Leitsatz
1. Für Verluste aus Spekulationsgeschäften i.S.v. § 23 EStG in den für die Jahre vor 1999 geltenden Fassungen sind, soweit diese Vorschriften auch unter Berücksichtigung des Urteils des BVerfG vom 9.3.2004, 2 BvL 17/02 anwendbar bleiben, in den noch offenen Altfällen die allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Regelungen über Verlustausgleich und Verlustabzug anzuwenden.
2. Für Streitjahre bis einschließlich 1993 bleibt § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG jedenfalls anwendbar, auch wenn das BVerfG diese Vorschrift, soweit sie Veräußerungsgeschäfte aus Wertpapieren betrifft, durch Urteil vom 9.3. 2004, 2 BvL 17/02 in der für 1997 und 1998 geltenden Fassung für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig erklärt hat.
Normenkette
Art. 3 Abs. 1 GG , § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG , § 23 EStG
Sachverhalt
Der als med.-techn. Assistent ausgebildete und als Handelsvertreter tätige Kläger betrieb Wertpapiergeschäfte mit Aktien, Optionsscheinen und Investmentanteilen und erklärte zunächst für 1990 einen Spekulationsgewinn und für 1991 einen Spekulationsverlust, den das FA gem. § 23 Abs. 4 Satz 3 EStG a.F. (in der für die Streitjahre 1989, 1991 bis 1993 geltenden Fassung) unberücksichtigt ließ.
Daraufhin machte er geltend, es handele sich um Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Die daraufhin erklärungsgemäß unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Änderungsbescheide änderte das FA nach einer Außenprüfung, indem es die Wertpapiergeschäfte zur privaten Vermögensverwaltung rechnete.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Dagegen richtet sich die Revision.
Entscheidung
Die Revision hatte Erfolg. Die Verluste aus den zu Recht der privaten Vermögensverwaltung zugerechneten Wertpapiergeschäften (in den Streitjahren vor 1994) seien bei verfassungskonformer Auslegung der Verlustausgleichsbeschränkung in § 23 Abs. 4 Satz 3 EStG a.F. mit anderen Einkünften ausgleichbar und verrechenbar.
Hinweis
1. Der An- und Verkauf von Wertpapieren überschreitet die Grenze von der privaten Vermögensverwaltung zur gewerblichen Betätigung nur, wenn sich der Steuerpflichtige – anders als im Streitfall – "wie ein Händler" verhalten hat (BFH, Urteil vom 20.12.2000, X R 1/97, BStBl 2001 II, 706 m.w.N.).
2. Aus solchen – nicht gewerblichen – Wertpapiergeschäften erzielte Einkünfte sind nach dem Urteil des BVerfG vom 9.3.2004, 2 BvL 17/02 (DB 2004, 628) nicht steuerbar, soweit sie in den Jahren 1997 und 1998 erzielt wurden, weil in diesem Zeitraum der darauf beruhende Steueranspruch durch die Finanzverwaltung nicht allgemein vollzogen wurde. Ein solches Vollzugshindernis führt allerdings, solange es noch nicht erkannt ist, nach dem BVerfG-Urteil zur Zinsbesteuerung vom 27.6.1991, 2 BvR 1493/89 (BVerfGE 84, 239, BStBl 1991 II, 654) nicht zur unmittelbaren Verfassungswidrigkeit. Vielmehr gilt das Recht übergangsweise bis zu einer Beseitigung der Verfassungswidrigkeit durch den Gesetzgeber fort. Diese Grundsätze sind nach Auffassung des BFH auch auf Einkünfte aus Wertpapiergeschäften anzuwenden, die in den hier betroffenen Streitjahren vor 1994 erzielt wurden, weil das insoweit bestehende Vollzugsdefizit erst in der Folgezeit erkannt wurde.
3. Das auf diese Einkünfte anwendbare Verlustausgleichs- und -abzugsverbot in § 23 Abs. 4 Satz 3 EStG a.F. durchbricht nach Auffassung des BFH das Nettoprinzip in einem Ausmaß, das nicht mehr sachlich zu rechtfertigen und mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, weil sie Spekulationsgewinne in vollem Umfang erfasst, Spekulationsverluste, welche die im selben Jahr erwirtschafteten Spekulationsgewinne übersteigen, hingegen vollständig unberücksichtigt lässt.
a) Der entsprechende Verlustverrechnungsausschluss für Einkünfte aus der Vermietung beweglicher Gegenstände durch § 22 Nr. 3 Satz 3 EStG a.F. ist nach dem Beschluss des BVerfG in BVerfGE 99, 88 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Die Gründe dieses Beschlusses sind – so der BFH – auf § 23 Abs. 4 Satz 3 EStG a.F. übertragbar, weil beide Vorschriften gleichermaßen "sonstige Einkünfte" i.S.d. siebten Einkunftsart (§ 2 Abs. 1 Nr. 7, § 22 EStG) definieren und auf gleichartigen historischen Wurzeln beruhen.
b) Die Verfassungswidrigkeit des Verlustausgleichs- und -abzugsverbots in § 23 Abs. 4 Satz 3 EStG a.F. bedarf nach Auffassung des BFH keiner Anrufung des BVerfG (Art. 100 Abs. 1 GG), weil ihr bereits durch verfassungskonforme Auslegung Rechnung zu tragen ist. Denn der Gesetzgeber hat in Umsetzung der Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 99, 88) bei der für private Veräußerungsgeschäfte i.S.d. § 22 Nr. 2, § 23 EStG geschaffenen verfassungsrechtlich unbedenklichen Neuregelung zur Berücksichtigung von Verlusten zu Recht von einer zunächst geplanten Regelung für Altfälle abgesehen, weil sie als nicht erforderlich angesehen wurde. Denn das BVerfG hatte in seiner Entscheidung für diese Altfälle ausdrücklich die allgemeinen Regeln über Verlustausgleich und Verlustabzug für anwendbar erklärt und dem Gesetzgeber nur für die Zukunft einen Gesetzgebungsauftrag erteilt. Das daraus ersichtliche Normkonzept des...