Entscheidungsstichwort (Thema)
Kostenentscheidung zu Lasten des FA bei dessen ermessensfehlerhafter Weigerung, das Verfahren bei Vorliegen von Musterverfahren ruhen zu lassen
Leitsatz (amtlich)
Bei einer Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache aufgrund übereinstimmender Erklärungen der Beteiligten können dem FA die Kosten des Verfahrens auferlegt werden, wenn es einen wegen Vorliegen von Musterverfahren sachgemäßen Antrag des Klägers auf Ruhen des Verfahrens ablehnt. Die volle Kostenlast kann in einem solchen Fall auch dann billigem Ermessen entsprechen, wenn das BVerfG eine verfassungswidrige Norm weiterhin für anwendbar erklärt hat und der Kläger deshalb nicht obsiegen kann.
Normenkette
AO 1977 § 363; FGO § 138 Abs. 1
Verfahrensgang
Niedersächsisches FG (Entscheidung vom 06.10.1989; Aktenzeichen VIII 366/89) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hatte Einspruch gegen den Bescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich für 1988 eingelegt. Dabei machte er geltend, der Grundfreibetrag (§ 32a des Einkommensteuergesetzes ―EStG― in der damaligen Fassung) sei der Höhe nach verfassungswidrig. Zugleich beantragte der Kläger, das Einspruchsverfahren ruhen zu lassen. Zur Begründung wies er im Wesentlichen darauf hin, dass beim Bundesfinanzhof (BFH) bereits ein Revisionsverfahren zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages für die Kalenderjahre ab 1986 anhängig sei. Es sei prozessökonomisch, das Rechtsbehelfsverfahren ruhen zu lassen, um eine Klageflut in sog. Massenverfahren zu vermeiden. Es entspreche gängiger Praxis, dass die Finanzämter bei für die Steuerpflichtigen günstigen finanzgerichtlichen Urteilen mit Breitenwirkung die Einspruchsverfahren ruhen ließen, falls der BFH über die Rechtsproblematik noch zu entscheiden habe. Dieses sei ein akzeptables Verfahren, das aber auch im umgekehrten Fall aus Respekt für die rechtlichen Interessen des Bürgers gelten müsse.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) lehnte es ab, das Rechtsbehelfsverfahren ruhen zu lassen und wies den Einspruch des Klägers mit Einspruchsentscheidung vom 21. Juni 1989 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte das FA unter Hinweis auf das Urteil des Finanzgerichts (FG) Köln vom 14. Juli 1988 5 K 424/88 (Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 1988, 581) u.a. aus, der Grundfreibetrag sei nicht verfassungswidrig. Da die Erfolgsaussichten für den Kläger als gering einzuschätzen seien, komme ein Ruhen des Verfahrens gemäß § 363 Abs. 2 der Abgabenordnung ―AO 1977― (in der bis Ende 1995 geltenden Fassung) nicht in Betracht.
Im anschließenden Klageverfahren beantragte der Kläger erneut, das Verfahren im Hinblick auf ein beim BFH anhängiges Musterverfahren sowie die zahlreichen beim FG anhängigen Parallelverfahren ruhen zu lassen.
Zur mündlichen Verhandlung am 6. Oktober 1989 terminierte das FG die Streitsache und eine Vielzahl von Sachen (rd. 70), in denen es gleichfalls um die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages ging und in denen der Prozessbevollmächtigte des Klägers ebenfalls beauftragt war. Auf die Ladung des FG wiederholte der Prozessbevollmächtigte seinen Ruhensantrag. Er wies abermals darauf hin, dass der BFH andernfalls mit einer Fülle von Revisionen überschwemmt werde. Zugleich wies er auf zwei Musterverfahren hin, in denen er als Beauftragter für die betreffenden Kläger die Rechtmäßigkeit des Grundfreibetrages überprüfen lasse.
