EU-Kommission gegen Italien ging es um die Steueramnestie in Italien für die Jahre 1998 bis 2001. Die Kommission wandte sich gegen die Art. 8 und 9 des italienischen Haushaltsgesetzes für das Jahr 2003. Danach hatten Steuerpflichtige, die keine vollständigen Steuererklärungen abgegeben hatten, die Möglichkeit, sich durch Vorlage ergänzender Erklärungen und Zahlung eines Geldbetrags weiter gehender Steuerschulden für die die Steuerjahre 1998 bis 2001 zu entledigen. Die Regelung erstreckte sich auf verschiedene Steuern. Die Klage der Kommission richtete sich ausschließlich auf den Bereich der Mehrwertsteuer. Sie war der Auffassung, dass Italien dadurch, dass es im Haushaltsgesetz 2003 ausdrücklich vorgesehen habe, auf die Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen getätigten steuerbaren Umsätze generell zu verzichten, gegen seine Verpflichtungen aus den Artikel 2 und 22 der 6. EG-Richtlinie (ab 1.1.2007: Artikel 2 Abs. 1 Buchst. a, c und d und aus den Art. 193 bis 273 des Titels XI der MwStSystRL) in Verbindung mit Art. 10 EG-Vertrag verstoßen habe.
Nach der italienischen Amnestieregelung konnten sich Steuerpflichtige, die ihren Erklärungspflichten für die Besteuerungszeiträume zwischen 1998 und 2001 - also in bestimmten Fällen lediglich ein Jahr vor Erlass des Gesetzes - nicht nachgekommen waren, jeder Kontrolle und den anwendbaren Sanktionen bis zu einem Betrag entziehen, der dem Doppelten des Mehrwertsteuerbetrags entsprach, der in der ergänzenden Mehrwertsteuererklärung angegeben wurde. Denn die italienischen Behörden durften die in den vier Jahren vor Erlass des Gesetzes bewirkten steuerbaren Umsätze nicht mehr prüfen, wenn auch nur bis zur Höhe der in Art. 8 Abs. 6 des Gesetzes festgelegten Beträge. Dieser Verzicht galt grundsätzlich dann, wenn der Steuerpflichtige den Betrag, den er ursprünglich hätte zahlen müssen, angab und entrichtete. Da jedoch eine Überprüfung nur für Beträge durchgeführt werden konnte, die über das Doppelte der vom Steuerpflichtigen in der ergänzenden Mehrwertsteuererklärung angegebenen Beträge hinausgingen, bot das Gesetz für die Steuerpflichtigen einen starken Anreiz, lediglich einen Teil der tatsächlichen Schuld anzugeben. Daraus folgte, dass die Steuerpflichtigen, die in den Genuss dieses Artikels kamen, sich endgültig ihren Verpflichtungen zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer entziehen konnten, die sie normalerweise für die Besteuerungszeiträume 1998 bis 2001 hätten entrichten müssen.
Entscheidung
Der EuGH hat diese Praxis als Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verurteilt. Er schließt aus Artikel 2 und 22 der 6. EG-Richtlinie sowie aus Art. 10 EG-Vertrag, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten. Hierzu müssen die Mitgliedstaaten die Erklärungen der Steuerpflichtigen, deren Konten und die anderen einschlägigen Unterlagen prüfen und die geschuldete Steuer berechnen und einziehen. Im Rahmen des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Beachtung der Verpflichtungen sicherzustellen, denen die Steuerpflichtigen unterliegen. Sie verfügen insoweit insbesondere hinsichtlich der Art des Einsatzes der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel über einen gewissen Spielraum. Dieser Spielraum wird jedoch durch die Verpflichtung begrenzt, eine wirksame Erhebung der Eigenmittel der Gemeinschaft zu garantieren und bei der Behandlung der Steuerpflichtigen keine bedeutsamen Unterschiede zu schaffen, und zwar weder innerhalb eines der Mitgliedstaaten noch in den Mitgliedstaaten insgesamt. Der EuGH hatte bereits entschieden, dass die 6. EG-Richtlinie nach dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität auszulegen ist, dem zufolge Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen, vgl. EuGH, Urteil vom 16.9.2004, C-382/02 (Cimber Air). Jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die die Erhebung der Mehrwertsteuer betrifft, muss -so der EuGH nun - diesem Grundsatz Rechnung tragen.
Italien hatte zur seiner Verteidigung vorgetragen, dass angesichts der Fallzahlen, in denen die Steueramnestie ausgeschlossen sei, deren tatsächliche Auswirkung gering sei. Die Steuerpflichtigen, die für keines der betreffenden Steuerjahre eine Mehrwertsteuererklärung eingereicht hätten, sowie diejenigen, die ihren Verpflichtungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer nicht nachgekommen seien und denen gegenüber bereits ein Verfahren zugunsten der Steuerbehörden abgeschlossen worden sei, seien von der Amnestie ausgeschlossen gewesen. Demgegenüber hielt der EuGH die vorgelegten Zahlen der Ausschlussfälle für wenig bedeutsam. Danach hatten etwa 15 % der Steuerpflichtigen (rund 800 000) im Jahr 2001 eine steuerliche Amnestie beantragt. Aufgrund dessen hat der EuGH der Klage der Kommission stattgegeben. Durc...