Leitsatz
Beim gegenwärtigen Stand der Diskussion über die mögliche Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen wegen Bestehens struktureller Vollzugsdefizite ist auch die Rechtmäßigkeit eines auf Aufdeckung und Ermittlung noch unbekannter Spekulationsgewinne gerichteten Sammelauskunftsersuchens an ein Kreditinstitut ernstlich zweifelhaft (Anschluss an BFH, Beschluss vom 11.6.2003, IX B 16/03, BStBl II 2003, 663, BFH-PR 2003, 341).
Normenkette
§ 93 AO , § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO , § 69 FGO , § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997
Sachverhalt
Das FA richtete an ein Kreditinstitut ein Auskunftsersuchen betreffend sämtliche Wertpapierabrechnungen und Orderaufträge über Veräußerungsgeschäfte für in- und ausländische Aktien und Fondsanteile, soweit diese den so genannten "Neuen Markt" beträfen und zu einem Spekulationsgewinn von mindestens 1.000 DM aus einem einzelnen Veräußerungsgeschäft geführt hätten und von einer natürlichen Person getätigt worden seien.
Dagegen ist eine Klage beim FG anhängig. Dieses hat AdV gewährt. Die dagegen zugelassene Beschwerde zum BFH ist erfolglos geblieben.
Entscheidung
Der IX. Senat des BFH habe mit Beschluss vom 16.7.2002 (IX R 62/99, BFH-PR 2003, 9) an das BVerfG eine Vorlage nach Art. 100 GG gerichtet, in der die Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen (§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG 1997 a.F.) – wegen eines sog. strukturellen Vollzugsdefizits – in Abrede gestellt werde. Diese Rechtsauffassung verdiene den "Respekt" der Gerichte und müsse bei diesen ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der den Steueranspruch bei Spekulationsgewinnen begründenden Vorschrift des EStG begründen; diese dürften nicht mehr selbstständig prüfen und entscheiden, ob sie die verfassungsrechtlichen Erwägungen des Vorlagebeschlusses für überzeugend hielten und teilten oder nicht.
Der hier entscheidende VII. Senat sah sich auch gehindert, selbst zu beurteilen, ob aus den verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Norm auch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines auf die Norm gestützten Steuerbescheids folgen, wie der IX. Senat dies in seinem Beschluss vom 11.6.2003 (IX B 16/03, BFH-PR 2003, 341) angenommen hat. Er verweist dazu (kumulativ?) auf das BMF, das mit Schreiben in BStBl I 2003, 402 die Beurteilung des IX. BFH-Senats übernommen hat.
Der VII. Senat meint dazu, der hierdurch eingetretene "vorläufige bundesweite Rechtsfrieden" dürfe nicht gestört werden oder solle dies jedenfalls nicht. Der VII. Senat folgert, es bestünden ernstliche Zweifel an der "Erforderlichkeit und Zumutbarkeit" des Auskunftsersuchens, weil es "keinen Sinn mache", umfangreiche und aufwändige Ermittlungen durchzuführen, die möglicherweise vergeblich seien, wenn das BVerfG die Spekulationssteuer als verfassungswidrig erachte. Er überlässt also diese Beurteilung, bei der in allererster Linie die Belange der Verwaltung betroffen sind, nicht der Behörde, sondern entscheidet selbst, was in deren Interesse zu tun oder zu unterlassen ist, wohl auch (oder nur deshalb?), weil deren Maßnahmen die Sphäre des Steuerpflichtigen berühren (Unzumutbarkeit als Folge von mangelnder Eignung zur Aufdeckung unbekannter Steuerfälle).
Festsetzungsverjährung drohe nicht, weil das BVerfG bald eine Entscheidung treffen wolle. Anderenfalls hätte der VII. Senat offenbar – vorbehaltlich der Frage des § 30a AO – anders entscheiden wollen.
Hinweis
1. Die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit eines Sammelauskunftsersuchens im Bankenbereich sind Gegenstand des BFH-Beschlusses vom 21.3.2002, VII B 152/01 (BFH-PR 2002, 268) gewesen. Ob damit das letzte Wort gesprochen ist, wird sich wohl erst noch zeigen müssen – ganz abgesehen von allfälligen Anwendungsschwierigkeiten der dort aufgestellten Voraussetzungen, insbesondere der Forderung nach "sparkasseninternen Informationen" vor Einleitung von Ermittlungsmaßnahmen zur Aufdeckung unbekannter Steuerfälle. Nach einem obiter dictum Entscheidung der Besprechungsentscheidung etwa soll jedenfalls unter "sparkasseninternen Informationen" nicht auch ein Geschäftsbericht oder eine sonstige Publikation der Sparkasse zu verstehen sein (warum eigentlich nicht?), sondern nur "solche Auskünfte, die von Personen aus dem Bankbereich anlässlich von Anzeigen, Erkundigungen bei und Gesprächen mit Bankmitarbeitern sowie bereits aufgrund von ersten durchgeführten Prüfungen und Auswertungen von zur Verfügung gestellten Bankunterlagen gewonnen worden sind".
2. Die Entscheidung des BVerfG in dem Vorlageverfahren 2 BvL 17/02 über die Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen dürfte, nachdem die mündliche Verhandlung bereits im vergangenen Oktober stattgefunden hat, unmittelbar bevorstehen.
3. Ob diese Entscheidung dahin lauten wird, dass auf die Norm gestützte Steuerbescheide rückwirkend als rechtswidrig aufzuheben sind (sofern noch nicht bestandskräftig, denn Bestandskraft kann eine Entscheidung des BVerfG grundsätzlich nicht beseitigen), steht dahin. Unt...