Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Gegenüberstellung abstrakter Rechtssätze bei der Divergenzrüge; Frage der Überraschungsentscheidung erfordert Würdigung des gesamten Akteninhalts
Leitsatz (NV)
- Die Divergenzrüge greift nicht durch, wenn sich der als von einer BFH-Entscheidung als divergierend herausgestellte Rechtssatz dem angefochtenen FG-Urteil nicht entnehmen lässt.
- Auch wenn sich der Sitzungsniederschrift nicht entnehmen lässt, dass vom FG seinem Urteil zu Grunde gelegte Gesichtspunkte erörtert wurden, liegt gleichwohl keine unzulässige Überraschungsentscheidung vor, wenn diese Gesichtspunkte in den im Einspruchs- und Klageverfahren eingereichten Schriftsätzen zumindest sinngemäß vorgetragen worden sind.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 2-3, Abs. 3 S. 3
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Zur Divergenzrüge
Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt ―FA―) meint, das angefochtene Urteil des Finanzgerichts (FG) weiche von dem Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 25. Februar 1993 V B 84/92 (BFH/NV 1994, 422) ab. Nach der vom BFH in diesem Beschluss vertretenen Auffassung sei der Grundsatz von Treu und Glauben dann anwendbar, wenn das Verhalten des FA ursächlich für das Vertrauen des Steuerpflichtigen und dessen darauf beruhendes Tun bzw. Nichttun sei.
Demgegenüber gehe das FG davon aus, für den Grundsatz von Treu und Glauben komme es zwar darauf an, dass das Verhalten des einen Teils ursächlich für das Verhalten des anderen sei. Es sei jedoch unbeachtlich, ob das aufgrund des Vertrauens erfolgte Tun oder Nichttun auch ohne das entsprechende Verhalten des anderen Beteiligten erfolgt sei. Dass das FG diese Auffassung vertrete, werde dadurch deutlich, dass es den Grundsatz von Treu und Glauben im Streitfall für anwendbar halte, obgleich aus der Aktenlage eindeutig ersichtlich sei, dass der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) die für einen fristgerechten Investitionszulagenantrag erforderliche Einzelpreisaufstellung für die geleasten Wirtschaftsgüter wegen der Kürze der Zeit nicht mehr innerhalb der Antragsfrist hätte beschaffen können. Deshalb fehle es an der Ursächlichkeit des Vertrauens des Klägers für die nicht fristgerechte Einreichung der Unterlagen.
Das FA verkennt, dass sich der von ihm als von dem genannten BFH-Beschluss divergierend herausgestellte Rechtssatz dem angefochtenen FG-Urteil nicht entnehmen lässt. Das FG geht vielmehr unter Anführung von Entscheidungen des BFH und Meinungsäußerungen im Schrifttum davon aus, im Steuerrechtsverhältnis habe jeder auf die berechtigten Belange des anderen angemessen Rücksicht zu nehmen und dürfe sich nicht mit seinem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch setzen, sofern der andere darauf vertraut und aufgrund dessen unwiderrufbar disponiert habe. Das FG verlangt somit in Übereinstimmung mit dem vom FA angegebenen Beschluss des BFH für ein geschütztes Vertrauen eine Disposition des Steuerpflichtigen aufgrund seines Vertrauens in das Verhalten des FA, d.h. die Disposition des Steuerpflichtigen muss nach der Auffassung des FG durch das Vertrauen bildende Verhalten des FA kausal verursacht sein. Soweit das FA geltend macht, nach der Aktenlage sei sein, des FA, Verhalten für die vom Kläger versäumte Einreichung von Unterlagen innerhalb der Antragsfrist wegen der in wenigen Tagen ablaufenden Frist nicht ursächlich gewesen, rügt es im Grunde, das FG habe den vom BFH entwickelten Rechtssatz im Streitfall unzutreffend angewandt, ein Vortrag, mit dem eine Divergenz i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht bezeichnet wird (BFH-Beschluss vom 31. August 1995 VIII B 21/93, BFHE 178, 379, BStBl II 1995, 890).
