Entscheidungsstichwort (Thema)

PKH trotz möglicherweise unzulässig gewordener Klage

 

Leitsatz (NV)

Erläßt das Finanzamt während eines Rechtsstreits über die Aussetzung der Vollziehung eine unter dem Vorbehalt des Widerrufs stehende Aussetzungsverfügung, so kann der Rechtsverfolgung des Klägers nicht deshalb die hinreichende Erfolgsaussicht abgesprochen werden, weil er sich weigert, schon vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung eine Hauptsacheerledigungserklärung abzugeben.

 

Normenkette

FGO §§ 138, 142; ZPO § 127 Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Die Antragstellerin hat gegen die Gewerbesteuermeßbescheide Anfechtungsklagen erhoben, über die noch nicht entschieden wurde. Die beantragten Aussetzungen der Vollziehung wurden vom FA abgelehnt. Nach erfolglosen Beschwerden erhob die Antragstellerin Klagen mit den Anträgen, das FA zur Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermeßbetragsfestsetzungen zu verpflichten. Sie beantragte gleichzeitig, ihr zur Durchführung dieser Klagen Prozeßkostenhilfe (PKH) zu bewilligen. Noch vor Entscheidung des Finanzgerichts (FG) über die PKH-Anträge setzte das FA die Vollziehung der oben genannten Gewerbesteuermeßbescheide durch Verfügung vom 18. Januar 1991 jeweils in vollem Umfang aus und erklärte die Rechtsstreite in der Hauptsache für erledigt. Die Aussetzungsverfügung enthält den Satz: ,,Ich behalte mir vor, die Aussetzung der Vollziehung nach pflichtgemäßem Ermessen zu widerrufen." Auf Anfrage des Berichterstatters des FG, ob die Antragstellerin die Rechtsstreite ebenfalls in der Hauptsache für erledigt erkläre, hat diese geantwortet, daß sie Prozeßerklärungen erst nach Entscheidung über ihre PKH-Anträge und Beiordnung ggf. in der mündlichen Verhandlung abgeben werde (Schriftsätze vom 25. Januar 1991). Eine mündliche Verhandlung vor dem FG hat noch nicht stattgefunden.

Das FG gewährte durch Beschlüsse vom 11. Juni 1991, 13. Juni 1991, 14. Juni 1991 und 17. Juni 1991 der Antragstellerin jeweils für den Zeitraum vom 23. August 1990 bis zum 21. Januar 1991 PKH und ordnete ihr insoweit ihren Prozeßbevollmächtigten bei. Im übrigen wies es die PKH-Anträge ab.

Zur Begründung führte das FG im wesentlichen aus, daß die Klagen nach dem ursprünglichen Klagevortrag bei summarischer Prüfung als unbegründet hätten abgewiesen werden müssen. Die Gewerbesteuermeßbescheide seien hinreichend bestimmt. Eine Begründungspflicht für Bescheide bestehe nicht. Die den Bescheiden zugrunde gelegten Besteuerungsmerkmale würden durch die Feststellungen im Steuerfahndungsbericht gestützt. Hiergegen seien zunächst keine substantiierten Einwendungen erhoben worden. Die Antragstellerin habe sich darauf beschränkt, die Feststellungen der Steuerfahndung in allgemeiner Form in Frage zu stellen. So habe sie lediglich gerügt, daß die Ermittlungen der Steuerfahndung mangels Offenlegung der Prüfungsunterlagen nicht nachvollziehbar seien und daß der Fahndungsbericht offenbar ausschließlich auf pauschalierten Hochrechnungen beruhe. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH seien allerdings in dem Zeitpunkt eingetreten, in dem die Antragstellerin erstmals substantiierte Einwendungen gegen die in dem Steuerfahndungsbericht enthaltenen Feststellungen erhoben und dazu Beweis angetreten habe, d. h. mit Eingang ihres Schriftsatzes vom 19. August 1990 am 23. August 1990. Vom Zeitpunkt der Aussetzung der Vollziehung an seien die Voraussetzungen für die Bewilligung der PKH in Höhe der ausgesetzten Beträge dann wieder entfallen. Insoweit seien die Klagen unzulässig geworden, weil die Antragstellerin nicht mehr in ihren Rechten verletzt werde.

