Entscheidungsstichwort (Thema)
NZB: Positive Kenntnis und Mitwirkungspflichten bei § 183 Abs. 2 Satz 1 AO 1977, ohne Verschulden i.S. des § 110 Abs. 1 AO 1977
Leitsatz (NV)
- Es kann mangels Entscheidungserheblichkeit offen bleiben, ob ‐ wie in FG-Rechtsprechung und Literatur einheitlich vertreten ‐ unter "ernstliche(n) Meinungsverschiedenheiten" i.S. des § 183 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 Differenzen zu verstehen sind, die das Vertrauensverhältnis, die Zusammenarbeit und den Informationsfluss stören oder zu stören geeignet sind.
- Die angegebene nunmehr abweichende Wohnanschrift eines der beiden Gesellschafter und ehemaligen Lebenspartner lässt nur mögliche, aber nicht zwingende Schlussfolgerungen auf deren Verhältnis zueinander zu; dabei handelt es sich jedoch nicht um die nach § 183 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 erforderliche positive Kenntnis ernstlicher Meinungsverschiedenheiten.
- Unter Berücksichtigung der nach § 88 AO 1977 dem FA auferlegten Ermittlungspflicht ist es Sache der Stpfl., das FA vom Vorliegen ernstlicher Meinungsverschiedenheiten ausreichend in Kenntnis zu setzen; die Mitteilung lediglich unvollständiger Angaben zum Thema "Meinungsverschiedenheiten" genügt nicht.
- Nach in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen zur Auslegung des Begriffs "ohne Verschulden" i.S.d. § 110 Abs. 1 AO 1977 schließt jedes (Mit-)Verschulden, auch einfache Fahrlässigkeit, die Wiedereinsetzung aus.
Normenkette
AO 1977 §§ 88, 110 Abs. 1, § 183 Abs. 2 S. 1; FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1-2, § 116 Abs. 3 S. 3
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Zum Teil sind die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht gegeben (s. unter 1.), zum Teil (s. unter 2.) entspricht die Begründung nicht den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
1. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) und die Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative FGO) liegen nicht vor.
Zwar weist die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) zutreffend darauf hin, dass zur Frage der Auslegung des Merkmals "ernstliche Meinungsverschiedenheiten" i.S. des § 183 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) ―soweit ersichtlich― keine höchstrichterliche Rechtsprechung vorhanden ist. Es kann indes mangels Entscheidungserheblichkeit offen bleiben, ob Finanzgerichts-Rechtsprechung (Finanzgericht ―FG― München vom 9. Februar 1994 1 K 2355/91, nicht veröffentlicht ―n.v.―, juris; wie auch das FG im Streitfall) und Literatur (Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 183 AO Rz. 78; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 183 AO Tz. 25; Schwarz/ Frotscher, Abgabenordnung, § 183 Rz. 24; Beermann/Kunz, Steuerliches Verfahrensrecht, § 183 AO Rz. 19) einheitlich darunter Differenzen verstehen, die das Vertrauensverhältnis, die Zusammenarbeit und den Informationsfluss stören oder zu stören geeignet sind.
Es ist zwar richtig, dass man aufgrund der angegebenen nunmehr abweichenden Wohnanschrift der beiden Gesellschafter und ehemaligen Lebenspartner auch auf Meinungsverschiedenheiten hätte schließen können; daraus ergibt sich aber nicht einmal, ob diese ―wie erforderlich― über eine bloß sachliche Auseinandersetzung der Beteiligten untereinander hinausgehen. Bei derart anzustellenden Überlegungen handelt es sich zudem nur um mögliche, aber nicht zwingende Schlussfolgerungen aus der mitgeteilten Tatsache (neue Wohnanschrift), nicht jedoch um die nach § 183 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 erforderliche positive Kenntnis (vgl. BFH-Urteil vom 26. Februar 1997 X R 111/95, BFH/NV 1997, 734, unter 3. a bb; Söhn, a.a.O., § 183 AO Rz. 64; Schwarz/Frotscher, a.a.O., § 183 Rz. 28: ein Kennenmüssen reicht nicht) ernstlicher Meinungsverschiedenheiten.
Auch unter Berücksichtigung der nach § 88 AO 1977 dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt ―FA―) auferlegten Ermittlungspflicht ist es Sache der Beteiligten, das FA vom Vorliegen ernstlicher Meinungsverschiedenheiten ausreichend in Kenntnis zu setzen, um eine Bekanntgabe eines Feststellungsbescheids nicht nur an den Empfangsbevollmächtigten sicherzustellen. Insoweit hat die Klägerin bereits ihren Mitwirkungspflichten infolge der Mitteilung lediglich unvollständiger Angaben zum Thema "Meinungsverschiedenheiten" nicht genügt; daher kann sie sich auch nicht über Treu und Glauben auf ein evtl. Nicht-Einhalten der Ermittlungspflicht des FA berufen.
2. Die Klägerin hat die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und die Erforderlichkeit einer Rechtsfortbildung hinsichtlich der gerügten Auslegung des Begriffs "ohne Verschulden" i.S. des § 110 Abs. 1 AO 1977 nicht hinreichend dargelegt. So fehlt es an der erforderlichen Auseinandersetzung (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 19. Juni 2002 IX B 74/01, BFH/NV 2002, 1331, unter 1., m.w.N.) mit den zur aufgeworfenen Frage in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen. Danach schließt jedes (Mit-)Verschulden, auch einfache Fahrlässigkeit, die Wiedereinsetzung aus (vgl. BFH-Urteile vom 4. März 1998 XI R 44/97, BFH/NV 1998, 1056; vom 9. August 2000 I R 33/99, BFH/NV 2001, 410; Söhn, a.a.O., § 110 AO Rz. 14; Schwarz, a.a.O., § 110 Rz. 4, und Schwarz, Finanzgerichtsordnung, § 56 Rz. 15). Bei ―wie hier― bereits vorhandener Rechtsprechung des BFH ist zusätzlich darzutun, weshalb gleichwohl eine erneute Entscheidung erforderlich sein soll (vgl. BFH-Beschlüsse vom 9. November 1999 VIII B 85/99, BFH/NV 2000, 472; vom 7. November 2001 XI B 37/01, BFH/NV 2002, 511); auch daran fehlt es.
Im Übrigen rügt die Klägerin lediglich die fehlerhafte Rechtsanwendung durch das FG, womit jedoch die Zulassung der Revision nicht erreicht werden kann (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 4. Juli 2002 IX B 169/01, BFH/NV 2002, 1476, m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 1067319 |
BFH/NV 2004, 11 |