Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung; rechtliches Gehör; Willkürentscheidung
Leitsatz (NV)
1. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt dann nicht vor, wenn das FG das angefochtene Urteil auf einen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt hat, der im bisherigen Verfahren zumindest am Rande angesprochen worden ist.
2. Eine Willkürentscheidung liegt nur dann vor, wenn die Entscheidung des FG schwerwiegende Rechtsfehler aufweist und deshalb objektiv willkürlich erscheint oder greifbar gesetzeswidrig ist. Diese besonderen Umstände sind in der Beschwerde im Einzelnen auszuführen.
Normenkette
GG Art. 103; FGO § 96 Abs. 2, § 115 Abs. 2 Nrn. 2-3
Verfahrensgang
FG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 09.05.2007; Aktenzeichen 1 K 724/03) |
Tatbestand
I. Die Kläger und Beschwerdeführer zu 2. und 3. (Kläger zu 2. und 3.) waren zu gleichen Teilen Gesellschafter der am 1. Januar 1997 gegründeten W/W GbR. Die W/W GbR erwarb umfangreichen Grundbesitz im Gewerbegebiet X, den sie der S-GmbH im Rahmen einer Betriebsaufspaltung zum Betrieb deren Handelsunternehmens überließ.
Daneben gründeten die Kläger zu 2. und 3. am 10. Oktober 2000 die W GbR. Am selben Tag erklärten sie den Beitritt ihrer Tochter, der Klägerin und Beschwerdeführerin zu 1. (Klägerin zu 1.), zu der W GbR und traten dieser unentgeltlich im Wege der vorweggenommenen Erbfolge jeweils 5 % ihrer Geschäftsanteile an der W GbR ab.
Die mit der W GbR nicht identische W/W GbR begehrte in den Feststellungserklärungen für die Streitjahre (2000 bis 2002) die Einkünfte aus Gewerbebetrieb zu 45 % auf die Kläger zu 2. und 3. und zu 10 % auf die Klägerin zu 1. zu verteilen.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) stellte die erklärten Einkünfte erklärungsgemäß fest, verteilte die Einkünfte jedoch anteilig nur auf die Kläger zu 2. und 3.
Mit der ausschließlich gegen die Verteilung der Einkünfte gerichteten Klage führten die Kläger aus, dass die Klägerin zu 1. am 1. August 2000 der W/W GbR beigetreten sei. Zur Begründung fügten sie u.a. ein Schreiben der Klägerin zu 1. vom 24. Juni 2002 bei, worin diese den Beitritt in die W/W GbR mit Wirkung August 2000 bestätigte.
Das Finanzgericht (FG) hat den damaligen Steuerberater K und den Unternehmensberater A als Zeugen dazu vernommen, ob die Klägerin zu 1. am 1. August 2000 in die W/W GbR eingetreten ist.
Die W/W GbR wurde während des Klageverfahrens vollbeendet und das von ihr angestrengte Klageverfahren mit den (behaupteten) Gesellschaftern, den Klägern zu 1. bis 3., fortgesetzt.
Die Klage hatte insoweit Erfolg, als das FG davon ausging, dass die Klägerin zu 1. seit dem 24. Juni 2002 Gesellschafterin der W/W GbR geworden ist. Zur Begründung führte das FG aus, dass es diese Überzeugung aus der schriftlichen Bestätigung der Klägerin zu 1. vom 24. Juni 2002 sowie aus der Aussage des Zeugen K gewonnen habe.
