Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachweis des Zugangs eines Steuerbescheids bei Berufung des Rechtsnachfolgers des Steuerpflichtigen auf die fehlende Bekanntgabe eines Steuerbescheides. - Revision eingelegt (Aktenzeichen des BFH: VI R 16/24)
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Finanzbehörde obliegt der volle Beweis für den Zugang eines schriftlichen Verwaltungsaktes auch dann, wenn der Nichtzugang erst nach Jahren und durch den Rechtsnachfolger des Steuerpflichtigen geltend gemacht wird. Dieser Beweis kann auf Indizien gestützt und im Wege der freien Beweiswürdigung geführt werden. Die Regelung in § 138 Abs. 4 ZPO, wonach eine Erklärung mit Nichtwissen (nur) über Tatsachen zulässig ist, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind, ist im Besteuerungsverfahren nicht anwendbar. Ebenso wenig ausreichend ist das bloße Bestreiten des Zugangs eines Schriftstücks durch den Rechtsnachfolger des Bekanntgabeadressaten. Bei der Bekanntgabe eines Verwaltungsakts handelt es sich um einen tatsächlichen Vorgang, den aus eigener Wahrnehmung nur der Bekanntgabeadressat bekunden und bestreiten kann.
2. Der Maßstab, der an die Erschütterung der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO im Einzelfall zu stellen ist, darf nicht überhöht werden, so dass ausreichen kann, wenn sich auch nur im Ansatz begründete Zweifel am Zugang des Verwaltungsaktes feststellen lassen.
3. Die Zugangsfiktion ist erschüttert, wenn für den Steuerpflichtigen eine höhere als die tatsächlich erfolgte Einkommensteuererstattung prognostiziert wurde und bei Bekanntgabe des Bescheids zu erwarten gewesen wäre, dass Einspruch einlegt oder jedenfalls Kontakt zum Finanzamt oder dem Prozessbevollmächtigten aufgenommen wird. Zweifel am Zugang eines Bescheids können auch durch die vorgefundene Situation bei der Aufnahme des Nachlasses des Rechtsvorgängers des Steuerpflichtigen (hier: chronologisch sortierte Steuerunterlagen einschließlich der Berechnung des Prozessbevollmächtigten über die zu erwartende Steuererstattung) begründet werden.
Normenkette
AO § 122 Abs. 2 Nr. 1; ZPO § 138 Abs. 4; EStG
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die (fehlende) Bekanntgabe eines Einkommensteuerbescheids. Die Klägerin ist eine Stiftung und als Gesamtrechtsnachfolgerin der Steuerpflichtigen der Auffassung, dass dieser der Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 23. 10. 2017 nicht bekannt gegeben wurde.
Die Steuerpflichtige – geboren am xx.xx. 19xx und verwitwet seit August 2015 – erzielte im Streitjahr 2016 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
Im August 2016 erteilte die Steuerpflichtige einer Steuerberatungsgesellschaft – dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin – schriftlich eine Vollmacht zur Vertretung in Steuersachen, die auch eine Bekanntgabevollmacht zur Entgegennahme von Steuerbescheiden enthielt. Im September 2016 übermittelte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin diese Vollmacht an den Beklagten.
Nachfolgend fertigte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Steuererklärung der Steuerpflichtigen für das Jahr 2016 an. Diese ging im Oktober 2017 bei dem Beklagten ein. Auf dem Mantelbogen war im Feld mit der Überschrift „Der Steuerbescheid soll nicht mir / uns zugesandt werden, sondern:” der Name und die Adresse der Steuerpflichtigen angegeben. In der Anlage betreffend die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit machte die Steuerpflichtige unter anderem Kontoführungsgebühren und Steuerberatungskosten als Werbungskosten geltend.
Unter dem 23. 10. 2017 erließ der Beklagte den streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheid für 2016. Aufgrund eines Übertragungsfehlers berücksichtigte er die erklärten Werbungskosten hinsichtlich der Kontoführungsgebühren und der Steuerberatungskosten nicht. Nach der Abrechnung hatte die Steuerpflichtige insgesamt 178,62 EUR zu viel gezahlt.
Der an die Steuerpflichtige persönlich adressierte Einkommensteuerbescheid für 2016 wurde vom Rechenzentrum Düsseldorf am 17. 10. 2017 ordnungsgemäß mit dem „Status 1” kuvertiert, ohne manuelle Bearbeitung durch einen Operator automatisch in die entsprechende Postbox einsortiert und am Absendetag (23. 10. 2017) zur Post eingeliefert. Die Sendung bestand aus zwei Blatt. Es befand sich kein weiterer Bescheid im Umschlag.
Anschließend überwies der Beklagte den Erstattungsbetrag (178,62 EUR) an die Steuerpflichtige.
Der Beklagte erließ im Januar 2019 einen Einkommensteuerbescheid für 2017, der an die Steuerpflichtige adressiert war.
Im Februar 2020 verstarb die Steuerpflichtige. Erbin war die Klägerin. Zur Testamentsvollstreckerin wurde die Sparkasse T-Stadt ernannt. Außerdem erließ der Beklagte im Februar 2020 einen Einkommensteuerbescheid für 2018, der an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin adressiert war.
Bei der Aufnahme des Nachlasses im Haushalt der Steuerpflichtigen fanden Mitarbeiter der Sparkasse T-Stadt eine gut geordnete Wohnung vor. Die Steuerunterlagen befanden sich in einem büroähnlichen Zimmer, in dem auch alle weiteren finanziellen und sonstigen Unterla...