Es kommt hinzu, dass der vom FA angeführte Umstand, der Kläger hätte die fehlende Einzelpreisaufstellung innerhalb der Antragsfrist nicht mehr beschaffen können, von den den Senat bindenden Tatsachenfeststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) nicht umfaßt wird. Außerdem verkennt die Beschwerde, dass das FG-Urteil auf der Annahme beruht, der Kläger habe aufgrund des Verhaltens des FA von einem formell ordnungsgemäßen und fristgerechten Investitionszulagenantrag ausgehen können und ferner darauf vertrauen dürfen, er könne die Einzelpreisaufstellung noch nach Fristablauf einreichen. Das FG geht somit von der Ursächlichkeit des Verhaltens der Sachbearbeiterin auch für die verspätete Vorlage der Einzelpreisaufstellung aus.
2. Zur Verfahrensrüge
Eine hinreichende Bezeichnung des Verfahrensmangels i.S. von § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO ist nur dann gegeben, wenn mit der Beschwerde die Tatsachen angegeben werden, die den gerügten Verfahrensmangel schlüssig ergeben. Schlüssigkeit liegt vor, wenn die vorgetragenen Tatsachen ―ihre Richtigkeit unterstellt― den behaupteten Verfahrensmangel begründen (BFH-Beschluss vom 21. Juni 1996 VIII B 87/95, BFH/NV 1996, 897). Es bestehen bereits Zweifel, ob das FA mit der bloßen Angabe, das FG habe eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es erstmals in seinem Urteil die Anwendbarkeit des Grundsatzes von Treu und Glauben erörtert habe, den geltend gemachten Verfahrensmangel gebührend konkretisiert hat. Die Frage, ob das FA hierzu im Einzelnen auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift und die gewechselten Schriftsätze hätte eingehen sollen, kann hier dahinstehen.
Jedenfalls liegt der gerügte Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung nicht vor. Dem FA ist zuzugeben, dass in der Sitzungsniederschrift und den Schriftsätzen die Frage der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben nicht ausdrücklich erwähnt oder erörtert ist. Gleichwohl war dieser Gesichtspunkt der Sache nach Hauptstreitpunkt des Einspruchs- und Klageverfahrens und wurde von den Beteiligten abgehandelt. Die Beteiligten gingen übereinstimmend davon aus, dass hinsichtlich der noch streitigen Leasinggegenstände die formalen Voraussetzungen für die Investitionszulagenbegünstigung nicht gegeben waren, da der Kläger innerhalb der Antragsfrist keinen Investitionszulagenantrag für die Leasinggegenstände eingereicht habe. Der Kläger machte im Einspruchs- und Klageverfahren geltend, ihm sei gleichwohl Investitionszulage zu gewähren. Denn anlässlich der Überprüfung seines Investitionszulagenantrags durch die Sachbearbeiterin der betriebsnahen Veranlagung des FA in seinem Betrieb am 26. September 1996, somit kurz vor Ende der Antragsfrist, hätte diese ihm verständlich machen müssen, dass er auch hinsichtlich der streitigen Leasinggegenstände umgehend einen Investitionszulagenantrag einreichen und die Einzelpreisaufstellung ggf. nachreichen solle. Der Sachbearbeiterin sei bekannt gewesen, dass die Einzelpreisaufstellung innerhalb der Antragsfrist von ihm nicht beschafft werden könne. Sie habe ihn, den Kläger, nicht korrekt beraten.
Mit diesem Vortrag rügte der Kläger sinngemäß, ihm sei wegen des seiner Meinung nach nicht korrekten Verhaltens der Sachbearbeiterin des FA im Zusammenhang mit der Prüfung seines Antrags trotz Fehlens der formellen Voraussetzungen Investitionszulage für die noch streitigen Wirtschaftsgüter zu gewähren. Er berief sich somit ―wenn auch nicht ausdrücklich― auf Vertrauensschutz und damit auf den Grundsatz von Treu und Glauben. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung, die dann vorliegt, wenn sich das Gericht auf rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte stützt, zu denen sich die Beteiligten bisher nicht geäußert haben und zu denen Stellung zu nehmen keine Veranlassung bestand (Urteil des Senats vom 18. Juni 1997 III R 41/95, BFH/NV 1998, 173), liegt somit nicht vor.
Fundstellen