Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung einer Rechtsmittelschrift
Leitsatz (NV)
Prozeßerklärungen sind auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 1, § 116; BFHEntlG Art. 1 Nr. 5; BGB § 133
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) abgewiesen. Die Revision wurde vom FG nicht zugelassen.
Mit Schreiben vom 15. November 1985 - eingegangen beim FG am 18. November 1985 - führten die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin folgendes aus:
,,In Sachen Frieda X ./. Finanzamt Y . . . wird hiermit namens der Klägerin gegen das am 16. 10. 1985 zugestellte Urteil vom 26. 9. 1985
1. Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt,
2. nach deren Zulassung Revision eingelegt.
Begründung".
Auf S. 4 dieses Schreibens befinden sich folgende Ausführungen:
,,Nach ihrer Zulassung" - der Revision - ,,behalte ich mir vor, die Revision im einzelnen weiter zu begründen."
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig.
Die Auslegung des Schreibens vom 15. November 1985 ergibt, daß die Klägerin mit diesem Schreiben Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision und gleichzeitig Revision eingelegt hat. Revision und Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision können gleichzeitig eingelegt werden (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 16. Juli 1971 III R 68/69, BFHE 103, 42, BStBl II 1971, 739; Gräber, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 115 Rz. 54, § 120 Rz. 7).
Prozeßerklärungen sind auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen (vgl. § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Die Auslegung hat jedoch insoweit eine Grenze, als zwar außer der Erklärung weitere Umstände zu berücksichtigen sein können, die Auslegung aber nicht zu der Annahme eines Erklärungsinhalts führen darf, für den sich in der Erklärung selbst keine Anhaltspunkte mehr finden lassen; denn in dieser Hinsicht kommt es auf die Verkörperung des Willens in der prozessualen Erklärung an (vgl. BFH-Urteil vom 1. April 1981 II R 38/79, BFHE 133, 151, BStBl II 1981, 532, m. w. N.).
Die Auslegung des Schreibens vom 15. November 1985 ergibt, daß die Klägerin mit diesem Schreiben Revision eingelegt hat und Revision einlegen wollte. Darauf deuten zunächst die Worte hin: wird ,,hiermit" namens der Klägerin ,,Revision eingelegt". Zweifel können allerdings durch das Einschieben der Worte ,,nach deren Zulassung" entstehen. Diese Zweifel werden durch die späteren Ausführungen auf S. 4 des Schreibens ausgeräumt, in denen vorbehalten wird, die Revision im einzelnen weiter zu begründen. Aus der Ankündigung der Klägerin, die Revision nach ihrer Zulassung ,,im einzelnen weiter zu begründen", ergibt sich, daß die Klägerin schon das Schreiben vom 15. November 1985 als Revisionseinlegung und Revisionsbegründung auffaßte, denn nur eine bereits eingelegte und schon begründete Revision kann ,,weiter" begründet werden.
Spätere Umstände bestätigen, daß diese Auslegung des Schreibens dem Willen der Klägerin entspricht. Mit Schreiben der Geschäftsstelle des Senats vom 27. März 1986 wurde der Klägerin mitgeteilt, daß beim Senat neben dem Beschwerdeverfahren VIII B 1/86 das Revisionsverfahren VIII R 38/86 geführt wird. Diese Mitteilung hat die Klägerin nicht zum Anlaß genommen, darauf hinzuweisen, daß sie noch nicht Revision eingelegt, sondern diese nur angekündigt habe. Mit Schreiben vom 26. Juni 1986 hat die Klägerin sich darüber hinaus im Revisionsverfahren mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Dies läßt ebenfalls darauf schließen, daß die Klägerin das Schreiben vom 15. November 1985 als Einlegung der Revision aufgefaßt hat.
Die von der Klägerin eingelegte Revision ist nicht statthaft.
Nach § 115 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i. V. m. Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) in der zur Zeit der Revisionseinlegung maßgebenden Fassung findet die Revision - abgesehen von den Fällen des § 116 FGO - nur statt, wenn das FG oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der BFH sie zugelassen hat.
Die Revision wurde vom FG nicht zugelassen. Die dagegen gerichtete Beschwerde ist durch Beschluß des Senats vom heutigen Tag VIII B 1/86 als unbegründet zurückgewiesen worden.
Die Voraussetzungen des § 116 FGO, wonach die Revision ohne Zulassung statthaft ist, wenn bestimmte Verfahrensmängel gerügt werden, sind nicht gegeben.
Fundstellen
Haufe-Index 415520 |
BFH/NV 1988, 460 |