Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Verfassungsmäßigkeit des Kinderlastenausgleichs in den Jahren 1987 bis 1989
Leitsatz (NV)
Bei summarischer Prüfung bestehen für die Jahre 1987 bis 1989 bei einer Familie mit drei Kindern keine ernsten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Höhe des Kinderlastenausgleichs.
Normenkette
EStG 1986/1988 § 32 Abs. 6 S. 1; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1
Tatbestand
Die Antragsteller, Beschwerdegegner und Beschwerdeführer (Antragsteller) sind Eheleute. In den Einkommensteuerbescheiden für die Jahre 1986 bis 1989 berücksichtigte der Antragsgegner, Beschwerdeführer und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) drei bzw. vier Kinderfreibeträge gemäß § 32 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von je 2484 DM.
Gegen die Einkommensteuerbescheide haben die Antragsteller Einsprüche eingelegt, die sie u. a. damit begründeten, daß die Kinderfreibeträge in verfassungswidriger Weise zu niedrig angesetzt seien. Gleichzeitig beantragten die Antragsteller beim FA die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide. Über die Einsprüche ist noch nicht entschieden.
Den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung lehnte das FA ab.
Daraufhin wandten sich die Antragsteller an das Finanzgericht (FG). Sie begehrten, die Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide im Hinblick auf die ihrer Ansicht nach zu niedrig angesetzten Kinderfreibeträge auszusetzen. Sie meinen, pro Kind müsse mindestens ein Kinderfreibetrag von 6000 DM berücksichtigt werden.
Der Antrag hatte teilweise Erfolg. Das FG ging davon aus, daß im Streitfall ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Einkommensteuerbescheide i. S. des § 69 der Finanzgerichtsordnung (FGO) vorlägen. Zur Begründung führte es insoweit lediglich aus, daß es dem Vorlagebeschluß des FG des Saarlandes vom 19. März 1991 1 K 84/91 (Betriebs-Berater - BB - 1991, 668) folge. Das FG des Saarlandes habe dort überzeugend dargelegt, daß der Kinderfreibetrag für 1991 in Höhe von 3024 DM verfassungswidrig zu niedrig angesetzt sei. Dies müsse dann erst recht für die Kinderfreibeträge in den hier streitigen Veranlagungszeiträumen gelten, da diese lediglich je 2484 DM betragen hätten.
Der Senat folge nicht der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), nach der Gründe einer geordneten Haushaltsführung unter Umständen einem Anspruch auf vorläufigen Rechtsschutz entgegenstehen können. Denn nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - (Beschluß vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84 u. a., BStBl II 1990, 653, 659) rechtfertige der Finanzbedarf des Staates eine verfassungswidrige Steuer nicht. Dieser Rechtsgrundsatz müsse auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gelten.
Für das Aussetzungsverfahren schätzte das FG die erforderliche Höhe des Kinderfreibetrags auf 5000 DM. Es führte insoweit aus, es lasse sich davon leiten, daß einerseits der bisher geltende Kinderfreibetrag mit Sicherheit zu niedrig sei, um Aufwendungen, die mit dem Unterhalt von Kindern notwendigerweise zusammenhängen, abzugelten, andererseits aber ungewiß sei, in welcher Weise der Gesetzgeber eine angemessene Berücksichtigung des Familienlastenausgleichs regeln werde; insoweit sei denkbar, daß der Entlastungsbedarf zum Teil durch eine Erhöhung des Kindergeldes bewirkt werde.
Das FG berechnete deshalb die Höhe der bei summarischer Prüfung zu Unrecht angesetzten Einkommensteuer für die Streitjahre wie folgt: 2766 DM (1986), 2938 DM (1987), 3648 DM (1988), 2652 DM (1989).
Das FG setzte jedoch die Vollziehung nur insoweit aus, als sich auf Grund der angefochtenen Einkommensteuerbescheide Nachforderungen ergeben hatten. Diese beliefen sich für 1986 auf 0 DM, für 1987 auf 1223 DM, für 1988 auf 1748 DM und für 1989 auf 9454 DM. Dementsprechend setzte das FG für 1986 keinen Betrag von der Vollziehung aus, für 1987 1223 DM, für 1988 1748 DM und für 1989 2652 DM.
Hiergegen richtet sich die vom FG zugelassene Beschwerde des FA.
Das FA rügt, daß der Beschluß des FG vom Beschluß des BFH vom 20. Juli 1990 III B 144/89 (BStBl II 1991, 104) abweiche. Denn danach könne das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung im Einzelfall höher zu bewerten sein als das Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Diese Auffassung werde auch von der Finanzverwaltung geteilt (Schreiben des Bundesministers der Finanzen - BMF - vom 16. Januar 1991, BStBl I 1991, 91 Nr. IV).
