Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen Inhalt der Akten; Zeugenentlassung; Überraschungsentscheidung
Leitsatz (NV)
1. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt nicht schon dann vor, wenn das FG das Schreiben eines Dritten anders bewertet als der Kläger.
2. In der Entlassung eines Zeugen ohne Widerspruch des Klägers und ohne Antrag auf erneute Vernehmung liegt der Verzicht auf die Rüge einer auf die Aussage dieses Zeugen bezogenen Verletzung der Sachaufklärungspflicht.
3. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs wegen (abweisender) Überraschungsentscheidung ist nicht hinreichend dargelegt mit dem Verweis auf eine zuvor zu Gunsten des Klägers erfolgte einstweilige Anordnung.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1 S. 1, § 96 Abs. 1 S. 1, § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 3 S. 3, § 155; ZPO § 295; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Hessisches FG (Urteil vom 30.10.2007; Aktenzeichen 13 K 3263/05) |
Tatbestand
I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) einen Anspruch auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen hat wegen eines von ihm geltend gemachten Sanierungsgewinns.
Der Kläger betreibt eine Arztpraxis. Zum Ende des Jahres 2003 beliefen sich seine Gesamtverbindlichkeiten auf annähernd 800 000 €. Sie resultierten aus der Anschaffung des der Praxis dienenden Teileigentums und der Praxiseinrichtung (zusammen rund 580 000 €), aus der Anschaffung privaten Grundvermögens (135 000 €), aus Lieferantenverbindlichkeiten gegenüber einem Labor (ca. 50 000 €) und Überziehungen zweier laufender Konten (ca. 25 000 €). Dem standen nach Angaben des Klägers in Gestalt von Immobilien, Rückkaufwerten aus Kapitallebensversicherungen und Leistungsforderungen Vermögenswerte von insgesamt ca. 560 000 € gegenüber, die sämtlich an die Gläubigerbanken abgetreten oder zu deren Gunsten mit Grundschulden belastet waren.
Nach Bemühungen der Anwältin des Klägers verzichtete die D-Bank auf einen beachtlichen Teil (175 251,03 €) ihrer dem Kläger gewährten und zum 30. September 2004 noch mit ca. 455 000 € valutierenden Kredite, während die A-Bank die Restforderung der D-Bank mittels eines neuen Darlehens ablöste und das Gesamtrisiko übernahm.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) lehnte einen Antrag des Klägers ab, die Steuer nach § 163 der Abgabenordnung (AO) abweichend festzusetzen unter Außerachtlassung des von der D-Bank ausgesprochenen Verzichts als Sanierungsgewinn. Einspruch und Klage blieben erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) entschied, das FA habe den Antrag des Klägers zu Recht abgelehnt. Eine Billigkeitsmaßnahme komme nach dem das Ermessen der Finanzverwaltung lenkenden Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 27. März 2003 IV A 6 -S 2140- 8/03 (BStBl I 2003, 240) nur in Betracht bei Entstehung eines Sanierungsgewinnes, der Sanierungsbedürftig- und -fähigkeit des Unternehmens, sanierungsgeeigneten Maßnahmen und bei Vorliegen einer Sanierungsabsicht der Gläubiger. Nach Durchführung einer Beweisaufnahme verneinte das FG im Streitfall die Sanierungsabsicht. Die D-Bank habe ausschließlich eigennützige Zwecke verfolgt, nämlich die Realisierung ihrer Forderungen in größtmöglicher Höhe und die Trennung von dem Kläger als Kunden, während ihr nach ihrer wirtschaftlichen Interessenlage das weitere wirtschaftliche Schicksal der Arztpraxis gleichgültig gewesen sei.
Mit seiner Beschwerde rügt der Kläger die Verletzung von Verfahrensrecht.
Von einer weiteren Wiedergabe des Tatbestandes sieht der Senat ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist nicht begründet.
Die vom Kläger behaupteten Verfahrensmängel sind nicht festzustellen.
1. Weder hat das FG bei seiner Entscheidung einen Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten begangen, weil es nach den Akten klar feststehende Tatsachen unberücksichtigt gelassen hätte, noch ist ein Verstoß gegen das Gesamtergebnis des Verfahrens zu erkennen. Das vom Kläger so bezeichnete Bestätigungsschreiben der D-Bank vom 9. November 2005 ist vom FG nicht übergangen worden, sondern war ausdrücklich Gegenstand der Vernehmung der Zeugin Frau B. und der Urteilsgründe (dort Bl. 9). Dass das FG diesem Schreiben eine andere Bedeutung beigemessen und es anders gewürdigt hat, als vom Kläger gewünscht, verstößt nicht gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 24. April 2007 VIII B 251/05, BFH/NV 2007, 1521, m.w.N.). Dass das FG gehalten ist, auf den Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage von entscheidungserheblicher Bedeutung einzugehen (so das vom Kläger zitierte BFH-Urteil vom 5. September 2001 I R 101/99, BFH/NV 2002, 493), heißt nicht, dass es im Rahmen seiner freien Überzeugungsbildung auch der Sachverhaltsdeutung dieser Partei folgen müsste.
