Leitsatz
Es wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob § 237 i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung seit dem 01.01.2019 bis zum 15.04.2021 insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als der Zinsberechnung für die Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung (AdV) ein Zinssatz von einhalb Prozent pro Monat zugrunde gelegt wird.
Normenkette
§ 237, § 238 Abs. 1 Satz 1 AO, Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 GG
Sachverhalt
Der Kläger legte gegen seinen ESt-Bescheid Einspruch ein. Auf Antrag gewährte das FA AdV. Der Einspruch blieb erfolglos. Für die Dauer der AdV setzte das FA AdV-Zinsen fest. Dagegen erhob der Kläger erfolglos Einspruch. Er ist der Ansicht, dass die Erhebung der AdV-Zinsen seit dem 1.1.2019 (wie die Erhebung von Nachzahlungszinsen i.H.v. 6 % p.a.) verfassungswidrig ist. Der Zinslauf endete im Streitfall am 15.4.2021. Das FG hat die Klage abgewiesen. Die AdV-Zinsen seien dem Grund und der Höhe nach gerechtfertigt. Das ergebe sich schon daraus, dass der Steuerpflichtige ihnen ausweichen könne, indem er davon absehe, AdV in Anspruch zu nehmen (FG Münster, Urteil vom 8.3.2023, 6 K 2094/22 E, Haufe-Index 15670333).
Entscheidung
Auf die Revision des Klägers hat der Senat das Revisionsverfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob die AdV-Zinsen im maßgeblichen Zeitraum verfassungswidrig zu hoch waren.
Hinweis
1. Mit Beschluss vom 8.7.2021 (1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282, Vollverzinsung) hat das BVerfG (auf Verfassungsbeschwerde hin) § 233a AO i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO insoweit für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, als der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2014 ein Zinssatz von einhalb Prozent pro Monat zugrunde gelegt wird und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, wegen der nachhaltigen Absenkung des allgemeinen Zinsniveaus in der Folge der Finanzkrise ab dem Jahr 2008 bilde der Zinssatz von einhalb Prozent pro Monat seit dem 1.1.2014 den Erhebungszweck der Abschöpfung des Liquiditätsvorteils nicht mehr angemessen ab und erweise sich auch unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers als "evident nicht mehr realitätsgerecht". Er ist deshalb ab dem 1.1.2014 verfassungsrechtlich nicht mehr "erforderlich" und verfassungswidrig. Das BVerfG hat die Rechtsfolgen der Entscheidung (Weitergeltung bis zum 31.12.2018, Unanwendbarkeit ab dem 1.1.2019, Pflicht zur Neuregelung bis zum 31.7.2022) nicht auf andere Verzinsungstatbestände bezogen, sondern ausgeführt, diese bedürften einer "eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung".
2. Mit Art. 1 Nr. 5 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12.7.2022 (BGBl I 2022, 1142) ist der Gesetzgeber dem Auftrag des BVerfG nachgekommen und hat (nur) den Zinssatz bei Vollverzinsung neu geregelt. Rückwirkend zum 1.1.2019 beträgt der Zinssatz gemäß § 238 Abs. 1a AO für die Vollverzinsung nach § 233a AO nun 0,15 % für jeden Monat bzw. 1,8 % für jedes Jahr. Die Zinshöhe hat der Gesetzgeber unter Verwendung einer Mischkalkulation von Habenzinsen und einem Mittelwert der Zinsen für besicherte und unbesicherte Konsumentenkredite festgelegt (vgl. BR-Drucks. 157/22, 5 und 19). Den Zinssatz für die Zinsen bei AdV und die anderen Teilverzinsungstatbestände hat der Gesetzgeber nicht angepasst und diese Entscheidung in BR-Drucks. 157/22, 6 begründet.
3. Vor diesem Hintergrund hat nun der BFH dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob der Zinssatz für Aussetzungszinsen in dem im Leitsatz bezeichneten Zeitraum ebenfalls verfassungswidrig zu hoch war.
a) Prüfungsmaßstab ist, wie bei der Prüfung der Vollverzinsung, Art. 3 Abs. 1 GG, wobei im Rahmen der Gleichheitsprüfung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung anzustellen ist (gesteigerter Maßstab). Der Grund dafür ist, dass (zu hohe) Aussetzungszinsen mittelbar den Zugang zu einstweiligem Rechtsschutz erschweren und sich damit auf einen grundrechtlich geschützten Bereich auswirken. Denselben Maßstab hat das BVerfG (aus anderen Gründen) auch bereits im Vollverzinsungsbeschluss angewandt und deshalb letztlich die Erforderlichkeit der gesetzlichen Zinshöhe verneint.
b) Die relevante Ungleichbehandlung sieht der Senat darin, dass zwei Steuerpflichtige, deren Rechtsbehelfe letztlich erfolglos geblieben sind, im Hinblick darauf ungleich behandelt werden, ob sie AdV in Anspruch genommen und deshalb bei Fälligkeit nicht bezahlt haben: Wer bei Fälligkeit (freiwillig) zahlt, obwohl er AdV in Anspruch nehmen könnte, wird nicht mit Zinsen belastet. Wer nach Gewährung von AdV nicht zahlt, wird anschließend mit AdV-Zinsen von 6 % p.a. belastet. Fraglich ist, ob eine Ungleichbehandlung schon deshalb verneint werden kann, weil AdV nicht in Anspruch genommen werden muss – oder anders gesagt: Geschieht dem, der sich für die Inanspruchnahme von AdV entscheidet, schon deshalb kein Unrecht, weil er sich dafür entschieden hat (volenti non fit iniuria)? Der Senat verneint die Frage. Die Entscheidung sei jedenfalls nicht frei; v...