Leitsatz (amtlich)
Der VI. Senat des Bundesfinanzhofs leitet das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ein zur Prüfung der Frage, ob § 27 EStG 1955 betreffend die Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 GG zu vereinbaren ist.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6, 100 Abs. 1; EStG 1955 § 27
Tatbestand
I. Sachverhalt, Entscheidung des Finanzgerichts und Rechtsbeschwerdebegründung
1. Die Steuerpflichtigen sind seit dem 25. Mai 1955 verheiratet. Die Ehefrau war in erster Ehe mit dem Fabrikanten X verheiratet, der seinerseits bereits vorher verheiratet gewesen war und aus dessen erster Ehe drei Kinder hervorgegangen sind, die im Jahre 1955 alle noch nicht 18 Jahre alt waren. Die drei Kinder X haben ihren Vater beerbt. Sie hatten im Jahre 1955 Einkünfte aus Gewerbebetrieb, aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Kapitalvermögen in Höhe von insgesamt etwa 123 000 DM. Bei der Einkommensteuerveranlagung für 1955 hat das Finanzamt die drei Kinder als eheliche Stiefkinder der Ehefrau im Sinne von § 32 Abs. 4 Ziff. 4 EStG 1955 angesehen, für die ihr Kinderermäßigung zustehe. Da die Ehefrau mit ihrem Ehemann zusammen veranlagt werde und infolgedessen auch der Ehemann Kinderermäßigung für die drei Kinder erhalte, seien die Kinder mit beiden Steuerpflichtigen zusammen zu veranlagen. Der gegen diese Zusammenveranlagung eingelegte Einspruch hatte keinen Erfolg.
2. Die Berufung führte zur Aufhebung der Einspruchsentscheidung. Das Finanzgericht hat angenommen, daß die Voraussetzungen für die vom Finanzamt nach § 27 EStG 1955 vorgenommene Zusammenveranlagung der Steuerpflichtigen mit den drei Kindern nach dem Wortlaut dieser Vorschrift zwar gegeben seien. Es ist aber der Auffassung, daß § 27 EStG 1955 mit Art. 6 des Grundgesetzes (GG) nicht zu vereinbaren sei. Da § 27 EStG 1955 vorkonstitutionelles Recht sei, dürfe § 27 EStG 1955 nicht angewendet werden. Daß Abs. 3 des § 27 durch das Gesetz zur Neuordnung von Steuern vom 16. Dezember 1954 (BGBl 1954 I S. 373, BStBl 1954 I S. 575) geändert worden sei, ändere daran nichts; denn die Änderung betreffe nicht die Zusammenveranlagung als solche, sondern lediglich das Ausscheiden bestimmter Einkünfte bei der Zusammenveranlagung. Aus der Neufassung des Abs. 3 des § 27 könne daher nicht geschlossen werden, daß der Gesetzgeber die Regelung der Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern in seinen Willen aufgenommen habe. Die Nichtigkeit des § 27 EStG 1955 sei demgemäß nach Art. 123 GG bei der Entscheidung ohne weiteres zu berücksichtigen. Die Vorschrift sei also nicht anzuwenden. Bei der Einkommensbesteuerung der Steuerpflichtigen seien infolgedessen nur deren eigene Einkünfte von etwa 67 000 DM, nicht aber die der drei Kinder anzusetzen. Auszunehmen seien auch 12 000 DM gewerbliche Einkünfte, mit denen die Ehefrau gemäß § 62 a EStDV 1957 gesondert zu veranlagen sei.
3. Mit der Rb. vertritt der Vorsteher des Finanzamts die Auffassung, § 27 EStG 1955 verstoße nicht gegen das GG, sondern sei rechtsgültig. Er verletze weder Art. 6 noch Art. 3 GG.
Entscheidungsgründe
II. Entscheidungserheblichkeit der Rechtsgültigkeit von § 27 EStG 1955
Die drei Kinder sind im Verhältnis zur Ehefrau eheliche Stiefkinder im Sinne von § 32 Abs. 4 Ziff. 4 Buchst. b EStG 1955; denn als solche sind Kinder anzusehen, die aus einer früheren Ehe des Ehegatten eines Steuerpflichtigen stammen (vgl. Blümich-Falk, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, 8. Aufl. 1960, § 32 Bem. 3 b; Urteil des Bundesfinanzhofs IV 398/54 U vom 24. November 1955, BStBl 1956 III S. 16, Slg. Bd. 62 S. 41). Daß die das Stiefkindschaftsverhältnis begründende Ehe durch den Tod des früheren Ehemannes der Ehefrau aufgelöst wurde, hat für das Stiefkindschaftsverhältnis keine Bedeutung. Das ergibt sich aus § 1590 Abs. 2 BGB, der auch für das Steuerrecht Bedeutung hat (s. hierzu Urteil des Reichsfinanzhofs IV 164/37 vom 13. Dezember 1937, RStBl 1938 S. 171, Slg. Bd. 43 S. 4, sowie das oben angeführte Urteil des Bundesfinanzhofs IV 398/54 U a. a. O.). Der Ehefrau steht daher Kinderermäßigung zu für die als ihre ehelichen Stiefkinder anzusehenden drei Kinder X. Sieht man § 27 EStG 1955 als rechtsgültig an, so sind die Einkünfte der Kinder denen der Ehefrau bei der Besteuerung zuzurechnen. Da die Ehefrau ihrerseits nach § 26 b EStG 1957 antragsgemäß mit dem Ehemann zusammen zu veranlagen ist, bedeutet dies, daß die Kinder bei Annahme der Rechtsgültigkeit des § 27 EStG 1955 auch mit dem Ehemann zusammen veranlagt werden.
