Entscheidungsstichwort (Thema)
Missachtung besonderer Schutzvorschriften als Indiz für eine Benachteiligung i.S.d. AGG. Widerlegung der Benachteiligungsvermutung bei hypothetisch rechtmäßigem Alternativhandeln. Unwirksame Kündigung und Entschädigungsanspruch
Leitsatz (amtlich)
1. Die Missachtung der besonderen Schutzvorschriften des Mutterschutzgesetzes zu Gunsten der werdenden Mutter bei Erklärung einer Kündigung indiziert eine Benachteiligung der Frau wegen ihrer Schwangerschaft und damit wegen ihres Geschlechts.
2. Die Vermutung einer Benachteiligung wegen des Geschlechts bzw. einer Schwangerschaft ist widerlegt, wenn ausschließlich andere Gründe zu der ungünstigeren Behandlung geführt haben. Gegen eine Diskriminierung spricht es, wenn jeder andere in dieser Situation - unabhängig von seinem Geschlecht oder einer Schwangerschaft - ebenso behandelt worden wäre.
Leitsatz (redaktionell)
Besteht die nach dem AGG benachteiligende Maßnahme in einer Kündigung, kann sich daraus ungeachtet der Unwirksamkeit einer diskriminierenden Kündigung ein Entschädigungsanspruch ergeben. Die Vorschrift des § 2 Abs. 4 AGG, nach der für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz gelten, steht dem nicht entgegen.
Normenkette
AGG §§ 1, 2 Abs. 4, § 3 Abs. 1, § 7 Abs. 1, § 15 Abs. 2, § 22; MuSchG § 17; AGG § 15 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Stralsund (Entscheidung vom 15.12.2021; Aktenzeichen 3 Ca 189/21) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vom 15.12.2021 - 3 Ca 189/21 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über eine Entschädigungsforderung wegen geschlechtsbezogener Benachteiligung.
Die 1986 geborene Klägerin nahm am 01.09.2018 bei dem Beklagten in dessen Anwaltskanzlei eine Tätigkeit als angestellte Rechtsanwältin mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von 30 Wochenstunden auf, wobei in den ersten beiden Monaten eine verkürzte Regelarbeitszeit von 24 Wochenstunden galt. Die Anwaltskanzlei des Beklagten hat ihren Hauptsitz in R.-D.. Die Klägerin betreute die Außenstelle S. Neben ihr war dort eine Rechtsanwaltsfachangestellte tätig. Die Vergütung der Klägerin bestand aus einem Grundlohn sowie einem leistungsabhängigen Entgelt. Das monatliche Entgelt betrug bei einer 30-Stunden-Woche zuletzt € 2.500,00 brutto.
Ende des Jahres 2020 wurde die Klägerin schwanger. Der voraussichtliche Geburtstermin wurde auf den 09.08.2021 berechnet; der Mutterschutz begann rechnerisch am 28.06.2021.
Ab April 2020 befand sich die Klägerin bedingt durch die Corona-Pandemie in Kurzarbeit. Die Kurzarbeit war zunächst bis einschließlich Juni 2020 angeordnet. Für diesen Zeitraum vereinbarten die Parteien ein Festgehalt von € 2.500,00 brutto. Die Klägerin arbeitete in dieser Zeit nur dienstags bis donnerstags.
Die Rechtsanwaltsfachangestellte des S. Büros erhielt mit Schreiben vom 15.04.2021 eine außerordentliche Kündigung, da sie Waren zum privaten Gebrauch im Namen des Beklagten bestellt, aber nicht bezahlt hatte, sodass es in der Folge zu einer Titulierung der Forderung gegen den Beklagten gekommen war. Am 20.04.2021 informierte der Beklagte die Klägerin per WhatsApp darüber, die Kanzlei in S. definitiv spätestens zum Jahresende 2021, möglicherweise auch bereits zum Sommer, schließen zu wollen. Er schlug vor, sich daraus ergebende mögliche Szenarien gemeinsam zu besprechen.
Vom 07.05. bis 31.05.2021 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Die Verfahren der S. Zweigstelle übernahm daraufhin im Wesentlichen der andere angestellte Rechtsanwalt, Rechtsanwalt W..
Am 27.05.2021 schrieb der Beklagte der Klägerin auf WhatsApp:
"Hei, die Kanzlei in S. ist aufgelöst. Alle Akten, Surfer und Rechner befinden sich in R.. Wenn du also wieder genesen bist dann komme bitte nach R. und gibt noch deine genauen Arbeitszeiten mit weiter 50% Kurzarbeit durch wegen der Planung
...
Gut wäre wenn du in jedem Fall mittwochs und donnerstags kommen könntest und vor allem den Beratungstag donnerstags hier machen könntest"
Die Klägerin machte einen Wechsel an den Hauptsitz der Kanzlei davon abhängig, dass die Fahrzeiten von ihrer Wohnung nach R.-D. im Umfang von etwa drei Stunden täglich als Arbeitszeit angerechnet werden. Dazu war der Beklagte jedoch nicht bereit und stellte die Klägerin ab dem 31.05.2021 von der Arbeit frei.
Anlässlich einer Gebührenanforderung des Amtsgerichts Hamburg in dem bisher von der Klägerin geführten Rechtsstreit G. ./. XX D. GmbH stellte Rechtsanwalt W. fest, dass in der elektronischen Akte zu diesem Verfahren am 03.05.2021 zwischen 10:46 Uhr und 10:48 Uhr vom Rechner der Klägerin aus insgesamt 11 Dokumente gelöscht worden waren (Mandatsanzeige an Beklagte, Klage, Schriftsatz an Amtsgericht, PKH-Antrag und Unterlagen, E-Mails an Mandantin etc.). Die übrigen Daten, insbesondere Stammdaten und Fristen, waren noch vorhanden. Die in Papierform geführte Handakte zu diesem Verfahren konnte Rechtsanwalt W. nicht finden....