Gegen die Nichtzulassung der Revision richtet sich die Beschwerde, die auf das Vorliegen von Verfahrensfehlern gestützt wird. Die Entscheidung stelle eine Überraschungsentscheidung dar, soweit das FG den Beitritt der Klägerin zu 1. in die W/W GbR zum 24. Juni 2002 angenommen habe. Diesen Termin habe das FG willkürlich gewählt, er entbehre jeder Grundlage. Wenn die Klägerin zu 1. nicht im August 2000 beigetreten sei, so sei ihr Wille auch nicht auf einen Beitritt zu einem späteren Zeitpunkt gerichtet gewesen. Durch die Festlegung des Gesellschaftsbeitritts zum 24. Juni 2002 generiere das FG einen Haftungstatbestand. Dies habe zur Folge, dass die Klägerin zu 1. für mögliche Versäumnisse der GbR ab dem Jahr 2000 in Haftung genommen werde, ohne dass sie Einfluss auf die Geschäftstätigkeit hätte nehmen können. Die Entscheidung des FG, die Klägerin zu 1. sei nicht im August 2000 wirksam beigetreten, nähmen die Kläger hin. Die Klage hätte deshalb insgesamt abgewiesen werden müssen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist, ungeachtet der Zweifel an ihrer Zulässigkeit, nicht begründet.
1. Die gerügten Verfahrensfehler, insbesondere das Ergehen einer Überraschungsentscheidung, liegen nicht vor.
Nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Daraus folgt für das finanzgerichtliche Verfahren zum einen, dass das FG sein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen darf, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten (§ 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Darüber hinaus haben die Verfahrensbeteiligten Anspruch darauf, dass das Gericht sie auch in rechtlicher Hinsicht auf entscheidungserhebliche Erwägungen und Gesichtspunkte hinweist, mit denen sie erkennbar nicht gerechnet haben und auch nicht rechnen mussten (vgl. § 76 Abs. 2 FGO). Das FG verletzt deshalb das Recht eines Beteiligten auf Gehör, wenn es sein Urteil auf einen rechtlichen Gesichtspunkt stützt, der weder im Besteuerungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren zur Sprache gekommen war und dessen Heranziehung auch nicht aus sonstigen Gründen nahe lag (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17. Juni 1998 II R 29/97, BFH/NV 1999, 185, und vom 23. September 1999 VI R 106/98, BFH/NV 2000, 448; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 119 Rz 10a, jeweils m.w.N.).
Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt indes nicht vor, wenn das FG das angefochtene Urteil auf einen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt hat, der im bisherigen Verfahren zumindest am Rande angesprochen worden ist (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2000, 448, m.w.N.).
Davon ausgehend liegt eine Überraschungsentscheidung im Streitfall nicht vor. Das von den Klägern beanstandete Verhalten soll darin liegen, dass das FG den Beitritt der Klägerin zu 1. in die W/W GbR zum 24. Juni 2002 angenommen und deshalb der Klage betreffend das Streitjahr 2002 teilweise zu Gunsten der Kläger stattgegeben hat, ohne einen diesbezüglichen Hinweis zu erteilen. Die Frage des Eintritts der Klägerin zu 1. in die W/W GbR war der eigentliche Streitpunkt des Klageverfahrens und Gegenstand der Zeugenvernehmung vor dem FG. Zwar weisen die Kläger daraufhin, dass nach ihrem erstinstanzlichen Vorbringen der Gesellschaftsbeitritt der Klägerin zu 1. bereits im August 2000 erfolgt sein soll. Daraus kann indes nicht geschlussfolgert werden, dass die Bestimmung dieses Datums im Sinne eines "Alles oder Nichts-Beitritts" zu verstehen gewesen sein sollte. Es lag auf der Hand und war überdies auch geboten, dass das FG, so es sich von dem Beitritt der Klägerin zu 1. in die W/W GbR zu dem von den Klägern genannten Zeitpunkt nicht überzeugen konnte, weiterhin zu prüfen hatte, ob ein Eintritt zu einem späteren Zeitpunkt, der noch innerhalb des die drei Streitjahre umfassenden Entscheidungszeitraums lag, in Betracht zu ziehen war. Diesbezüglich konnte und musste das FG den vorgetragenen Sachverhalt sowie die Zeugenaussagen umfassend würdigen. Dazu gehörte neben der mündlichen Einlassung der Klägerin zu 1. auch deren schriftliche Äußerung vom 24. Juni 2002, die von den Klägern in das Verfahren eingeführt worden ist. Dass das FG tatsächlich einen späteren Eintritt der Klägerin zu 1. in die W/W GbR in Erwägung gezogen hatte, musste sich den beratenen Klägern zudem auch deshalb aufdrängen, weil das FG das FA, wie dieses im Schriftsatz vom 19. November 2007 unwidersprochen vorgetragen hat, nach der Zeugeneinvernahme ausdrücklich dahin befragt hatte, ob es den Klageabweisungsantrag angesichts der Zeugenaussagen für das Streitjahr 2002 aufrecht erhalten wolle. Diese Nachfrage macht jedoch nur Sinn, wenn das FG die Zeugenaussage dahin gewürdigt hatte, dass ein Beitritt der Klägerin zu 1. nicht in 2000, jedoch zu einem späteren Zeitpunkt, jedenfalls in 2002 erfolgt ist. Angesichts dessen mussten die Kläger, zumal sie anwaltlich vertreten waren, mit einer entsprechenden Entscheidung durch das FG rechnen. Vorheriger weiterer rechtlicher Hinweise durch das FG bedurfte es daher nicht, zumal das FG --gemessen an den von den Beteiligten gestellten Anträgen-- zu Gunsten der Kläger entschieden hatte.
