Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensfehler durch Nichtberücksichtigung einer tatsächlichen Verständigung; beschränkte Aufhebung des FG-Urteils bei objektiver Klagehäufung
Leitsatz (NV)
1. Ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO liegt vor, wenn das FG eine ‐ ausweislich des Gerichtsprotokolls ‐ vor ihm erzielte tatsächliche Verständigung nicht berücksichtigt.
2. Auch im Beschwerdeverfahren kann die Aufhebung eines FG-Urteils auf einen von mehreren in der Form der objektiven Klagehäufung angefochtenen Steuerbescheiden beschränkt werden.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1 S. 1, § 116 Abs. 3 S. 3, Abs. 6
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (Urteil vom 12.12.2002; Aktenzeichen 15 K 3538/00 G,U,F) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) betrieb in den Streitjahren 1995 bis 1997 eine Zoohandlung.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) veranlagte die Klägerin wegen Umsatzsteuer, gesonderter Feststellung des gewerblichen Gewinns und des Gewerbesteuermessbetrags zunächst erklärungsgemäß. Im Anschluss an eine im Jahr 1999 durchgeführte Außenprüfung verwarf das FA die Buchführung der Klägerin als nicht ordnungsgemäß, nahm in allen Streitjahren Zuschätzungen nach § 162 der Abgabenordnung (AO 1977) vor und kürzte die Betriebsausgaben des Jahres 1995. Gegen die geänderten Bescheide über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, die geänderten Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag und die geänderten Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1995 bis 1997 hat die Klägerin nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage erhoben. Ausweislich der Aktenlage verständigten sich Klägerin und FA anlässlich eines Erörterungstermins am 26. September 2002 darauf, ausgehend von den tatsächlichen betrieblichen Verhältnissen sei für 25 v.H. der zugeschätzten Umsätze eine Umsatzsteuer in Höhe von 7 %, für 75 v.H. eine Umsatzsteuer in Höhe von 15 % anzusetzen (Bl. 30 der Akte des Finanzgerichts --FG--).
Das FG wies die Klage ab. Das FA sei zu Zuschätzungen zum Umsatz und gewerblichen Gewinn berechtigt gewesen, weil die Buchführung der Klägerin in den Streitjahren nicht ordnungsgemäß gewesen sei. Zudem seien die Zuschätzungen zum Umsatz und Gewinn weder dem Grunde noch der Höhe nach zu beanstanden. Hinweise auf die tatsächliche Verständigung zwischen den Beteiligten im Erörterungstermin vom 26. September 2002 finden sich in der Entscheidung des FG nicht.
Die Revision wurde nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Beschwerde, mit der die Klägerin Divergenz und Verfahrensmängel rügt. Das FG habe den Sachverhalt nur unzureichend aufgeklärt und im Urteil nicht berücksichtigt, dass im Erörterungstermin Einigkeit zwischen den Beteiligten dahin gehend bestanden habe, dass und wie die Zuschätzungen in 7 %-ige bzw. 15 %-ige Umsätze aufzuteilen seien.
Das FA bestätigt den Vortrag der Klägerin hinsichtlich der Aufteilung der Zuschätzungen in 7 %-ige bzw. 15 %-ige Umsätze. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) seien gegeben, weil ein Verfahrensmangel vorliege.
Entscheidungsgründe
II. 1. Die Beschwerde ist begründet, soweit sie die Umsatzsteuer für die Jahre 1995 bis 1997 betrifft. Sie führt insoweit gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Dessen Urteil ist unter Verstoß gegen den Inhalt der Akten zustande gekommen. Die Klägerin hat diesen Verfahrensmangel in zulässiger --den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO noch genügender-- Weise gerügt.
a) Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten ist nur dann ein Zulassungsgrund, soweit er einen Verfahrensfehler darstellt. Die hierfür vorauszusetzende Verletzung des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO liegt vor, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der schriftlich festgehaltenem Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder wenn eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt geblieben ist. Kein Verfahrensfehler ist dagegen die fehlerhafte Würdigung des Beteiligtenvorbringens oder eines erhobenen Beweises durch das FG (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rz. 80, m.w.N.), es sei denn, das FG hätte falsche Beweisregeln angewendet.
b) Dementsprechend setzt eine schlüssige Rüge eines "Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten" die Darlegung des Beschwerdeführers voraus, dass ein von den Beteiligten vorgetragener oder aus den Akten erkennbarer Sachverhalt vom FG nicht zur Kenntnis genommen worden sei, dass Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung sich dem FG hätten aufdrängen müssen oder dass das FG falsche Beweisregeln bei seiner Ermittlung des Gesamtergebnisses des Verfahrens angewendet habe (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 12. September 1996 X B 76/96, BFH/NV 1997, 246). Der Beschwerdeführer muss grundsätzlich substantiiert darlegen, dass die Vorentscheidung unter Zugrundelegung der dort vertretenen materiell-rechtlichen Auffassung möglicherweise anders getroffen worden wäre, wenn dem FG der Verfahrensfehler nicht unterlaufen wäre.