2. Die vom Kläger behauptete unzulängliche oder unzutreffende Beweiswürdigung stellt grundsätzlich keinen Verfahrensfehler dar. Die Grundsätze der Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzuordnen (BFH-Beschluss vom 17. Januar 2006 VIII B 172/05, BFH/NV 2006, 799, m.w.N.) und deshalb der Prüfung des BFH im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde entzogen (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 82, m.w.N.). Einwendungen gegen die materielle Richtigkeit des angefochtenen Urteils führen deshalb nicht zur Zulassung der Revision (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 30. Oktober 2007 VIII B 153/06, BFH/NV 2008, 389; vom 28. April 2003 VIII B 260/02, BFH/NV 2003, 1336; vom 23. Juni 2003 IX B 119/02, BFH/NV 2003, 1289). Auch eine (vermeintlich) unzutreffende Beweiswürdigung gehört revisionsrechtlich zum materiellen Recht, dessen Verletzung grundsätzlich erst im Rahmen einer zugelassenen Revision zu prüfen ist (vgl. BFH-Beschluss vom 16. August 2007 VIII B 210/06, BFH/NV 2007, 2286).
3. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Vorwurf ungenügender Sachverhaltsaufklärung sachlich berechtigt ist; das gilt auch angesichts des Umstandes, dass der ursprünglich als Zeuge vorgesehene Herr R. dem Gericht gegenüber erklärt hatte, Frau B. könne zum Beweisthema mindestens ebenso gut aussagen wie er. Denn jedenfalls könnte auch ein ordnungsgemäß dargelegter etwaiger Verfahrensmangel nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden. Er beträfe eine Verfahrensvorschrift (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO), auf deren Beachtung verzichtet werden kann (§ 295 der Zivilprozessordnung --ZPO-- i.V.m. § 155 FGO; vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 17. März 2000 VII B 1/00, BFH/NV 2000, 1125) und tatsächlich auch verzichtet wurde. Das Rügerecht ist durch das Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge vor dem FG verloren gegangen (ständige Rechtsprechung, vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 103, m.w.N.). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem FG ausweislich der Sitzungsniederschrift weder Beweisanträge gestellt noch rechtzeitig eine vermeintlich mangelhafte Sachaufklärung gerügt. Insbesondere hat er sich auch nicht gegen eine Entlassung der Zeugin P. ausgesprochen oder ihre erneute Vernehmung beantragt, während er nunmehr behauptet, es sei ihm die Möglichkeit abgeschnitten worden, Frau P. der im weiteren Verlauf der Beweisaufnahme vernommenen Zeugin B. gegenüberzustellen.
4. Der Kläger macht des Weiteren geltend, das Urteil des FG trage "Züge einer Überraschungsentscheidung". Angesichts dieser Formulierung ist bereits unklar und fraglich, ob er damit die Verletzung des rechtlichen Gehörs rügen will. Auch im Übrigen fehlt es insoweit an einer hinreichenden Darlegung des Zulassungsgrundes eines Verfahrensmangels i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO. Mit dem Vortrag, das FG sei überraschend vom Gegenteil dessen ausgegangen, was es im vorausgegangenen Beschluss über eine einstweilige Anordnung noch als "nachvollziehbar" bezeichnet habe, kann er nicht durchdringen, da es sich insoweit nur um eine rechtliche Erstbeurteilung im Rahmen eines Eilverfahrens wegen vorläufigen Rechtsschutzes handelte, das seiner Natur nach keine Bindungswirkung für die nachfolgende Entscheidung im Hauptsacheverfahren entfalten kann. Angesichts der erst danach durchgeführten umfangreichen Beweiserhebung durch Zeugenvernehmungen musste dies auch dem Kläger und seinen fachkundigen Vertretern klar sein. Nichts anderes folgt aus den vom Kläger in diesem Zusammenhang angeführten Entscheidungen des BFH (Urteil vom 31. Juli 1990 I R 173/83, BFHE 162, 236, BStBl II 1991, 66; Beschluss vom 28. Juli 2004 IX B 136/03, BFH/NV 2005, 43), in denen es (auch) um die Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Rüge der Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) wegen Nichterhebung von Beweisen ging. Denn insoweit erklärt der Kläger sinngemäß nur, dass er wegen der überraschenden Entscheidung die Nichtberücksichtigung der "Beweisurkunde" in der mündlichen Verhandlung nicht habe rügen können. Tatsächlich war aber das betreffende Schriftstück bereits in das Verfahren eingeführt und ist auch berücksichtigt worden (s.o. zu 1.).
Fundstellen