Mit den Beschwerden wird die Gewährung von PKH und Beiordnung des Rechtsanwalts X insoweit beantragt, als dies in den Beschlüssen des FG abgelehnt worden sei. Zur Begründung wird vorgetragen, es sei falsch, die Klagen als ab dem 21. Januar 1991 unzulässig anzusehen, denn an diesem Tage habe die Antragstellerin noch gar keine Gelegenheit gehabt, sich zur Erledigungserklärung des FA zu äußern. Erst durch die Verfügung des Gerichts vom 23. Januar 1991 habe sie davon Kenntnis erhalten. Es sei ihr eine Frist zur Stellungnahme bis 1. März 1991 eingeräumt worden. Es sei ihr - der Antragstellerin - gutes Recht gewesen, sich eine Erklärung bis zur mündlichen Verhandlung vorzubehalten.

Soweit die Zeit vor dem 23. August 1990 betroffen ist, wird das Rechtsschutzinteresse an den Beschwerden damit begründet, daß erhebliche Kopierkosten entstanden seien, die das FG der Antragstellerin in Rechnung stelle. Zur Begründetheit der Beschwerden betreffend diesen Zeitraum wird vorgetragen, die angeblich anfänglich mangelhaft substantiiert begründeten Klagen rechtfertigten die Versagung von PKH bis zum 23. August 1990 nicht. Die Prozeßbevollmächtigten der Antragstellerin seien zu spät in den Besitz des Steuerfahndungsberichts gelangt. Obgleich der Steuerberater Y den Finanzbehörden vorgelegte Zustell- und Empfangsvollmachten gehabt habe, mithin alle Zustellungen an diesen hätten erfolgen müssen, sei der Steuerfahndungsbericht nicht an Y, sondern der Antragstellerin unmittelbar zugestellt worden. Die Antragstellerin sei zudem seinerzeit erkrankt gewesen. Erst drei Monate nach Klageerhebung, nämlich im Februar 1990, sei dem Prozeßbevollmächtigten der Antragstellerin erstmals Akteneinsicht ermöglicht worden. Da er sich den Inhalt des über 80 Seiten langen Steuerfahndungsberichts nebst Anlagen aber nicht habe auswendig merken können, sei er nicht in der Lage gewesen, sofort zu den einzelnen Tatsachen und Hypothesen des Berichts Stellung zu nehmen. Erst am 13. August 1990 sei ihm dann nach mehrmaligen vergeblichen Anforderungen der Steuerfahndungsbericht zur Verfügung gestellt worden, wodurch er erstmals in die Lage versetzt worden sei, die Einwendungen gegen die angefochtenen Bescheide zu präzisieren.

Im übrigen sei es auffällig, daß der . . . Senat des FG im Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung des Lohnsteuerhaftungsbescheids 1978 durch Beschluß vom 12. August 1991 bei gleicher Sachlage PKH in vollem Umfang ab Antragstellung gewährt habe.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerdeverfahren XI B 81/91, XI B 82/91, XI B 83/91, XI B 84/91, XI B 85/91 und XI B 86/91 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden (§§ 73, 121 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die Beschwerden sind zulässig. Zwar kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) die Beschwerde in einer PKH-Sache nicht an diejenige Instanz gerichtet werden, an die die zugehörige Hauptsache nicht (mehr) zu gelangen vermag (BFH-Beschluß vom 18. Januar 1991 VI B 134/89, BFH/NV 1991, 475 m. w. N.). Dies wäre der Fall, wenn beide Beteiligten nach Erlaß der Aussetzungsverfügungen seitens des FA die Rechtsstreite jeweils in der Hauptsache für erledigt erklärt hätten. Solche Erledigungserklärungen hat indes die Antragstellerin bisher nicht abgegeben, so daß das FG nach derzeitigem Sachstand über die Erledigung der Hauptsache durch Urteil entscheiden müßte. Es kann auch nicht für die Prüfung der Zulässigkeit der Beschwerden davon ausgegangen werden, daß - wie offenbar das FG meint - die Antragstellerin Erledigungserklärungen abgeben wird. Dies schon deshalb nicht, weil die Aussetzungsverfügungen unter Widerrufsvorbehalt stehen, so daß zweifelhaft ist, ob die Antragstellerin Erledigungserklärungen abgeben wird (vgl. BFH-Beschlüsse vom 10. März 1970 II S 39/68, BFHE 98, 330, BStBl II 1970, 385, und vom 12. Juni 1986 IX B 64/83, BFH/NV 1986, 682 sowie vom 13. Dezember 1990 VIII B 89/89, nicht veröffentlicht - NV -).

