Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Das Finanzgericht ist im Berufungsverfahren gegen Steuerbescheide, denen eine Verbrauchsbesteuerung nach § 48 EStG zugrunde liegt, berechtigt, sein Ermessen an Stelle des Ermessens des Finanzamts auch dann zu setzen, wenn sich die Entscheidung des Finanzamts im Rahmen der vom Gesetzgeber aufgestellten Ermessensgrenzen hält.
Die Verbrauchsbesteuerung dient nicht dazu, im Interesse einer Vereinfachung der Besteuerung eine schwierige Ermittlung des Einkommens zu ersetzen. Sie setzt die Feststellung voraus, daß der Verbrauch um mindestens die Hälfte höher ist als das Einkommen.
Soweit ein Verlust im Rahmen des § 33 EStG bei der Veranlagung berücksichtigt werden kann, sind die Voraussetzungen des Verlustabzuges nach § 10 Absatz 1 Ziffer 4 EStG 1950 für die folgenden Veranlagungszeiträume nicht gegeben.
Normenkette
EStG §§ 48, 10 Abs. 1 Ziff. 4, §§ 10d, 33; AO §§ 261, 263; FGO § 33
Tatbestand
Der Steuerpflichtige (Stpfl.) ist an einer Lebensmittelgroßhandlung beteiligt, die ursprünglich in Form einer OHG, ab 1. April 1947 in Form einer GmbH betrieben wurde. Auf Grund einer Betriebsnachschau wurde im Einvernehmen mit der GmbH im Wege der Schätzung für 1947 ihr Einkommen von 4.563 RM auf 15.000 RM und für I/48 von einem Verlust von 72.462 RM auf 9.000 RM Einkommen erhöht. Von dem Einkommen entfielen auf den Stpfl. 50 %. Er bezog außerdem als Gesellschafter-Geschäftsführer ab 1. April 1947 ein Monatsgehalt von 500 RM. Er war lange Jahre im Konzentrationslager.
Im gegenwärtigen Verfahren sind die Jahre 1946 und 1947 strittig.
Bei einer Vernehmung durch den Steuerfahndungsdienst gab der Stpfl. an, bis zur Währungsreform etwa 100.000 RM für seinen Lebensunterhalt verbraucht zu haben. Das Geld hierfür habe er in der Hauptsache durch den Verkauf von Familienschmuck erworben. Das Finanzamt zog ihn für 1946 aus einem Verbrauch von 30.000 RM, für 1947 aus einem Verbrauch von 40.000 RM und für I/1948 aus einem Verbrauch von 30.000 RM zur Steuer heran. Der Stpfl. legte Berufung ein. Das Finanzgericht gab ihr teilweise statt und begründete es wie folgt:
Der Stpfl. habe den Schmuck erst im Jahre 1947 ausgehändigt erhalten. Aus welchen Mitteln er im Jahre 1946 seinen Verbrauch bestritten habe, sei zweifelhaft. Möglicherweise habe er Einkünfte gehabt, die der Besteuerung nicht zugeführt worden seien. Der Verbrauch des Stpfl. sei jedoch teilweise in erheblichen Krankheitskosten und Aufwendungen zur Nachforschung nach dem Schicksal seiner Angehörigen und für die Wiederbeschaffung des weggenommenen Hab und Guts begründet. Zur Herbeiführung des Ausgleichs werde nur für 1946 die Verbrauchsbesteuerung beibehalten, für 1947 von ihr aber aus Billigkeitsgründen abgesehen. Außerdem würden die Krankheitskosten, für die allerdings Nachweise fehlten, nach § 48 Absatz 3 Ziffer 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vom Verbrauch abgezogen. Auf diese Weise kam das Finanzgericht für 1946 zu einem Verbrauch von 14.000 RM und einer Einkommensteuer von 3.451,50 RM. Für 1947 nahm es Einkünfte im Gesamtbetrag von 13.247 RM an, die es um 6.408 RM Verlustabzug aus 1946 nach § 10 Absatz 1 Ziffer 4 EStG kürzte. Im Ergebnis kam es zu einer Einkommensteuer von 2.328 RM.
