Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung von Akteneinsicht in der Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten
Leitsatz (NV)
1. Das FG hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob es auf Antrag einem Prozeßbevollmächtigten die Akten zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume mitgibt oder übersendet. Bei der Ermessensausübung ist die gesetzliche Grundentscheidung zu beachten, daß die Akten in der Regel beim FG eingesehen werden sollen und es den Beteiligten sowie ihren Prozeßbevollmächtigten grundsätzlich zugemutet wird, sich zur Akteneinsicht in das FG zu begeben. Dieser Grundsatz schließt zwar Ausnahmen nicht aus, beschränkt sie aber auf eng begrenzte Sonderfälle.
2. Ein Sonderfall kann vorliegen, wenn die Akten, in die Einsicht genommen werden soll, außergewöhnlich umfangreich und unübersichtlich sind und es dem Prozeßbevollmächtigten deshalb und wegen der Dienstzeiten der Mitarbeiter des FG auch bei intensivem Bemühen voraussichtlich nicht möglich sein wird, sich innerhalb eines angemessenen Zeitraums über den Akteninhalt zu informieren.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1 S. 1; VwGO § 100 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) führt beim Finanzgericht (FG) einen Rechtsstreit gegen den Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt -- FA --). Gegenstand des Verfahrens sind u. a. Steuerbescheide, denen Feststellungen der Steuerfahndung zugrunde liegen. Prozeßbevollmächtigte der Klägerin sind vier Rechtsanwälte.
Auf deren Antrag übersandte das FG die ihm vom FA vorgelegten 11 Bände Steuerakten der Klägerin an das Amtsgericht L (AG), wo einer der Prozeßbevollmächtigten in die Akten Einsicht nahm. Mit Schriftsatz vom 23. Juni 1993 beantragten die Prozeßbevollmächtigten, ihnen die Akten zur Einsichtnahme in ihre Kanzlei zu übersenden. Zur Begründung gaben sie an: Die Akten hätten einen Umfang von 933 Blatt. Bei der Akteneinsicht in den Räumen des AG habe sich der Prozeßbevollmächtigte nur einen groben Überblick über den Akteninhalt verschaffen können. Um die Sache ordnungsgemäß zu bearbeiten, benötigten sie von einigen Aktenteilen Kopien. Welche Aktenteile diese seien, könnten sie erst nach einem umfangreichen Aktenstudium feststellen. Im AG sei es nicht möglich gewesen, Fotokopien anfertigen zu lassen.
Das FG fragte beim FA an, ob es mit der Übersendung seiner Akten in die Kanzleiräume der Prozeßbevollmächtigten einverstanden sei. Das FA teilte daraufhin mit: Die Klägerin oder ihre Prozeßbevollmächtigten seien im Besitz aller Unterlagen, die für die Begründung der Klage erheblich sein könnten, es sei den Prozeßbevollmächtigten zuzumuten, in den Räumen des FG unter Aufsicht Einsicht in die Akten zu nehmen und sich dort Kopien anfertigen zu lassen.
Die Prozeßbevollmächtigten hielten an ihrem Antrag fest. Sie trugen ergänzend vor: Die Ablehnung des Antrags würde ihnen die Arbeit unzumutbar erschweren. In Strafverfahren würden ihnen wesentlich "brisantere" Akten in die Kanzlei übersandt. Auch die Akten des aufgrund der Fahndungsprüfung eingeleiteten Strafverfahrens seien ihnen in ihre Kanzlei übersandt worden. Zudem sei kein Grund ersichtlich, ihnen als Organe der Rechtspflege mit Mißtrauen zu begegnen und ihnen die Einsicht in die Steuerakten nur außerhalb der Kanzleiräume und nur unter Aufsicht zu gestatten.
Mit Beschluß vom 18. August 1993 lehnte das FG den Antrag ab.
Gegen den Beschluß legte die Klägerin form- und fristgerecht Beschwerde ein.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde war zurückzuweisen. Sie ist nicht begründet. Das FG hat den Antrag der Klägerin zu Recht abgelehnt.
1. Gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) können die Verfahrensbeteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen lassen. Eine § 100 Abs. 2 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) entsprechende Vorschrift, daß die Akten einem vom Verfahrensbeteiligten bevollmächtigten Rechtsanwalt zur Mitnahme in seine Wohnung oder Geschäftsräume übergeben werden könnten, enthält die FGO nicht. Wie die Materialien der FGO zeigen (vgl. BTDrucks IV/1446, S. 53), wurde eine derartige Bestimmung nicht in die FGO aufgenommen, weil Rechtsanwälte nicht gegenüber anderen steuerberatenden Berufsgruppen bevorzugt werden sollen. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) folgt daraus jedoch nicht, daß im finanzgerichtlichen Verfahren die Gerichtsakten und die dem Gericht von anderen Behörden vorgelegten Akten den bevollmächtigten Rechtsanwälten nicht in ihre Geschäftsräume mitgegeben oder übersandt werden dürfen (s. z. B. BFH-Beschlüsse vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475; vom 9. März 1993 VII B 214/92, BFH/NV 1993, 742). Vielmehr hat das FG nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob es dem Antrag eines Verfahrensbeteiligten entspricht, dessen Prozeßbevollmächtigten die Akten zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume mitzugeben oder sie diesem zu übersenden (s. BFH-Beschluß in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475 m. w. N.).
2. Bei der Ermessensausübung ist die gesetzliche Grundentscheidung zu beachten, daß die Akten in der Regel beim FG eingesehen werden sollen und es den Beteiligten sowie ihren Prozeßbevollmächtigten daher grundsätzlich zugemutet wird, sich zur Akteneinsicht in das FG zu begeben. Dieser Grundsatz schließt zwar Ausnahmen nicht aus, beschränkt sie aber nach ständiger, vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gebilligter Rechtsprechung auf eng begrenzte Sonderfälle (s. BFH-Beschluß in BFH/NV 1973, 742; BVerfG-Beschluß vom 26. August 1981 2 BvR 637/81, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1982, 77; Gräber/Koch, Kommentar zur Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., 1993, § 78 Rz. 10 m. w. N.; a. A. Woring, Deutsche Steuer-Zeitung 1985, 544; Felix, Kölner Steuerdialog 1992, 9051). Die Mitnahme oder Übersendung der Akten in die Geschäftsräume des Prozeßbevollmächtigten muß daher durch besondere Gründe geboten sein. Es reicht weder aus, daß der Bevollmächtigte Rechtsanwalt und damit wie das FG ein Organ der Rechtspflege ist, noch daß er überlastet und die Akteneinsicht außerhalb seiner Geschäftsräume für ihn zeit- und kostenaufwendiger und unbequemer ist als in seinen Geschäftsräumen (s. BFH-Beschlüsse vom 23. September 1985 VI B 11/85, BFH/NV 1987, 374; vom 29. April 1987 VIII B 4/87, BFH/NV 1987, 796; vom 17. Januar 1989 X B 180/88, BFH/NV 1989, 645).
3. Ein Sonderfall kann vorliegen, wenn die Akten, in die Einsicht genommen werden soll, außergewöhnlich umfangreich und unübersichtlich sind und es dem Prozeß bevollmächtigten deshalb und wegen der Dienstzeiten der Mitarbeiter des FG auch bei intensivem Bemühen voraussichtlich nicht möglich sein wird, sich innerhalb eines angemessenen Zeitraums über den Akteninhalt zu informieren.
Im Streitfall sind derartige Besonderheiten nicht gegeben. Die dem FG vom FA vorgelegten Steuerakten der Klägerin sind nicht außergewöhnlich umfangreich oder unübersichtlich. Sie bestehen zum weit überwiegenden Teil aus Unterlagen, die bereits im Besitz der Klägerin oder ihrer Prozeßbevollmächtigten sind (z. B. Steuererklärungen und deren Anlagen, Jahresabschlüsse der Klägerin, Fahndungsprüfungsberichte, Steuerbescheide, Schriftverkehr zwischen dem FA und der Klägerin bzw. deren Beratern, Einspruchsentscheidungen). Es ist für einen fachkundigen Prozeßbevollmächtigten ohne besondere Schwierigkeit möglich, sich innerhalb weniger Stunden über den Akteninhalt zu informieren und die Blätter der paginierten Akten zu notieren, von denen er eine Kopie benötigt.
Fundstellen
Haufe-Index 420264 |
BFH/NV 1995, 524 |