Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch eines nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländers wegen rückwirkender Geltung von § 62 Abs. 2 EStG
Leitsatz (redaktionell)
- § 62 Abs. 2 EStG i. d. F. v. 13.12.2006 ist in verfassungskonformer Auslegung auch auf Aufenthaltstitel nach dem AuslG anzuwenden, wenn der Titel zum Zweck der Erwerbstätigkeit erteilt wurde und für den Fall des Fortbestandes des Beschäftigungsverhältnisses unmittelbar verlängert werden konnte und sollte.
- Eine nach § 30 Abs. 3 AuslG erteilte Aufenthaltsbefugnis ist in diesem Fall mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG vergleichbar und begründet unter den weiteren Voraussetzungen eines mindestens dreijährigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet und einer berechtigten Erwerbstätigkeit einen Anspruch auf Bewilligung von Kindergeld.
Normenkette
EStG § 52 Abs. 61a S. 2, § 62 Abs. 2; AufenthaltG § 25 Abs. 5, § 101 Abs. 2; AuslG § 30 Abs. 3, § 55 Abs. 2
Streitjahr(e)
2003
Tatbestand
Strittig ist, ob der Kläger Anspruch auf Kindergeld für seine 1988, 1991 und 1992 geborenen Kinder für den Zeitraum von Januar 2003 bis Juni 2003 hat.
Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er reiste am 27. Juni 1990 mit seiner Ehefrau und dem ältesten Kind in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seine Anträge, ihm einen Vertriebenenausweis gemäß § 1 Abs. 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) auszustellen und eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, lehnte die Stadt „D” durch Bescheide vom 27. September und 7. November 1990 ab. In dem Bescheid, durch den die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt wurde, forderte die Stadt „D” den Kläger zugleich zur Ausreise auf und drohte ihm für den Fall, dass er dieser Aufforderung nicht nachkomme, die Abschiebung nach Polen an (Ausländerakte Bl. 6 ff.). Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Seinen Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen, lehnte das Verwaltungsgericht „E” durch Beschluss vom 7. August 1992 ab (Ausländerakte Bl. 44 ff.). Die dagegen eingelegte Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen durch Beschluss vom 24. Juni 1994 zurück (Ausländerakte Bl. 100 ff.). Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 22. März 1993 zurückgewiesen; Klage dagegen wurde nicht erhoben (Ausländerakte Bl. 145).
Die zwischenzeitlich aufgrund eines Umzugs zuständig gewordene Ausländerbehörde der Stadt „F” erteilte dem Kläger am 24. Juni 1994 eine Bescheinigung gemäß § 42 Abs. 2 des Ausländergesetzes (AuslG), nach der sie bis zur Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung von einer Vollziehung der Ausreisepflicht absehe. Die Bescheinigung war bis zum 23. September 1994 gültig (Ausländerakte Bl. 95 R).
Die „G” GmbH erklärte in einer Bescheinigung vom 6. September 1994, dass sie beabsichtige, den Kläger ab dem 1. Oktober 1994 als Gabelstaplerfahrer einzusetzen. Die Ausländerbehörde der Stadt „F” erteilte dem Kläger daraufhin eine Aufenthaltsgenehmigung in Gestalt der Duldung gemäß § 69 Abs. 2 bzw. 3 AuslG bis zum 7. Dezember 1994 (Ausländerakte Bl. 110). Das Arbeitsamt „H” erteilte dem Kläger auf einen am 6. September 1994 gestellten Antrag hin für die Zeit vom 6. September bis zum 7. Dezember 1994 eine Arbeitserlaubnis für die Tätigkeit als Gabelstaplerfahrer bei der „G” GmbH (Ausländerakte Bl. 112). Sowohl die Aufenthaltsgenehmigung als auch die Arbeitserlaubnis wurden in der Folgezeit nach Vorlage von Bescheinigungen der „G” GmbH über die Fortdauer des Arbeitsverhältnisses jeweils befristet verlängert, die Aufenthaltsgenehmigung als Aufenthaltsbefugnis (Ausländerakte Bl. 118). Das Arbeitsamt „H” erteilte dem Kläger am 18. Dezember 2001 eine unbefristete und unbeschränkte Arbeitserlaubnis. Die Ausländerbehörde der Stadt „F” erteilte ihm am 18. Juli 2003 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, weil der Kläger sich seit acht Jahren geduldet bzw. aufgrund einer Aufenthaltsbefugnis im Bundesgebiet aufhalte (Ausländerakte Bl. 179). Die Aufenthaltserlaubnis wurde am 10. August 2004 für rückwirkend gültig ab dem 23. Januar 2003 erklärt (Ausländerakte Bl. 189).
Der Kläger beantragte unmittelbar nach Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bei der Familienkasse des Arbeitsamtes „H” (Familienkasse) Kindergeld für seine drei Kinder. Nachdem er auch eine Haushaltsbescheinigung vorgelegt hatte, setzte die Familienkasse durch Bescheid vom 4. August 2003 Kindergeld für die Kinder ab Juli 2003 fest. Der Kläger legte dagegen Einspruch ein, mit dem er eine Festsetzung des Kindergeldes ab Dezember 2002 begehrte. Er begründete dies damit, dass er seit Dezember 1994 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis gewesen sei und damit nach acht Jahren, d. h. ab Dezember 2002, Anspruch auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis gehabt habe. Dass sie ihm erst im Juli 2003 erteilt worden sei, habe er nicht zu vertreten. Die verspätete Erteilung beruhe vielmehr auf einem Verschulden der Ausländerbehörde der Stadt „F”.
Die Familienka...