Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertrauen in Fortgeltung des sog. halben Steuersatzes von Verfassungs wegen nicht geschützt
Leitsatz (NV)
- Das Vertrauen eines Steuerpflichtigen darauf, dass im Zeitpunkt der Veräußerung seines Betriebes noch der sog. halbe Steuersatz (§ 34 Abs. 1 EStG in der bis 1998 geltenden Fassung) gilt, ist bei summarischer Prüfung von Verfassungs wegen nicht geschützt.
- Es bestehen keine ernstlichen Zweifel daran, dass die sog. Fünftelregelung nach § 34 Abs. 1, 2 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 nicht durch die (Wieder)Einführung des sog. halben Steuersatzes durch § 34 Abs. 3 i.d.F. des Steuersenkungsergänzungsgesetzes ab dem Veranlagungszeitraum 2001 verfassungswidrig geworden ist.
- Diese Grundsätze gelten auch für Ärzte, die mit Vollendung des 68. Lebensjahres zur Beendigung ihrer kassenärztlichen Tätigkeit verpflichtet sind.
Normenkette
FGO § 69; EStG §§ 16, 18, 34; StEntlG 1999/2000/2002; StSenkErgG
Tatbestand
I. Die Antragstellerin, die mit dem Antragsteller zusammenveranlagt wird, war als Kinderärztin mit Zulassung als Kassenärztin selbständig tätig. Da sie auf Grund des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21. Dezember 1992 ihre Kassenarzttätigkeit mit Vollendung des 68. Lebensjahres, d.h. bis spätestens 12. Mai 2000 beenden musste, leitete sie Anfang des Streitjahres 1999 das Nachbesetzungsverfahren zum Verkauf ihrer Praxis nach § 103 Abs. 4 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) ein. Sie veräußerte ihre Praxis mit Wirkung zum 31. Dezember 1999. Der Veräußerungsgewinn betrug 293 228 DM.
Der Antragsgegner (das Finanzamt ―FA―) kürzte den Veräußerungsgewinn gemäß § 16 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) um 60 000 DM und besteuerte den übersteigenden Betrag zum normalen Steuertarif. Bei Anwendung der sog. Fünftelregelung nach § 34 Abs. 1 EStG hätte sich ein höherer Steuerbetrag ergeben.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage in diesem Punkt ab. Die für die Veranlagungszeiträume 1999 und 2000 geltende Regelung des § 34 EStG sei nicht verfassungswidrig. Dem Gesetzgeber sei es von Verfassungs wegen möglich, auf die seit In-Kraft-Treten des § 34 EStG eingetretene unverhältnismäßige steuerliche Begünstigung der außerordentlichen Einkünfte zu reagieren. Gegen die Verfassungsmäßigkeit spreche auch nicht, dass der Gesetzgeber ab dem Veranlagungszeitraum 2001 zur Sicherung der Altersversorgung gemäß § 34 Abs. 3 EStG wieder den halben Steuersatz eingeführt habe. Im Übrigen habe es der Antragstellerin freigestanden, ihre Kinderarztpraxis vor dem Veranlagungszeitraum 1999 zu veräußern.
Den Antrag auf Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides 1999, den die Antragsteller in der mündlichen Verhandlung vor dem FG gestellt hatten, verwies das FG, nachdem Revision eingelegt worden war, durch Beschluss an den Bundesfinanzhof (BFH).
Mit ihrer Revision rügen die Antragsteller, die übergangslose Besteuerung des Veräußerungsgewinns mit dem normalen Steuersatz sei verfassungswidrig (Kirchhof, Steuer und Wirtschaft ―StuW― 2000, 221). Aufgrund des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21. Dezember 1992 sei die Antragstellerin zur Rückgabe ihrer Kassenarztzulassung im Alter von 68 Jahren gezwungen gewesen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe die Einführung dieser Altersgrenze für verfassungsgemäß gehalten und ausgeführt, dass bereits am 1. Januar 1993 zugelassene Vertragsärzte ―wie die Antragstellerin― ihre Planung umstellen müssten, soweit sie im Vertrauen auf die bisherige Regelung ihrer Lebens- und Berufsplanung eine zeitlich unbefristete Tätigkeit im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit zugrunde gelegt hätten (2. Kammer des 1. Senats, Beschluss vom 31. März 1998 1 BvR 2167/93, 2198/93, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1998, 1776). Dieser Vorgabe des BVerfG sei die Antragstellerin gefolgt und habe das regelmäßig ein Jahr dauernde Nachbesetzungsverfahren nach § 103 Abs. 4 SGB V rechtzeitig eingeleitet. Sie habe ihre gesamte Planung insbesondere im Hinblick auf ihre künftige Altersversorgung auf den damals gültigen halben Steuersatz gestützt. Eine weitere Verschiebung der Veräußerung sei ihr in Anbetracht der Tatsache, dass sie im Veranlagungszeitraum 2000 das 68. Lebensjahr vollendete, nicht möglich gewesen. Das Vertrauen der Antragstellerin in die bei Einleitung des Nachbesetzungsverfahrens bestehende Rechtslage sei schützenswert. Die abrupte Änderung des Steuertarifs sei unverhältnismäßig. Eine Übergangsregelung sei ungeachtet der Neuregelung des § 34 Abs. 3 EStG ab 2001 von Verfassungs wegen geboten.