Wenn § 27 EStG 1955 dagegen rechtsungültig ist, fehlt die Rechtsgrundlage für die Zusammenrechnung der Einkünfte der Kinder mit den Einkünften der Steuerpflichtigen und ihre Einkommensteuer ist so festzusetzen, wie es in der angefochtenen Entscheidung des Finanzgerichts geschehen ist.
III. Zur Verfassungsmäßigkeit des § 27 EStG 1955
1. Ob die Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern mit dem GG zu vereinbaren ist, hat der Senat in dem Fall VI 117/61 U vom heutigen Tage (BStBl 1962 III S. 369) für § 27 in der Fassung des EStG 1958 untersucht. Wenn der Wortlaut des § 27 EStG 1955, um dessen Rechtsgültigkeit es in der vorliegenden Rb. geht, auch etwas abweicht von dem des § 27 EStG 1958, so stimmen beide Vorschriften doch darin überein, daß die Einkünfte der Eltern mit denen der Kinder für die Einkommensbesteuerung grundsätzlich zusammenzufassen sind. Nach beiden Fassungen des § 27 EStG tritt dadurch eine höhere Steuerbelastung für die Eltern und die Kinder ein, die -- wie der Senat in dem Beschluß vom heutigen Tage in der Sache VI 117/61 U ausgeführt hat -- mit dem GG nicht zu vereinbaren ist. Der Senat hält daher auch § 27 EStG 1955 für rechtsungültig. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 27 EStG 1955 ist nach seiner Auffassung ebensowenig wie bei § 27 EStG 1958 möglich.
Der vorliegende Sachverhalt zeigt besonders deutlich, daß die Zusammenveranlagung nach § 27 EStG zu Ergebnissen führen kann, die vor allem mit Art. 3 GG nicht zu vereinbaren sind. Eine Zusammenveranlagung würde im vorliegenden Fall bedeuten, daß der Ehemann, der nach bürgerlichem Recht mit den drei Kindern weder in einem Verwandtschafts- noch in einem Schwägerschaftsverhältnis steht, zusammen zu veranlagen wäre. Bereits die Zusammenveranlagung der Kinder mit der Ehefrau wäre vom Standpunkt des Familienrechts als sehr weitgehend zu bezeichnen. Sie wäre aber noch verständlich, da die Kinder Stiefkinder der Ehefrau sind, wenn auch aus einer nicht mehr bestehenden Ehe. Es ist aber nicht vertretbar, die Kinder über § 26 b EStG 1957 auch mit dem Ehemann für die Besteuerung zu einer Einheit zusammenzufassen, wenn das bürgerliche Recht keine familienrechtlichen Beziehungen zwischen ihm und den Kindern anerkennt. Ähnlich dürften übrigens die Verhältnisse liegen, wenn eine Zusammenveranlagung von Pflegeeltern und Pflegekindern in Betracht kommt. Der Senat ist der Auffassung, daß diese Fälle in besonderem Maße zeigen, daß eine auf § 27 EStG zurückzuführende steuerliche Mehrbelastung der Beteiligten nicht mit Art. 3 GG zu vereinbaren ist.
2. In dem Beschluß vom heutigen Tage in der Sache VI 204/61 U (BStBl 1962 III S. 372), und auf den Bezug genommen wird, wurde die Auffassung vertreten, daß § 27 in der Fassung des EStG 1949 nachkonstitutionelles Recht ist, dessen Vereinbarkeit mit dem GG nur vom Bundesverfassungsgericht nachgeprüft werden kann. Da der für die Zusammenveranlagung grundlegende Abs. 1 des § 27 im EStG 1955 den gleichen Wortlaut hat wie im EStG 1949, muß § 27 Abs. 1 EStG 1955 als weitergeltende Bestimmung ebenfalls als nachkonstitutionelles Recht im Sinne von Art. 100 Abs. 1 GG angesehen werden.
Es kommt aber hinzu, daß § 27 EStG durch Art. 1 Ziff. 28 des Gesetzes zur Neuordnung von Steuern vom 16. Dezember 1954 (a. a. O.) eine Ergänzung erhalten hat. Während bis dahin nur Einkünfte der Kinder aus gegenwärtigen oder zukünftigen Arbeitsverhältnissen bei der Zusammenveranlagung auszuscheiden waren, wurden diese Ausnahmen ab 1955 dahin erweitert, daß auch Einkünfte aus früheren Arbeitsverhältnissen von der Zusammenveranlagung auszunehmen waren. Durch diese Gesetzesänderung wurde zwar eine bereits vorher in Abschn. 142 Abs. 1 EStR 1953 getroffene Billigkeitsregelung in das EStG übernommen. Das bedeutet aber eine Änderung des geltenden Rechts, und zwar in einem in der Praxis verhältnismäßig wichtigen Punkt; denn die Neuregelung betrifft insbesondere die Besteuerung der Waisenbezüge, die Kinder auf Grund eines Arbeitsverhältnisses ihres verstorbenen Vaters erhalten. Da diese Änderung des Abs. 3 in § 27 die in Abs. 1 angeordnete Zusammenveranlagung nicht unwesentlich einschränkt, muß hierin gleichfalls eine Änderung des § 27 Abs. 1 EStG erblickt werden, die diese Vorschrift auch aus diesem Grund zu nachkonstitutionellem Recht im Sinne von Art. 100 Abs. 1 GG macht.
Die Vereinbarkeit des § 27 EStG 1955 mit dem GG kann infolgedessen nach Auffassung des Senats nur im Wege der Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht erfolgen. Da der Senat die Vorschrift für unvereinbar mit dem GG hält, ist die Aussetzung der Entscheidung über die vorliegende Rb. und die Vorlage der Sache an das Bundesverfassungsgericht erforderlich.
Fundstellen
Haufe-Index 410479 |
BStBl III 1962, 375 |
BFHE 1963, 299 |