Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrügen wegen Überraschungsentscheidung und Verletzung der Sachaufklärungspflicht; mehrere regelmäßige Arbeitsstätten
Leitsatz (NV)
1. Eine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung ist nur dann gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit dem nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht gerechnet werden musste.
2. Wird geltend gemacht, das FG hätte den Sachverhalt auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen näher aufklären müssen, ist substantiiert darzulegen, aus welchen Gründen sich dem FG die weitere Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen, was diese ergeben hätte und inwiefern diese auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können.
3. Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, ob eine Tätigkeit an "nur" zwei Arbeitsstellen einer Beurteilung als Einsatzwechseltätigkeit entgegensteht, ist nicht klärungsbedürftig.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 2, § 96 Abs. 2; EStG § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
FG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 31.03.2004; Aktenzeichen 3 K 132/02) |
Gründe
Die Beschwerde kann keinen Erfolg haben.
Die von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) behaupteten Verfahrensmängel der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Überraschungsentscheidung; § 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) und mangelnder Sachaufklärung (§ 76 Abs. 2 FGO) liegen nicht vor.
Eine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung ist nach ständiger Rechtsprechung nur gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 6. August 2004 II B 69/03, BFH/NV 2004, 1666). Im Streitfall waren den Klägern aus dem vorangegangenen Beschluss zur Aussetzung der Vollziehung (AdV) und dem eingeholten Sachverständigengutachten indes bekannt, dass das Finanzgericht (FG) auch die Frage einer möglichen kürzeren Fahrtstrecke zwischen Wohnung und den jeweiligen Arbeitsstätten prüfen würde (vgl. dazu BFH-Urteil vom 10. Oktober 1975 VI R 33/74, BFHE 117, 70, BStBl II 1975, 852). Ausweislich des Protokolls über die öffentliche Sitzung in der Streitsache haben sich die Beteiligten nicht nur über die jeweilige Länge der vom Kläger angegebenen Fahrtstrecken, sondern auch über die alternative kürzere Fahrtstrecke des Klägers zu seiner Arbeitsstätte nach N bei dem vom Landesamt berechneten Weg (20 km) verständigt, so dass von einer Überraschungsentscheidung im o.g. Sinne nicht gesprochen werden kann.
Auch der weitere behauptete Verfahrensmangel der mangelnden Sachaufklärung greift nicht durch. Wird geltend gemacht, das FG hätte den Sachverhalt auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen näher aufklären müssen, ist substantiiert darzulegen, aus welchen Gründen sich dem FG die weitere Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen, welche Tatsachen sich bei einer weiteren Sachaufklärung voraussichtlich ergeben hätten und inwiefern eine weitere Sachaufklärung auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können (z.B. BFH-Beschluss vom 28. August 2003 VII B 71/03, BFH/NV 2004, 493). Diesen Anforderungen wird der Vortrag des Klägers mit dem allgemeinen Hinweis auf die fehlende Zumutbarkeit der kürzeren Strecke (z.B. wegen Wildwechsel, teilweise Kopfsteinpflaster, schlechter Winterdienst) nicht gerecht.
Die Kläger greifen im Kern ihres Beschwerdevorbringens die Beweiswürdigung des FG an. Sie machen damit aber keinen Verfahrensmangel geltend, sondern wenden sich gegen die sachliche Richtigkeit der Vorinstanz. Dies eröffnet jedoch nicht die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 12. Juli 2004 V B 236/03, BFH/NV 2004, 1660).
Schließlich ist auch die behauptete grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht gegeben. Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, ob eine Tätigkeit an "nur" zwei Arbeitsstellen einer Beurteilung als Einsatzwechseltätigkeit entgegensteht, ist nicht klärungsbedürftig (s. zu diesem Erfordernis Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, § 116 Rz. 32). Der Betriebssitz oder sonstige Stätten oder Einrichtungen des Arbeitgebers, die der Arbeitnehmer nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit mit dem Ziel aufsucht, Arbeitsleistungen zu erbringen, sind nebeneinander bestehende regelmäßige Arbeitsstätten (s. im Einzelnen BFH-Urteil vom 7. Juni 2002 VI R 53/01, BFHE 199, 329, BStBl II 2002, 878). Im Streitfall war der Kläger aber nach eigenen Angaben 144 Tage an der einen Arbeitsstätte in N und an 96 Tagen an der Arbeitsstätte in O tätig, so dass eine Einsatzwechseltätigkeit, die typischerweise nur an ständig wechselnden Tätigkeitsstätten zu erbringen ist, wie z.B. bei einem Reisevertreter oder Kundendiensttechniker (s. BFH-Urteil in BFHE 199, 329, BStBl II 2002, 878), ausscheidet.
Fundstellen
Haufe-Index 1351817 |
BFH/NV 2005, 1291 |