Leitsatz
1. Bei summarischer Prüfung bestehen ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Säumniszuschlägen, soweit diese nach dem 31.12.2018 entstanden sind (Anschluss an BFH-Beschluss vom 31.08.2021 – VII B 69/21 (AdV), nicht veröffentlicht).
2. Aus unionsrechtlichen Grundsätzen (Äquivalenz-, Effizienz-, Verhältnismäßigkeits- und Neutralitätsprinzip) folgen keine weitergehenden Zweifel an der gesetzlichen Höhe der Säumniszuschläge.
Normenkette
§ 69 FGO, § 238, § 240 AO
Sachverhalt
Nachdem das FA einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Antragstellerin gestellt hatte, beantragte diese die Erteilung von Abrechnungsbescheiden für alle ab dem 1.1.2010 angefallenen Säumniszuschläge. Die Säumniszuschläge seien im Hinblick auf den darin enthaltenen Zinsanteil verfassungswidrig zu hoch. Die Säumniszuschläge seien auch insoweit zu erlassen, als sie Druckcharakter hätten. Diesen Zweck könnten die Säumniszuschläge nicht erreichen, da seit der Insolvenz keine Zahlungen mehr geleistet wurden und das FA einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt habe.
Während des finanzgerichtlichen AdV-Verfahrens erklärte das FA seinen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens für erledigt und teilte der Antragstellerin mit, dass ein begehrter Teilerlass der Säumniszuschläge verfügt worden sei. Das FG gab dem AdV-Antrag hinsichtlich der hälftigen nach dem 31.12.2018 entstandenen Säumniszuschläge statt. Im Übrigen wies das FG den Antrag mangels ernstlicher Zweifel als unbegründet zurück. Soweit die Säumniszuschläge vor dem 1.1.2019 entstanden seien, lägen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit vor (FG Münster, Beschluss vom 11.1.2022, 12 V 1805/21, Haufe-Index 15070420, EFG 2022, 297).
Entscheidung
Der BFH bestätigte die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der nach dem 31.12.2018 verwirkten Säumniszuschläge im Hinblick auf den Zinsanteil insoweit, als das FG in seinem Tenor – anders als in seiner Begründung – die AdV auf die hälftigen nach dem 31.12.2018 entstandenen Säumniszuschläge beschränkt und zudem insoweit den Teilerlass nicht hinreichend berücksichtigt hatte.
Hinweis
1. Nach dem Beschluss des BVerfG vom 8.7.2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BFH/NV 2021, 1455) verstößt § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gegen Art. 3 Abs. 1 GG und ist daher verfassungswidrig, soweit er auf Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2014 zur Anwendung gelangt. Aufgrund einer Fortgeltungsanordnung für die Verzinsungszeiträume bis zum 31.12.2018 ist der Zinssatz von 6 % p.a. allerdings erst für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2019 nicht mehr anwendbar.
2. Das BVerfG hat damit nicht über Säumniszuschläge entschieden. Diesen kann eine Doppelfunktion zugeschrieben werden. Ihnen kommt zum einen die Funktion eines Druckmittels zu und sie haben zum anderen eine zinsähnliche Funktion. Welche Bedeutung die Entscheidung des BVerfG für Säumniszuschläge hat, die ab dem 1.1.2019 entstehen (im Folgenden Säumniszuschläge), ist derzeit unklar.
3. Für eine Fallgestaltung, in der es ausschließlich auf die Zinsfunktion des Säumniszuschlags ankommt, hatte der BFH in einem weder amtlich noch anderweitig veröffentlichten Beschluss bereits ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge bejaht (BFH, Beschluss vom 31.8.2021, VII B 69/21 (AdV)), soweit den Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels, sondern die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern und damit eine zinsähnliche Funktion zukommt.
4. Hierauf aufbauend geht es in der Besprechungsentscheidung um eine insolvenzrechtlich geprägte Fallgestaltung, bei der das FA im Hinblick auf die Druckfunktion bereits eine hälftige Vollziehungsaussetzung angeordnet hatte und nunmehr zu entscheiden war, ob eine vollständige Vollziehungsaussetzung im Hinblick auf die Zinsfunktion in Betracht kommt.
5. Der BFH bejaht dies. Dabei ist Folgendes zu beachten.
a) Der Streitfall betrifft mit der Frage, ob Säumniszuschläge für USt entstanden sind, das unionsrechtlich harmonisierte Steuerrecht. Für diesen Bereich geht der BFH davon aus, dass es auf ein besonderes Aussetzungsinteresse bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes nicht ankommt.
b) Der BFH konnte bei der Besprechungsentscheidung den Beschluss des BVerfG vom 4.5.2022 (2 BvL 1/22, BFH/NV 2022, 895) noch nicht berücksichtigen.
6. Damit stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Dabei geht es insbesondere darum, welche Bedeutung dem Beschluss des BVerfG vom 4.5.2022 (2 BvL 1/22, BFH/NV 2022, 895) zukommt und ob er dazu führen kann, entgegen der Besprechungsentscheidung ernstliche Zweifel für Zwecke einer AdV auszuschließen.
a) Das BVerfG geht hier von einer unzulässigen Richtervorlage zur Verfassungsmäßigkeit von § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG aus. Ist der Prämienrückstand einschließlich der Säumniszuschläge zwei Monate nach Zugang der Mahnung höher als der...