Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassungsfreie Revision wegen Verletzung der Öffentlichkeit bei einer mündlichen Verhandlung vor dem FG
Leitsatz (NV)
Die Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit bei einer mündlichen Verhandlung vor dem FG in einem Finanzamt ist nur ordnungsgemäß gerügt worden, wenn angegeben wird, daß sie bereits in der mündlichen Verhandlung angebracht worden ist oder daß und aus welchen Gründen dies nicht möglich war.
Normenkette
FGO § 52 Abs. 1, § 116 Abs. 1 Nrn. 4-5, § 120 Abs. 2 S. 2; AO 1977 § 122 Abs. 2; GVG §§ 169, 171b
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) gab der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), die keine Steuererklärungen abgegeben hatte, Umsatzsteuerbescheide für 1990 und 1991 mit geschätzten Besteuerungsgrundlagen unter dem Datum des 16. April 1993 mit einfachem Brief durch die Post bekannt. Gegen diese Steuerbescheide legte die Klägerin mit zwei am 7. Juni 1993 beim FA eingegangenen Schriftsätzen Einsprüche ein, die das FA durch Einspruchsentscheidung vom 2. September 1993 wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig verwarf.
Mit der Klage machte die Klägerin geltend, die Einsprüche seien fristgemäß erhoben worden; denn der Brief mit den Steuerbescheiden sei von Frau A, ihrer vertretungsberechtigten Gesellschafterin, erst am 5. Mai 1993 in ihrem täglich geleerten Briefkasten vorgefunden worden. Dieses Eingangsdatum habe Frau A handschriftlich auf den Bescheiden vermerkt.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Zur Begründung führte es u. a. aus: Die Einsprüche seien verspätet eingelegt worden, weil die Einspruchsfrist gemäß § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) am 19. April 1993 begonnen habe, nachdem die angefochtenen Bescheide am 16. April 1993 zur Post gegeben worden seien, und weil Zweifel an der Zugangsvermutung durch das Vorbringen der Klägerin nicht begründet würden. Die Klägerin habe lediglich behauptet, die Umsatzsteuerbescheide für 1990 und 1991 zu dem späteren Zeitpunkt erhalten zu haben. Da der Brief mit den Bescheiden richtig adressiert worden sei und die Klägerin den Briefumschlag noch vor der Weiterleitung der Bescheide an ihren Bevollmächtigten vernichtet habe, weil ferner die in der mündlichen Verhandlung vernommene Gesellschafterin (Frau A) nur habe bekunden können, daß der handschriftliche Eingangsvermerk von ihr stamme sowie daß sie keine konkrete Erinnerung an diesen Vorgang und an die Weiterleitung an den Bevollmächtigten habe, reiche das Vorbringen der Klägerin nicht aus, um Zweifel am Zugang der Bescheide bis zum dritten Tage nach Aufgabe zur Post zu begründen. Anlaß, daran zu zweifeln, daß das Datum auf den Bescheiden den Tag der Aufgabe zur Post richtig wiedergebe, bestünde bei der Vielzahl der im maschinellen Verfahren erstellten sowie nach den gleichen organisatorischen Grundsätzen gefertigten und versandten Steuerbescheide nicht. Anzeichen für derartige Fehler seinen auch sonst nicht vorhanden.
Mit der Revision macht die Klägerin geltend, das Urteil sei auf eine mündliche Verhandlung ergangen, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden seien, und es sei nicht mit Gründen ver sehen. Dazu führt sie u. a. aus, bei der mündlichen Verhandlung im FA X sei am Eingang des jedermann zugänglichen Gebäudes kein Hinweis auf die Verhandlung des FG angebracht gewesen, so daß keine Öffentlichkeit des Verfahrens bestanden habe.
Weil das FG außerdem nicht dargelegt habe, "warum es die Voraussetzungen der Anwendung des § 122 Abs. 2 AO verneint" habe, fehle ferner die gebotene rechtliche Würdigung des substantiierten Vorbringens aus der Klageschrift. Die vorhandenen (wörtlich wiedergegebenen) Ausführungen des FG ersetzten nicht die erforderlichen rechtlichen Würdigungen.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA ist der Revision entgegengetreten. Es hat ausgeführt, auf dem Weg zum Sitzungssaal, in dem das FG verhandelt habe, hätten Besucher der Sitzung die Pförtner loge passieren müssen, an der der Sitzungsplan und ein Hinweisschild mit der Aufschrift "Finanzgericht Z Zimmer 211 (Sitzungssaal)" angebracht gewesen sei. Auch an der Eingangstür des Sitzungssaales seien ein Sitzungsplan und ein Hinweisschild "Finanzgericht Z" befestigt gewesen. Die Sitzungspläne und die Hinweisschilder hat das FA seinem Schriftsatz beigefügt.