c) Die Beschwerdebegründung der Klägerin genügt diesen Anforderungen. Sie ist auch in der Sache begründet, denn das FG hat bei seiner Rechtsfindung eine im Rahmen des Erörterungstermins am 26. September 2002 geschlossene tatsächliche Verständigung nicht berücksichtigt. Das FG muss nach seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung heraus entscheiden. Es hat daher auch den Inhalt von vor der Sachentscheidung durchgeführten Erörterungen zum Rechts- und Streitstand zu berücksichtigen. Im Streitfall ist das FG zudem an die zwischen den Beteiligten getroffene tatsächliche Verständigung gebunden, weil sie sich auf die Frage bezieht, welcher Teil der hinzugeschätzten Umsätze mit dem ermäßigten Steuersatz zu besteuern ist. Sie betrifft somit den der Steuerfestsetzung zugrunde zu legenden Sachverhalt und nicht eine reine Rechtsfrage.
Zwar hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung nicht dargelegt, dass das FG-Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruht. Solche Ausführungen waren aber im Streitfall ausnahmsweise entbehrlich, da die Erheblichkeit des Mangels für das angefochtene Urteil auf der Hand liegt. Hätte das FG das Ergebnis der tatsächlichen Verständigung zwischen den Beteiligten im Erörterungstermin vom 26. September 2002 beachtet, hätte es der Klage in Sachen Umsatzsteuer der Jahre 1995 bis 1997 teilweise stattgeben müssen.
d) Dem Senat wäre es in einem nachfolgenden Revisionsverfahren ungeachtet der klaren Aktenlage verwehrt, den vom FG nicht festgestellten Sachverhalt zu ergänzen und seiner Entscheidung die tatsächliche Verständigung vom 26. September 2002 von sich aus zugrunde zu legen (vgl. § 118 Abs. 2 FGO; Gräber/Ruban, a.a.O., § 118 Rz. 41, m.w.N.). Es erscheint deswegen sachgerecht, insoweit das angefochtene Urteil der Vorinstanz gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, damit dieses den Akteninhalt vollständig auswerten und die notwendigen Feststellungen nachholen kann.
2. Die Beschwerde ist allerdings unzulässig, soweit sie die gesonderte Feststellung von Einkünften und den Gewerbesteuermessbetrag für die Jahre 1995 bis 1997 betrifft.
a) Unschlüssig erhoben ist die Rüge der Klägerin, das FG habe den Sachverhalt nur unzureichend aufgeklärt.
Wird die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision darauf gestützt, das FG habe seine Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 76 Abs. 1 FGO) verletzt, bedarf es einer Darstellung der Tatsachen, die den gerügten Verfahrensmangel schlüssig ergeben. Außerdem muss dargelegt werden, inwiefern das angefochtene Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht, es also ohne den Verfahrensmangel --auf der Grundlage der vom FG vertretenen materiell-rechtlichen Auffassung-- möglicherweise anders ausgefallen wäre. Da die Beteiligten auf die Geltendmachung der Rüge eines solchen Verfahrensmangels verzichten können, muss der Beschwerdeführer zudem darlegen, dass er die seiner Ansicht nach unzulängliche Sachaufklärung vor dem FG gerügt hat oder dass ihm eine solche Rüge nicht möglich war (Senatsentscheidung vom 14. Februar 2003 X B 74/02, BFH/NV 2003, 805).
Diesen Anforderungen genügt der pauschale Vorwurf der Klägerin nicht, das Gericht habe die Finanzierung des Kaufpreises für das Mobilheim nicht aufgeklärt und ihre Schwester und ihren Sohn nicht als Zeugen gehört, obwohl es deren schriftlichen Bestätigungen hinsichtlich der Darlehensgewährung an die Klägerin keinen Glauben schenkte. Ihr knapper Vortrag entbehrt jedweder Angabe darüber, welche konkreten Aussagen die beiden Zeugen voraussichtlich gemacht hätten und dass diese Aussagen --auf der Basis der materiell-rechtlichen Auffassung des FG-- zu einer anderen Entscheidung hätten führen können.
b) Ohne Erfolg macht die Klägerin auch geltend, das FG-Urteil weiche vom Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 27. Oktober 1992 VIII R 41/89 (BFHE 170, 1, BStBl II 1993, 569) ab. Sie hat es unterlassen, tragende und abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen FG-Urteil einerseits und der behaupteten Divergenzentscheidung des BFH andererseits herauszuarbeiten und einander gegenüberzustellen, um so eine Abweichung zu verdeutlichen (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 12. Juli 2002 XI B 152/01, BFH/NV 2002, 1484; Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz. 42).
3. Die Aufhebung des FG-Urteils kann auf einen von mehreren in der Form der objektiven Klagehäufung angefochtenen Steuerbescheiden beschränkt werden. Es handelt sich insoweit um einen selbständigen Teil des Streitgegenstandes. Da der einzelne Steuerbescheid mit einer nur gegen ihn gerichteten Klage angefochten werden kann, ist eine vom übrigen Streitgegenstand gesonderte Entscheidung verfahrensrechtlich möglich (BFH-Beschluss vom 27. Juni 1985 I B 23/85, BFHE 144, 133, BStBl II 1985, 605).
Fundstellen
Haufe-Index 1335725 |
BFH/NV 2005, 909 |