Die Antragseller, denen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist, haben sich nicht geäußert. Sie haben ihrerseits mit Schriftsatz vom 5. Dezember 1991 ebenfalls Beschwerde eingelegt, aber nicht begründet.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde des FA ist begründet.
Gemäß § 69 Abs. 2 Sätze 1 und 2, Abs. 3 Satz 1 FGO kann die Finanzbehörde oder auf Antrag das FG die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts u. a. dann aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne bestehen, wenn bei einer überschlägigen Prüfung neben für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts sprechenden Gründen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen auslösen (vgl. Gräber / Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 69 Anm. 88; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 69 FGO Anm. 10, jeweils m. w. N.). Ebenso wie aber ernstliche Zweifel an der Richtigkeit von Auslegung und Anwendung eines Gesetzes die Aussetzung der Vollziehung rechtfertigen, gilt dies auch dann, wenn ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit eines Gesetzes selbst erhoben werden können (BVerfG-Urteil vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60, BStBl I 1961, 63). In diesem Fall verlangt der BFH allerdings im Hinblick auf den Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein - besonderes - berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (BFH-Entscheidungen vom 6. November 1987 III B 101/86, BFHE 151, 428, 434, BStBl II 1988, 134 m. w. N.; vom 2. August 1988 III B 12/ 88, BFHE 154, 123, 128). Dieses kann z. B. wegen eins überwiegenden öffentlichen Interesses, insbesondere dem einer geordneten Haushaltswirtschaft, an der Vollziehung des Bescheids zu verneinen sein. An dieser Einschränkung hält der Senat fest.
Im Streitfall sind bereits ernste verfassungsrechtliche Bedenken zu verneinen.
Durch Beschluß vom 20. Mai 1992 III B 100/91, BStBl II 1992, 729 hat der Senat entschieden, daß der - unter Einbeziehung des staatlichen Kindergeldes - zu ermittelnde steuerrechtliche Kinderlastenausgleich bei summarischer Prüfung in den Jahren 1989 und 1990 (jedenfalls) für eine Familie mit drei Kindern nicht in verfassungswidriger Weise zu niedrig angesetzt war. Dabei hat er den steuerrechtlichen Kinderlastenausgleich entsprechend den vom BVerfG in seinem Urteil in BStBl II 1990, 653, 660 f. aufgestellten Grundsätzen unter Einbeziehung der - auf einen Steuerentlastungsbetrag hochgerechneten - Kindergeldbeträge ermittelt. Den so bestimmten steuerrechtlichen Kinderlastenausgleich hat der Senat dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum für die Kinder (durchschnittlicher Sozialhilfesatz zuzüglich eines Aufschlags von 30 v. H. für Zusatzleistungen) gegenübergestellt. Er ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß das sozialhilferechtliche Existenzminimum in den dortigen Streitjahren (1989 und 1990) unter den für den steuerrechtlichen Kinderlastenausgleich errechneten Beträgen lag. Wegen der Einzelheiten der Berechnung und der weiteren Begründung wird auf den Beschluß III B 100/91 Bezug genommen.
Nach den Grundsätzen des vorerwähnten Beschlusses, an denen der Senat festhält, bestehen auch im vorliegenden Streitfall bei summarischer Prüfung keine ernsten verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Höhe der Kinderfreibeträge in den hier noch streitigen Veranlagungszeiträumen. Denn die Höhe der Kinderfreibeträge entspricht in allen hier zu beurteilenden Streitjahren bereits derjenigen des Jahres 1989, über das im Beschluß III B 100/91 ebenfalls zu entscheiden war; die dort gezahlten Kindergeldbeträge von insgesamt 3120 DM jährlich entsprechen den gesetzlichen Mindestbeträgen für drei Kinder (50 DM für das erste, 70 DM für das zweite und 140 DM für das dritte Kind), wie sie auch in den vorliegenden Streitjahren galten. Das sozialhilferechtliche Existenzminimum war in den Jahren 1986 bis 1988 aber eher niedriger als in den nachfolgenden Jahren.
Bei summarischer Prüfung hat der Senat auch keine ernstlichen Zweifel daran, daß das sozialhilferechtliche Existenzminimum eines vierten Kindes, das im Jahr . . . geboren wurde und einen Tag später verstorben ist, durch den Kinderfreibetrag und das - wahrscheinlich nur für einen Monat ausgezahlte - Kindergeld (§ 9 Abs. 1 des Bundeskindergeldgesetzes) ausreichend berücksichtigt worden ist.
Der Beschluß des FG, der der Rechtsauffassung des Senats nicht entspricht, ist abzuändern. Der Antrag der Antragsteller muß in vollem Umfang abgelehnt werden.
Die Beschwerde der Antragsteller war aus den vorgenannten Gründen als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 418607 |
BFH/NV 1992, 739 |