Der Zulässigkeit der Beschwerden steht auch nicht fehlendes Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin entgegen. Zwar hat die zeitliche Anlaufeinschränkung der Gewährung von PKH durch das FG bezüglich der Gebührenentstehung kaum Auswirkung. Nach der Entscheidung des FG erstreckt sich die PKH aber nicht auf die vor dem 23. August 1990 entstandenen Auslagen der Antragstellerin. Der Prozeßbevollmächtigte behauptet glaubhaft, solche Auslagen seien insbesondere durch die von ihm vorgenommene Akteneinsicht und die Kopierkosten entstanden.

Die Beschwerden sind begründet. Sie führen zur Abänderung der angefochtenen Entscheidungen dahingehend, daß der Antragstellerin jeweils für das gesamte Verfahren der ersten Instanz ab Antragstellung PKH zu gewähren ist.

Voraussetzung für die Gewährung von PKH ist, daß die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 142 Abs. 1 FGO i. V. m. § 114 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Hinreichende Erfolgsaussichten sind anzunehmen, wenn das Vorbringen des Antragstellers bei summarischer Prüfung nicht von vornherein als aussichtslos erscheint, vielmehr der begehrte Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat (BFH-Beschlüsse vom 29. April 1981 IV S 4/77, BFHE 133, 253, BStBl II 1981, 580; vom 25. März 1986 III B 5-6/86, BFHE 146, 223, BStBl II 1986, 526 sowie vom 18. Mai 1988 X B 185/87, BFH/NV 1988, 731). Der Beurteilung der Erfolgsprognose ist der im Zeitpunkt der Entscheidung gegebene Sach- und Streitstand jedenfalls dann zugrunde zu legen, wenn dieser gegenüber dem Zeitpunkt der Antragstellung für den Antragsteller günstiger geworden ist (Zöller / Schneider, Zivilprozeßordnung, 16. Aufl., § 119 Rdnr. 20; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 142 FGO Tz. 69 f., insbesondere Tz. 73; im Ergebnis ebenso Beschlüsse vom 2. Oktober 1986 VII B 39/86, BFH/NV 1987, 390, und vom 10. Januar 1989 IX B 98/88, BFH/NV 1989, 501, wonach auch noch im Beschwerdeverfahren ein die Erfolgsaussichten begründender Sachverhalt vorgebracht werden kann).

Bei Anwendung dieser Grundsätze sind im vorliegenden Falle die Voraussetzungen für die Gewährung von PKH für die gesamte erste Instanz ab Antragstellung zu bejahen. Folgt man der vom FG vorgenommenen Untergliederung in drei Zeitspannen, so gilt folgendes:

1. Da das FG in den angefochtenen Beschlüssen PKH für den Zeitraum vom 23. August 1990 bis zum 21. Januar 1991 in vollem Umfang gewährt hat, ist im Beschwerdeverfahren über diesen Zeitraum nicht mehr zu befinden. Von den Beschwerden werden nur die Zeiträume ab 22. Januar 1991 bis zum Ende der Instanz (siehe nachfolgend unter 2.) und ab Stellung des PKH-Antrages bis zum 22. August 1990 (siehe nachfolgend unter 3.) erfaßt.