Nachdem das FA weiterhin einem Ruhen des Verfahrens nicht zustimmte, wies das FG die Klage ―wie auch in den übrigen Parallelverfahren― als unbegründet ab. In sämtlichen Streitsachen wurden die Revisionen wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Im Streitfall machte der Kläger mit seiner Revision zunächst die Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrages geltend. Später berief er sich auch darauf, der Kinderfreibetrag gemäß § 32 EStG (in der im Streitjahr geltenden Fassung) sei der Höhe nach verfassungswidrig. Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 25. September 1992 2 BvL 5, 8, 14/91 (BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413) den Grundfreibetrag u.a. auch für das Streitjahr zwar für verfassungswidrig, aber trotzdem für weiter anwendbar erklärt und der Kläger nach den Vorgaben des Beschlusses des BVerfG vom 10. November 1998 2 BvL 42/93 (BVerfGE 99, 246, BStBl II 1999, 174) nicht mit einem nachgebesserten Kinderfreibetrag zu rechnen hatte, erklärten beide Beteiligten übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Sie beantragen nunmehr jeweils, die Kosten des Verfahrens der anderen Partei aufzuerlegen.
Entscheidungsgründe
II.1. Der Rechtsstreit ist aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten in der Hauptsache erledigt. Damit wird die Vorentscheidung einschließlich der Kostenentscheidung wirkungslos. Der Senat hat nur noch über die Kosten des gesamten Verfahrens zu entscheiden.
2. Gemäß § 138 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Entscheidung über die Kosten nach billigem Ermessen zu treffen; dabei ist der bisherige Sach- und Streitstand zu berücksichtigen.
Die nach billigem Ermessen zu treffende Kostenentscheidung muss sich nicht ausschließlich am Gedanken des materiellen Kostenrechts orientieren, also daran, wer bei einer Entscheidung über die Hauptsache die Kosten zu tragen hätte. Dem Gericht ist vielmehr ein weiter Spielraum eingeräumt, innerhalb dessen eine Ausrichtung am allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden maßgebend ist (ausführlich BFH-Beschluss vom 10. November 1971 I B 14/70, BFHE 104, 39, BStBl II 1972, 222; vgl. auch Brandis in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 138 FGO Tz. 71). Dabei kann auch der Frage Bedeutung zukommen, welcher der Beteiligten Veranlassung zum gerichtlichen Verfahren gegeben hat. Letztlich geht es bei der nach billigem Ermessen zu treffenden Kostenentscheidung darum, dass die streitschlichtende und friedensstiftende Funktion des Gerichtsverfahrens weitestmöglich zum Tragen kommt und dem in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verankerten Gebot eines wirksamen und ausgewogenen Rechtsschutzes insbesondere auch bei verfassungsrechtlichen Streitfragen entsprochen wird, um damit dem Bürger einerseits Schutz vor staatlichen Entscheidungen zu gewähren und andererseits bei ihm die Akzeptanz für staatliche Entscheidungen zu fördern (dazu Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rz. 1 bis 5).
3. Aus dem vorgeschilderten Sachverhalt erschließt sich, dass es billigem Ermessen entspricht, dem FA die Verfahrenskosten aufzuerlegen. Das FA hat durch seine fortdauernde Weigerung, sowohl das Einspruchs- als auch das Klageverfahren ruhen zu lassen, die Inanspruchnahme des Gerichts und damit Kosten veranlasst, die bei einem prozessökonomischen Verfahren vermeidbar gewesen wären. Dass es sich bei der Problematik der Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages um ein Massenproblem mit grundsätzlicher Fragestellung handelte, war dem FA bewusst (vgl. auch Zärban, Steuerrechtsprechung in Karteiform ―StRK―, Finanzgerichtsordnung, § 138, Rechtsspruch 121).
Es ist anerkannt, dass es keine unzulässige Einschränkung des in Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Rechts individueller Prozessführung bedeutet, wenn ein Gericht bei Massenverfahren aus der Vielzahl erhobener Klagen einige Verfahren als Musterprozesse abtrennt und die übrigen Verfahren aussetzt bzw. zum Ruhen bringt (Schmidt-Aßmann, a.a.O., Rz. 268). Dies bedeutet auch umgekehrt, dass es zum Recht individueller Prozessführung eines Bürgers gehört, dass sein Verfahren zum vorübergehenden Stillstand gebracht wird, wenn bereits Musterprozesse anhängig sind bzw. anhängig gemacht werden sollen; dies gilt jedenfalls dann, wenn das Begehren auf Ruhen oder Aussetzung des Verfahrens nicht von sachwidrigen Motiven getragen ist. Dass die Anträge des Prozessbevollmächtigten des Klägers auf Ruhen des Verfahrens von sachfremden Motiven bestimmt gewesen sein könnten, ist nicht erkennbar.
