Leitsatz
Die erstmalige oder geänderte Steuerfestsetzung für den Vorerwerb ist kein rückwirkendes Ereignis, das die Änderung der Steuerfestsetzung für den nachfolgenden Erwerb zulässt.
Normenkette
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AO, § 14 Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 ErbStG
Sachverhalt
Die Klägerin erhielt sowohl im Mai 2002 ("Vorerwerb") als auch im August 2002 ("Erwerb") Schenkungen. Den Erwerb teilte die Klägerin dem FA im September 2002 mit und im März 2005 wurde die Schenkungsteuer festgesetzt. Im Juni 2005 erging für den Erwerb ein im Hinblick auf den Vorerwerb vorläufiger Änderungsbescheid. Nach Betriebsprüfungen wurde der Vorläufigkeitsvermerk im September 2009 aufgehoben. Im Juni 2013 wurde der streitgegenständliche Änderungsbescheid erlassen. Die Steuerfestsetzung wurde erhöht; im Dezember 2010 war hinsichtlich des Vorerwerbs ein Abhilfebescheid mit einer niedrigeren Steuerfestsetzung ergangen.
Die Vorinstanz (FG Nürnberg, Urteil vom 25.6.2015, 4 K 114/14, Haufe-Index 8576524, EFG 2015, 2038) hat der Klage gegen den Änderungsbescheid stattgegeben. Es sei bereits Festsetzungsverjährung eingetreten, da sich der Beginn der Festsetzungsfrist nicht nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO bestimme.
Entscheidung
Der BFH hat die Revision des FA als unbegründet zurückgewiesen. Der Senat begründet seine Entscheidung mit dem Fehlen einer Ermächtigungsgrundlage zum Erlass des Änderungsbescheids vom Juni 2013.
Eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist nicht möglich, weil der zum Vorerwerb ergangene Bescheid vom Dezember 2010 kein Grundlagenbescheid für die Steuerfestsetzung hinsichtlich des Erwerbs darstellt. Der für den Vorerwerb ergangene Steuerbescheid entfaltet für den nachfolgenden Erwerb keine Bindungswirkung.
Eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO wegen eines rückwirkenden Ereignisses scheidet ebenfalls aus. Zwar kann auch der Erlass oder die Änderung eines Verwaltungsakts im Einzelfall ein Ereignis mit Wirkung für die Vergangenheit darstellen. Die Steuerfestsetzung für den früheren Erwerb hat aber keine materiellrechtliche Bedeutung für die Besteuerung des späteren Erwerbs. Die Besteuerung der einzelnen Erwerbe erfolgt selbstständig. Aufgrund dieser Selbstständigkeit beeinflusst die Änderung der Steuerfestsetzung für den Vorerwerb ohne Hinzutritt eines rückwirkenden Ereignisses für sich alleine nicht den Wertansatz, der der Besteuerung des nachfolgenden Erwerbs zugrunde zu legen ist.
An diesem Ergebnis ändert auch die Neuregelung in § 14 Abs. 2 ErbStG durch das ErbStRG 2008 nichts. Zum einen ist die Vorschrift, die mit Wirkung vom Januar 2009 in das Gesetz eingefügt wurde, für den Streitfall nicht anwendbar. Zum anderen ist § 14 Abs. 2 ErbStG keine Änderungsvorschrift, sondern setzt den Eintritt eines Ereignisses mit Wirkung für die Vergangenheit voraus.
Hinweis
Die Regelung in § 14 ErbStG dient dem progressiven Steuertarif. Mehrere Erwerbe innerhalb von zehn Jahren – Schenkungen, Erwerb von Todes wegen – von derselben Person werden zusammengerechnet und als Gesamterwerb versteuert. Deshalb ist der persönliche Freibetrag nach § 16 ErbStG ebenfalls nur einmal innerhalb von zehn Jahren zu gewähren. Auf die Gesamtsteuer wird die Steuer des Vorerwerbs – fiktiv nach aktuellem Recht oder tatsächlich entrichtet – angerechnet. Trotz der Zusammenrechnung bleiben die Besteuerungstatbestände des Vorerwerbs, Erwerbs und gegebenenfalls Nacherwerbs und deren Festsetzungen selbstständig. § 14 ErbStG ist lediglich eine besondere "Steuerberechnungsvorschrift".
Auch die Regelung des § 14 Abs. 2 ErbStG, die auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO Bezug nimmt, ändert hieran nichts. Der Gesetzgeber wollte lediglich gewährleisten, dass Ereignisse mit tatsächlicher Rückwirkung für die Vergangenheit, wie z.B. ein Verstoß gegen Behaltensvorschriften aus § 13a ErbStG, auch im Bereich der Zusammenrechnung nach § 14 ErbStG berücksichtigt werden können.
Für den Streitfall bedeutet dies, dass der angefochtene Änderungsbescheid über den Erwerb nur dann hätte ergehen dürfen, wenn der Erlass eines Änderungsbescheids für den Vorerwerb ein rückwirkendes Ereignis für die Steuerfestsetzung des Erwerbs darstellen würde. In diesem Fall hätte das FA auch die verlängerte Festsetzungsfrist des § 175 Abs. 1 Satz 2 AO nutzen können. Der BFH hat diese Konstruktion jedoch verworfen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 12.7.2017 – II R 45/15