2. Für den Zeitraum ab 22. Janur 1991 bis zum Ende der Instanz darf die Bewilligung der PKH nicht unter dem Aspekt der zwischenzeitlich erfolgten Aussetzungen der Vollziehung versagt werden. Denn die Aussicht auf Erfolg der Rechtsverfolgung bzw. Rechtsverteidigung der Antragstellerin ist durch die Aussetzungsverfügungen des FA nicht geringer, sondern größer geworden. Zwar entstand durch diese Verfügung i. V. m. den Erledigungserklärungen seitens des FA eine Verfahrenslage, die die Antragstellerin zum Überdenken ihrer bisherigen Anträge veranlassen könnte. Es kann jedoch für die Beurteilung des weiteren Ganges der Verfahren davon ausgegangen werden, daß die Antragstellerin die für sie günstigsten Anträge stellen wird. Daß sie sich die Antragstellung für die mündliche Verhandlung vorbehalten hat, kann ihr dabei nicht zum Nachteil gereichen. Dies gilt um so mehr, als die Aussetzungsverfügung einen Widerrufsvorbehalt zum Inhalt hat, der der Annahme einer Erledigung der Rechtsstreite entgegenstehen könnte (vgl. BFHE 89, 330, BStBl II 1970, 385) und deshalb eine genaue Analyse der Prozeßlage angezeigt erscheinen ließ. Das einstweilige Schweigen der Antragstellerin zu den Erledigungserklärungen des FA kann jedenfalls nicht ohne weiteres als ein Aufrechterhalten der bisherigen Sachanträge angesehen werden (BFH-Beschluß vom 5. März 1979 GrS 4/78, BFHE 127, 147, BStBl II 1979, 375 unter B II., 5. a, aa). Der Annahme des FG, ab Erledigungserklärung seitens des FA seien die Klagen unzulässig geworden, kann deshalb in dieser allgemeinen Form nicht gefolgt werden.

3. Auch für die Zeit ab Antragstellung bis zum 22. August 1990 ist der Antragstellerin PKH zu gewähren.

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung im Rahmen einer beantragten PKH nicht überspannt werden. Insbesondere in Schätzungsfällen darf im allgemeinen nicht durch eine abschließende Würdigung aller Umstände die Endentscheidung vorweggenommen werden (BFH-Beschluß vom 7. April 1989 VI B 70/88, BFH/NV 1989, 662). Angesichts des Umstandes, daß den Bescheiden, deren Vollziehungsaussetzung begehrt wird, ein Steuerfahndungsbericht von etwa 80 Seiten zugrunde liegt und Streit darüber besteht, ab wann der Prozeßbevollmächtigte sich mit dem Inhalt dieses Berichts so eingehend auseinandersetzen konnte, daß ihm ein substantiiertes Bestreiten (wie vom FG ab dem 23. August 1990 angenommen) möglich war, erscheint es auch im Hinblick auf die gesamte nachfolgende Prozeßentwicklung gerechtfertigt, die PKH ab Antragstellung zu bewilligen, ohne daß in eine Einzelprüfung der zahlreichen Streitfragen eingetreten wird. Dabei hat der Senat auch berücksichtigt, daß die für die Zeitspanne bis zum 22. August 1990 entstandenen Kosten im Verhältnis zu den Gesamtkosten des Verfahrens von ganz untergeordneter Bedeutung sind und schon deshalb die Erstreckung der PKH auch auf diesen Zeitraum ohne arbeitsintensive genaue Prüfung der Erfolgschancen der Antragstellerin zum damaligen Zeitpunkt vorgenommen werden kann. Es würde dem Gebot der Prozeßökonomie und der summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten widersprechen, wenn in Fällen dieser Art eine minutiöse Einzelprüfung vorgenommen werden müßte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 418110

BFH/NV 1992, 331

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