4. Die Entscheidung des Senats wird überdies von folgenden Erwägungen bestimmt: Aus prozessökonomischen Gründen hat der Gesetzgeber bei Vorliegen von Massenverfahren (wie hier) für alle am 31. Dezember 1993 anhängigen Verfahren durch Neuregelung des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 reagiert; durch die Möglichkeit vorläufiger Steuerfestsetzungen hat der Gesetzgeber den Druck von den Steuerpflichtigen genommen, durch Rechtsbehelfe ihre Fälle offen zu halten, um in den Genuss einer für sie günstigen Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), des BVerfG oder u.a. des BFH zu kommen (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977; Art. 97 § 1 Abs. 4 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung ―EGAO 1977―). Durch Art. 4 Nr. 9 des Grenzpendlergesetzes (GrenzPG) vom 24. Juni 1994 (BGBl I 1994, 1395, BStBl I 1994, 440) hat der Gesetzgeber überdies durch die zum 1. Januar 1996 in Kraft tretende Neuregelung des § 363 Abs. 2 AO 1977 (zum In-Kraft-Treten siehe Art. 11 GrenzPG) für Fälle der vorliegenden Art Verfahrensvorschriften zum Ruhen des Verfahrens geschaffen, um dadurch eine unnötige Belastung der Finanzbehörden und der FG zu vermeiden. Sinn und Zweck dieser Regelungen für das Ruhen des Einspruchsverfahrens bestehen darin, aus Gründen der Verfahrensökonomie eine für die Einspruchsentscheidung erhebliche Entscheidung eines obersten Gerichts abzuwarten.
5. Die (wiederholten) Anträge des Klägers auf Ruhen des Verfahrens entsprachen diesen gesetzgeberischen Anliegen. Es hätte pflichtgemäßer Ermessenausübung seitens des FA entsprochen, diesen Anträgen zuzustimmen. Dabei lässt der Senat dahingestellt, ob die Weigerung des FA als schuldhaft i.S. des § 137 FGO zu werten ist. Im Rahmen der Billigkeitsentscheidung gemäß § 138 Abs. 1 FGO ist zwar auch § 137 FGO zu beachten, so dass bei einem schuldhaften Prozessverhalten eines der Beteiligten die Billigkeitsentscheidung dahin getroffen werden kann, diesem Beteiligten die Kosten des Gerichtsverfahrens aufzuerlegen. Aber auch unterhalb der Verschuldensschwelle des § 137 Satz 2 FGO können einem Beteiligten die Kosten des Gerichtsverfahrens auferlegt werden, wenn diese Kosten durch sein Verhalten veranlasst (nicht unbedingt verschuldet) worden sind (BFH-Beschluss in BFHE 104, 39, BStBl II 1972, 222).
6. Der Senat verkennt nicht, dass der Kläger in der Sache letztlich keinen Erfolg gehabt hätte. Im Rahmen der hier anzustellenden Billigkeitserwägungen misst der Senat diesem Umstand jedoch keine nennenswerte Bedeutung zu (vgl. auch Balke, Betriebs-Berater 1995, 762, m.w.N.). Insoweit ist für den Senat auch von Gewicht, das es für den rechtsuchenden Bürger letztlich nicht vorhersehbar ist, ob das BVerfG eine verfassungswidrige Norm für nichtig oder (nur) für mit dem GG unvereinbar erklärt bzw. ob und ggf. in welcher Weise diese Erklärung mit einer Anwendungssperre ―ggf. unter Gewährung von Übergangsfristen― versehen wird (vgl. hierzu Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Aufl., § 22 Rz. 285 ff.; Drüen, Finanz-Rundschau 2001, 289 ff.; Seer, Steuer und Wirtschaft 2001, 3, 14 ff.). Im Übrigen waren auch die Anträge des Klägers der Höhe nach sachgerecht. Es erscheint daher ―sofern man nicht allein auf die Veranlassung durch das FA abstellen wollte― geboten, den Rechtsgedanken des § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO im Rahmen der vorliegenden Kostenentscheidung heranzuziehen (vgl. Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl. § 138 Rz. 30, m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 939370 |
BFH/NV 2003, 1010 |
BStBl II 2003, 719 |
BFHE 1974, 49 |
BFHE 2004, 49 |
BFHE 202, 49 |
BB 2003, 1322 |
DB 2003, 1367 |
DStRE 2003, 760 |
HFR 2003, 886 |