Die Rechtsbeschwerde (Rb.) des Finanzamts-Vorstehers macht geltend, das Finanzgericht habe zu Unrecht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Finanzamts gesetzt. Hierzu sei es nicht berechtigt, da kein Ermessensmißbrauch vorliege. Wie sich aus § 36 des Bayerischen Verwaltungsgerichtsgesetzes ergebe, seien die Gerichte nur dann berechtigt, die Ermessensentscheidungen der Verwaltungsbehörden aufzuheben, wenn von dem Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht werde, insbesondere wenn ein Ermessensmißbrauch vorliege. Diese Voraussetzungen seien aber nicht erfüllt. Der Stpfl. habe nach seinen eigenen Angaben von 1946 bis zur Währungsreform mindestens 100.000 RM verbraucht. Die Herkunft dieses Betrages sei sehr zweifelhaft. Nach den Erfahrungen stamme das Geld wahrscheinlich aus unversteuerten Schwarzhandelsgeschäften. Auch das Finanzgericht nehme an, daß der Stpfl. 1946 vermutlich von nichtversteuerten Einkünften gelebt habe. Die Verbrauchsbesteuerung sei für den Stpfl. sogar günstig, da hier ein niedrigerer Tarif angewandt werde. Das Finanzgericht habe die Grenzen seines Ermessens überschritten. Die Verbrauchsbesteuerung des Finanzamts sei nur als einheitliches Ganzes für die Veranlagungszeiträume 1946, 1947 und I/1948 sinnvoll. Sie sei an Stelle einer in erster Linie in Betracht kommenden Besteuerung von Schwarzhandelsgewinnen getreten. Es liege auch mangelnde Sachaufklärung vor, da das Finanzgericht die angeblichen Krankheitskosten ohne ausreichende Prüfung anerkannt habe. Bei den Angaben des Stpfl. handele es sich um gewillkürte Zahlen.
Entscheidungsgründe
Die Prüfung der Ausführungen des Finanzamts-Vorstehers ergibt folgendes:
Nach allgemeinem Verwaltungsrecht sind, wie das Finanzamt zutreffend ausführt, Ermessensentscheidungen der Verwaltungsbehörden vor den Verwaltungsgerichten nur insoweit angreifbar, als behauptet wird, daß die Verwaltungsbehörden die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht haben (so § 23 der Verordnung Nr. 165 über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone; im Grundgedanken gleichartig § 36 der Verwaltungsgerichtsgesetze für Bayern, Bremen, Hessen und Württemberg-Baden). Ermessensüberschreitungen und Ermessensmißbrauch sind hiernach Rechtsverletzungen (s. auch Finanzrundschau 1951 S. 2). Für die Zuständigkeit der Gerichte bei Ermessensüberschreitungen ist auch Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes (GG) von Bedeutung, der bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Hand stets die Möglichkeit der gerichtlichen Nachprüfung gewährt. Ermessensentscheidungen kommen dann in Frage, wenn das Gesetz beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Entscheidung innerhalb eines bestimmten Rahmens dem Ermessen der Verwaltungsbehörden überläßt. Sie sind dort nicht gegeben, wo die Entscheidung sich auf eine Rechtsnorm stützt, die für einen bestimmten fest umrissenen Tatbestand geschaffen worden ist. Im einzelnen s. Riewald Reichsabgabenordnung (AO) S. 30 ff. Mit Rücksicht auf die Vielgestaltigkeit der Verhältnisse, bei denen auch die Lage der öffentlichen Hand eine Rolle spielen kann, wird es vielfach der pflichtgemäßen Würdigung der Verwaltungsbehörden übertragen, innerhalb bestimmter vom Gesetzgeber aufgestellter Grenzen (Ermessensgrenzen) zu entscheiden. Im Steuerrecht stellen z. B. die Stundung und der Erlaß von Steuern Ermessensentscheidungen dar. Die Finanzverwaltungsbehörden können stunden, können Steuern erlassen. Das Rechtsmittel gegen Ermessensentscheidungen ist zunächst die Verwaltungsbeschwerde an die vorgesetzte Dienststelle. Diese ist berechtigt, in vollem Umfang die Entscheidung der untergeordneten Behörde zu würdigen. Sie kann ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens der Vorentscheidung setzen. Eine Zuständigkeit der Gerichte kommt nach den oben mitgeteilten Gesetzen nur in begrenztem Umfange in Frage, nämlich hinsichtlich der Einhaltung der Ermessensgrenzen. Diese Fälle haben die Ausführungen der Rb. des Finanzamts-Vorstehers zum Gegenstand.