Tatsächlich knüpft der Vorwurf, das FG habe seine Überzeugung vom Zeitpunkt des Eintritts der Klägerin zu 1. weder auf der Grundlage deren schriftlicher Bestätigung vom 24. Juni 2002 noch auf Grund der Aussage des Zeugen K gewinnen können, ausschließlich an die angeblich fehlerhafte Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch das FG an. Eine fehlerhafte Subsumtion des Sachverhalts stellt indes ebenso wie eine fehlerhafte Beweiswürdigung einen materiellen Rechtsfehler dar, auf den die Zulassung der Verfahrensrevision nicht gestützt werden kann.
2. Die Beschwerde hat ebenfalls keinen Erfolg, soweit die Kläger sinngemäß geltend machen, die Revision sei gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO wegen einer Willkürentscheidung des FG zuzulassen. Dieser Zulassungsgrund ist nur gegeben, wenn die Entscheidung des FG schwerwiegende Rechtsfehler aufweist und deshalb objektiv willkürlich erscheint oder greifbar gesetzeswidrig ist. Diese besonderen Umstände sind in der Beschwerdeschrift auszuführen. Der bloße Hinweis auf (angebliche) erhebliche Rechtsfehler reicht nicht aus (z.B. BFH-Beschluss vom 7. Juli 2005 IX B 13/05, BFH/NV 2005, 2031). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Mit ihr wird lediglich geltend gemacht, dass das FG nach Ansicht der Kläger den Streitfall rechtsfehlerhaft entschieden hat.
Im Übrigen müssen sich die Kläger in diesem Zusammenhang auch den Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens gefallen lassen. Es ist nämlich nicht nachvollziehbar, dass die Kläger zunächst behaupten, die Klägerin zu 1. sei ab August 2000 während der gesamten Streitjahre Mitunternehmerin der W/W GbR gewesen; sie sodann, nachdem dieses Vorbringen nicht zur Überzeugung des Gerichts bewiesen werden konnte, behaupten, es habe zu keinem Zeitpunkt eine Mitunternehmerschaft bestanden. In diesem Zusammenhang kann auch der Einwand der Kläger nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden, das FG würde durch die Annahme eines späteren Eintritts der Klägerin zu 1. in die W/W GbR einen (von den Klägern allerdings nicht näher konkretisierten) Haftungstatbestand für zurückliegende Zeiten (ab 2000) generieren, in denen diese keinen Einfluss auf die geschäftliche Tätigkeit der W/W GbR gehabt habe. Denn die Frage der Beweisbarkeit des Vorliegens einer Mitunternehmerschaft ist strikt zu trennen von der von den Klägern behaupteten Mitunternehmerschaft, deren Bestehen denknotwendig eine Einflussnahme der Klägerin zu 1. auf die geschäftliche Tätigkeit der W/W GbR vorausgesetzt hätte.
Fundstellen