Leitsatz (amtlich)
1. Die Aufhebung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO ist nach den gleichen sachlichen Voraussetzungen zu beurteilen wie die Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO.
2. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts können bestehen, wenn die streitige Rechtsfrage vom Bundesfinanzhof noch nicht entschieden ist und in der Rechtsprechung der Finanzgerichte zu der Streitfrage unterschiedliche Auffassungen bestehen.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 2-3
Tatbestand
Im Verfahren der Hauptsache, das beim FG anhängig ist, ist streitig, ob das FA (Beschwerdegegner) ein der Steuerpflichtigen (Beschwerdeführerin) gehörendes Grundstück zutreffend als grundsteuerpflichtig behandelt hat. Die Steuerpflichtige hatte im Jahre 1953 als Seitenflügel eines – vom FA grundsteuerbefreiten – Offizierskasinos ein Gebäude mit 50 Räumen für Offiziere der Stationierungsstreitkräfte sowie mit Wasch-, Toiletten- und Büroräumen, ferner Garagen errichten lassen. Sie beantragte, das Grundstück auch insoweit von der Grundsteuer zu befreien, weil es für einen öffentlichen Dienst oder Gebrauch benutzt werde. Die Einsprüche gegen den Einheitswertbescheid und gegen den Grundsteuermeßbescheid blieben ohne Erfolg. Die Berufung, jetzt Klage, ist noch beim FG anhängig.
Das FG lehnte den bei ihm gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab, weil die Einzelwohn- und Schlafräume nicht als Gemeinschaftsunterkünfte anzusehen seien.
Mit der Beschwerde macht die Steuerpflichtige geltend, sie habe mittlerweile auf Mahnung die Grundsteuer entrichtet. Sie bittet deshalb, im Wege der Aussetzung der Vollziehung die gezahlte Grundsteuer zu erstatten. Das Grundstück liege zwar außerhalb der eigentlichen Kasernenumschließung; es diene jedoch nicht Wohnzwecken, sondern sei Teil des Gesamtkomplexes der Kaserne.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Beschwerde hat Erfolg.
Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO kann das Gericht anordnen, daß die Vollziehung eines im Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits vollzogenen Verwaltungsakts aufzuheben, d. h. wieder rückgängig zu machen sei. Die Behörde ist dann verpflichtet, den Zustand wiederherzustellen, der vor der Vollziehung bestand, sie hat insbesondere die gezahlte Steuer zu erstatten. Nach der im Schrifttum bestrittenen Auffassung des I. Senats des BFH (Beschlüsse I B 3/66 vom 9. August 1966, BFH 86, 723, BStBl III 1966, 646; I B 30/66 vom 15. Februar 1967, BFH 88, 76, BStBl III 1967, 293; I B 67/67 vom 17. Januar 1968, BFH 91, 301, BStBl II 1968, 311) ist unter „Vollziehung” im Sinne des § 69 FGO nicht die freiwillige Steuerzahlung einzuordnen. Der I. Senat erkennt jedoch an, daß auf Grund von Mahnungen geleistete Zahlungen nicht freiwillig erfolgt sind, daß insoweit also eine Vollziehung vorliege. Wie die Steuerpflichtige unwidersprochen vorgetragen hat, zahlte sie erst infolge einer Mahnung, so daß hier eine „Vollziehung” im Sinne des § 69 FGO anzunehmen ist.
Das FG hatte allerdings über einen anderen Sachverhalt zu entscheiden, weil die Steuerpflichtige seinerzeit die angeforderte Steuer noch nicht bezahlt hatte. Das ändert aber nichts an der Beurteilung der materiellen Rechtslage; denn die sachlichen Voraussetzungen für die Aufhebung der Vollziehung sind die gleichen wie die für die Aussetzung der Vollziehung. Das ist zwar in § 69 FGO nicht ausdrücklich bestimmt, ergibt sich aber daraus, daß nur § 69 Abs. 2 FGO etwas über die materiellen Voraussetzungen für die Aussetzungsmöglichkeiten besagt, während § 69 Abs. 3 FGO sich lediglich mit den technischen Fragen befaßt, wer aussetzen darf, wann ausgesetzt werden darf, ob Aussetzungsbeschlüsse geändert werden dürfen und schließlich, ob die „Aussetzung” nach der Vollziehung noch möglich ist. Für die Anwendung des Abs. 3 von § 69 FGO bedarf es deshalb regelmäßig einer Bezugnahme auf Abs. 2 dieser Vorschrift.
Danach ist die Vollziehung also aufzuheben, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des vollzogenen Verwaltungsakts bestehen. Das ist hier der Fall; denn im Streitfall liegen Unsicherheiten in der Beurteilung der Rechtsfragen und Unklarheiten in der Beurteilung von Tatfragen vor, die die Aufhebung der Vollziehung rechtfertigen.
Die Frage, ob Offiziersunterkünfte, die außerhalb einer Kasernenumfriedung, aber in der Nähe einer Kaserne liegen, als Gemeinschaftsunterkünfte grundsteuerfrei sind, wurde höchstrichterlich noch nicht entschieden. Bei einem sehr ähnlich liegenden Sachverhalt hat das FG Stuttgart durch – soweit ersichtlich – rechtskräftiges Urteil vom 26. Oktober 1965 die außerhalb der Kaserne liegenden Unterkunftsräume für Offiziere von der Grundsteuer befreit. Ebenso entschied das Niedersächsische FG in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil vom 27. Januar 1967. Diese Urteile der FG bieten einen beachtlichen Anhalt dafür, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des im Streitfall vollzogenen Steuerbescheids bestehen. Die Rechtslage ist jedoch unklar. Das zeigt das Urteil des Hessischen FG vom 16. Juni 1961, das außerhalb des Kasernengeländes liegende Wohnheime für Offiziere der Stationierungsstreitkräfte nicht als grundsteuerbefreit angesehen hat. Diese den vorgenannten FG-Urteilen entgegenstehende Entscheidung verdeutlicht die Unsicherheit in der Beurteilung der hier zur Entscheidung gestellten Rechtsfrage (vgl. hierzu BFH-Beschluß VI B 59/67 vom 22. September 1967, BFH 90, 253, BStBl II 1968, 37).
Es kommen im Streitfall noch Unklarheiten in tatsächlicher Hinsicht hinzu. So behauptet die Steuerpflichtige, der betreffende Heimatstaat der Stationierungsstreitkräfte sei gesetzlich verpflichtet, den dienstpflichtigen Offizieren unentgeltlich Unterkunft zu gewähren; auch Offiziere könnten kaserniert werden. Sie behauptet weiter, es seien zwar zeitweise auch verheiratete Offiziere im Heim untergebracht, jedoch ohne ihre Familien. Auch die Garagen stünden im wesentlichen nur für Dienstfahrzeuge zur Verfügung. Das FA ging demgegenüber auf Grund eigener Ermittlungen in der Einspruchsentscheidung davon aus, die Garagen dienten den Privatfahrzeugen der Offiziere. Auch verheiratete Offiziere – offenbar mit ihren Familien – bewohnten das Heim. Ob Kasernierungszwang besteht, ließ das FA offen. Wegen dieser und wegen weiterer offener tatsächlicher Fragen erscheint die Aufhebung der Vollziehung gerechtfertigt.
Fundstellen
BStBl II 1968, 610 |
BFHE 1968, 472 |