Die Antragsteller beantragen sinngemäß, die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1999, soweit die Vollziehung bereits erfolgt ist, im Umfang ihres Revisionsantrags aufzuheben.
Entscheidungsgründe
II. Der Antrag ist abzulehnen. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Bescheides sind nicht erfüllt.
Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 und 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) soll das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen oder die Vollziehung eines bereits vollzogenen Verwaltungsaktes aufheben, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel sind anzunehmen, wenn bei summarischer Prüfung des Verwaltungsaktes neben Umständen, die für die Rechtmäßigkeit sprechen, gewichtige Gründe zu Tage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Tatfragen auslösen. Dies gilt auch für ernstliche Zweifel an der verfassungsrechtlichen Gültigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm (ständige Rspr.; vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 6. März 2003 XI B 76/02, BFHE 202, 147, BStBl II 2003, 523).
1. Der erkennende Senat hat keine ernstlichen Zweifel, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen grundsätzlich berechtigt war, für künftige Veranlagungszeiträume die überschießend begünstigende Tendenz des sog. halben Steuersatzes gemäß § 34 EStG in der bis 1998 geltenden Fassung durch eine neue Tarifgestaltung zu ersetzen. Dementsprechend hat er mit Beschluss vom 27. August 2002 XI B 94/02 (BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18) entschieden, dass das rückwirkende In-Kraft-Treten des § 34 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG 1999/2000/2002) zum 1. Januar 1999 jedenfalls insoweit in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit unbedenklich ist, als hiervon Entschädigungen gemäß § 34 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 24 Nr. 1 EStG erfasst werden, die zu einem Zeitpunkt vereinbart wurden, in dem die beabsichtigte Gesetzesänderung bekannt war. Für Veräußerungsgewinne i.S. des § 34 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 18 EStG gilt nichts anderes (vgl. auch BFH-Beschlüsse vom 10. Juli 2002 XI B 68/02, BFHE 201, 14, BStBl II 2003, 341; vom 9. Dezember 2002 X B 28/02, BFH/NV 2003, 471). Der im Streitfall den Veräußerungsgewinn auslösende Vertrag über die Praxisveräußerung wurde nach Einleitung des Nachbesetzungsverfahrens Anfang 1999 erst mit Wirkung zum 31. Dezember 1999 geschlossen. Weder bei Einleitung des Nachbesetzungsverfahrens noch bei Veräußerung konnte die Antragstellerin darauf vertrauen, in den Genuss des sog. halben Steuersatzes zu kommen. Mit der Zuleitung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung zum StEntlG 1999/2000/2002 an den Bundesrat am 20. November 1998 musste sie mit einer Änderung des seinerzeit geltenden Steuertarifs für außerordentliche Einkünfte rechnen (vgl. zum Ankündigungseffekt z.B. BVerfG-Beschluss vom 3. Dezember 1997 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67, Finanz-Rundschau 1998, 377).
Aus dem Beschluss des erkennenden Senats vom 6. November 2002 XI R 42/01 (BFHE 200, 560, BStBl II 2003, 257) ergibt sich bei summarischer Prüfung nichts anderes. Zwar hat die Antragstellerin möglicherweise im Hinblick auf die Übergangsregelung in § 52 Abs. 24 a EStG i.d.F. des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform die nach dem Gesundheitsstrukturgesetz praktisch notwendig gewordene vorzeitige Veräußerung ihrer Praxis hinausgeschoben. Sie hat aber nicht im Sinne des Beschlusses in BFHE 200, 560, BStBl II 2003, 257 bereits vor Zuleitung des Gesetzentwurfs zum StEntlG 1999/2000/2002 an den Bundesrat "disponiert". Ein Unterlassen ―hier einer früheren Veräußerung― im Vertrauen auf die Fortgeltung einer Gesetzeslage ist bei summarischer Prüfung nicht geschützt (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse in BFHE 201, 14, BStBl II 2003, 341, und BFH/NV 2003, 471).
Die Besonderheiten des Streitfalles, wonach die Antragstellerin ihre Kassenarztzulassung spätestens im Veranlagungszeitraum 2000 zurückgeben musste, rechtfertigen im Rahmen der hier gebotenen summarischen Überprüfung keine andere Entscheidung. Die Höhe der Steuer ist grundsätzlich unabhängig davon, ob der Besteuerungstatbestand freiwillig oder aufgrund äußerer oder rechtlicher Zwänge verwirklicht wird.
2. Der erkennende Senat hat ferner entschieden (Beschluss in BFHE 201, 14, BStBl II 2003, 341), dass ein Verstoß der für die Veranlagungszeiträume 1999 und 2000 geltenden Regelung des § 34 Abs. 1 EStG gegen Art. 3 i.V.m. Art. 20 des Grundgesetzes auch im Hinblick auf die Neuregelung des § 34 Abs. 3 EStG i.d.F. des Steuersenkungsergänzungsgesetzes nicht ernstlich in Betracht zu ziehen sei. Dem hat sich der X. Senat des BFH im Beschluss in BFH/NV 2003, 471 angeschlossen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die genannten Beschlüsse Bezug genommen.
Fundstellen
Haufe-Index 1116679 |
BFH/NV 2004, 482 |