Die Klägerin hat sich nicht zu diesem Vorbringen geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig.
1. Abweichend von § 115 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) findet die Revision nach Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFH EntlG) nur statt, wenn das FG oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof (BFH) sie zugelassen hat.
Das FG hat die Revision nicht zugelassen. Der BFH hat die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch Beschluß vom heutigen Tage zurückgewiesen.
2. Die Revision ist auch nicht als zulassungsfreie Verfahrensrevision wegen eines Verfahrensmangels i. S. von § 116 Abs. 1 FGO zulässig.
Dies wäre nur der Fall, wenn die zur Begründung vorgetragenen Tatsachen -- ihre Richtigkeit unterstellt -- den bezeichneten Mangel ergäben (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 116 Rz. 3 m. w. N.). Die zur Begründung des Mangels erforderlichen Tatsachen müssen lückenlos vorgetragen werden (vgl. Gräber, Deutsches Steuerrecht -- DStR -- 1968, 173, 175).
a) Für eine lückenlose Darlegung eines Verstoßes i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 4 FGO, d. h. gegen den im Verfahren vor den FG geltenden Grundsatz (§ 52 Abs. 1 FGO i. V. m. den sinngemäß anwendbaren §§ 169, 171 b bis 197 des Gerichtsverfassungsgesetzes -- GVG --), daß allen nicht aus sitzungspolizeilichen oder aus anderen gesetzlichen Gründen von der Teilnahme ausgeschlossenen Personen der Zugang zum Verhandlungssaal möglich sein muß (vgl. BFH-Beschluß vom 14. Juli 1993 I B 108/92, BFH/NV 1994, 381), reicht die bloße Behauptung nicht aus, daß ein Hinweis auf den Ort der auswärts abgehaltenen öffentlichen Sitzung des FG gefehlt habe. Der Revisionskläger muß für den lückenlosen substantiierten Vortrag außerdem vorbringen, wodurch und wann er dies bemerkt und weshalb er den Mangel nicht in der mündlichen Verhandlung gerügt hat.
Die dem Gericht wegen Kenntnis oder verschuldeter Unkenntnis zurechenbare Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung (§ 52 FGO i. V. m. § 169 GVG) ist zwar ein absoluter Revisionsgrund i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 4 FGO. Indes können die Prozeßbeteiligten auf die Beachtung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verzichten (vgl. Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. November 1985 4 CB 46.85, nicht veröffentlicht -- NV --; vom 4. November 1977 IV C 71/77, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1978, 174). Eine den Anforderungen des § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO entsprechende Revisionsrüge muß somit auch angeben, daß der die Verletzung der Öffentlichkeit begründende Mangel in der mündlichen Verhandlung gerügt worden ist, oder sie muß darlegen, weshalb dies nicht möglich war (vgl. BFH-Beschluß vom 24. August 1990 X R 45--46/90, BFHE 161, 427, BStBl II 1990, 1032). Derartige Ausführungen enthält die Revisionsbegründung nicht.
b) Die Revision ist schließlich nicht nach § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO zulassungsfrei statthaft. Die Klägerin hat nicht den Anforderungen des § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO entsprechend schlüssig gerügt, daß das Urteil nicht mit Gründen versehen ist.
Eine Entscheidung ist nicht mit Gründen versehen, wenn entweder jegliche Begründung fehlt oder wenn ein selbständiger Anspruch bzw. ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel übergangen worden ist, das den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm darstellt (vgl. z. B. BFH- Beschluß vom 30. Juli 1990 V R 49/87, BFH/NV 1991, 325; Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Anm. 2, § 119 Anm. 25).
Die Revisionsbegründung selbst ergibt, daß das Urteil mit Gründen versehen ist und daß keine selbständigen Angriffs- oder Verteidigungsmittel übergangen worden sind, sondern daß dies seitens der Klägerin nur behauptet wird. Die Klägerin führt zwar einerseits aus, das FG habe nicht dargelegt, warum es die Voraussetzungen der Anwendung des § 122 Abs. 2 AO 1977 "verneint hat". Andererseits wendet sich die Klägerin aber dagegen, daß das FG "apodiktisch" festgestellt habe, die angefochtenen Steuerbescheide seien am 16. April 1993 zur Post gegeben worden und ihr, der Klägerin, Vorbringen habe die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 AO 1977 nicht erschüttert. Aus diesem Vorbringen der Klägerin folgt mithin, daß das FG § 122 Abs. 2 AO 1977 angewendet hat. Die Revisionsbegründung ergibt weiter, daß die Klägerin sich nur gegen das Ergebnis der von ihr zitierten und damit nach ihrem eigenen Vorbringen vorhandenen Urteilsgründe wendet.
Fundstellen