Die Steuerbescheide sind jedoch keine Ermessensentscheidungen. Im allgemeinen hat hier der Gesetzgeber die Steuern an einen fest umrissenen Tatbestand geknüpft. § 3 Absatz 1 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG): Die Steuerschuld entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Steuer knüpft. Die Steuerschuld ist im Berufungsverfahren angreifbar, bei dem das Finanzgericht in vollem Umfang an die Stelle des Finanzamts tritt. Der Gesetzgeber hat nun in Sonderfällen in die Steuerfestsetzung auch Ermessensfragen eingeschaltet, so bei der Verbrauchsbesteuerung des § 48 EStG. Da die Steuerfestsetzung in einem einheitlichen Verfahren vorgenommen wird, hat hier der Gesetzgeber auch die Nachprüfung der Ermessensfragen in vollem Umfange dem Finanzgericht übertragen. Gegen den Steuerbescheid und den Einspruchsbescheid steht dem Stpfl. lediglich die Berufung zu (§§ 261, 263 AO). Es gibt hier kein gesondertes Beschwerdeverfahren für die Ermessensfragen vor den Verwaltungsbehörden. Im Interesse der Vereinfachung erfolgt die Nachprüfung der Entscheidung des Finanzamts in einem einheitlichen Verfahren, das auch die volle Nachprüfung der Ermessensfragen in sich schließt. Das Finanzgericht kann deshalb im Veranlagungsverfahren sein Ermessen an die Stelle der Vorentscheidung setzen, wenn es bei seiner Würdigung von dem Ermessen des Finanzamts abweicht. Die allgemeine Beschränkung der Gerichte auf die Nachprüfung der Einhaltung der Ermessensgrenzen tritt gemäß - 297 AO im Rechtsbeschwerdeverfahren wieder zutage. Das Finanzgericht ist bei Ausübung seines Ermessens in gleicher Weise wie das Finanzamt an die Ermessensgrenzen gebunden. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Durchführung der Verbrauchsbesteuerung, wie hinsichtlich ihrer Unterlassung. Finanzamt und Finanzgericht dürfen sie nicht durchführen, wenn sie offensichtlich unbillig ist (s. im einzelnen Blümich, Kommentar zum EStG 5. Aufl. S. 871). Die Verbrauchsbesteuerung darf aber auch nicht unterbleiben, wenn ein hoher Aufwand ausschließlich die Folge verschwenderischer Lebensführung ist und sich hierin eine besonders hohe steuerliche Leistungsfähigkeit zeigt.
Im vorliegenden Falle lassen die Unterlagen nicht erkennen, daß die Entscheidung des Finanzgerichts von einer rechtsirrigen Auffassung über die Grenzen des Ermessens beeinflußt ist. Zwischen dem Finanzamt und dem Finanzgericht bestehen Meinungsverschiedenheiten über tatsächliche Vorgänge, die zu der verschiedenartigen Behandlung des Streitfalles geführt haben.
Trotzdem kann der Vorentscheidung nicht beigepflichtet werden. Die Vorentscheidung, wie bereits der Steuerbescheid des Finanzamts, gehen von der rechtsirrigen Auffassung aus, es sei in das Ermessen der Finanzbehörden gestellt, an Stelle der Besteuerung des Einkommens eine Verbrauchsbesteuerung durchzuführen, wenn die Ermittlung der steuerpflichtigen Einkünfte schwierig und ggf. lediglich im Wege der Schätzung möglich sei. Die Verbrauchsbesteuerung dient nach dieser Auffassung auch dazu, eine verwaltungsmäßig schwierige Schätzung zu vermeiden.
Die Verbrauchsbesteuerung setzt u. a. voraus, daß der Verbrauch um mindestens die Hälfte höher ist als das Einkommen. Es muß deshalb das steuerpflichtige Einkommen in seiner ungefähren Höhe festgestellt werden. Im vorliegenden Falle waren sowohl Finanzamt wie Finanzgericht der Auffassung, daß der Stpfl. in erheblichem Umfang Schwarzmarktgeschäfte getätigt und hieraus einen wesentlichen Teil seines Verbrauches bestritten habe. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, die steuerpflichtigen Einkünfte zu ermitteln, ggf. zu schätzen und erst dann eine Verbrauchsbesteuerung durchzuführen, wenn sie bei dieser Schätzung zu einem gegenüber dem Verbrauch wesentlich niedrigeren Ergebnis gekommen wären. Die Verbrauchsbesteuerung soll zu einer höheren Steuer führen. Die Vorentscheidung wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Behandlung an das Finanzgericht zurückverwiesen.
Das Finanzamt macht auch mangelnde Sachaufklärung geltend. Auf Grund der Zurückverweisung besteht die Möglichkeit, die Unterlagen ggf. noch zu ergänzen.
Das Finanzgericht hat bei der Veranlagung 1947 einen Verlustabzug in Höhe von 6.408 RM aus 1946 zugelassen. Die Rb. des Finanzamts-Vorstehers wendet hiergegen ein, der Verlust hätte nach der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs ggf. im Wege der außergewöhnlichen Belastung (ß 33 EStG) bei der Verbrauchsbesteuerung berücksichtigt werden können (Entscheidungen des Reichsfinanzhofs VI A 341/27 vom 7. Dezember 1927, Reichssteuerblatt - RStBl - 1928 S. 60; VI A 42/30 vom 10. Juni 1931, RStBl 1931 S. 812).
Die Rb. ist auch in diesem Punkte begründet. Der Verlustabzug setzt voraus, daß der Verlust im Verlustjahr nicht mit steuerpflichtigen Einkünften bei der Berechnung des Gesamtbetrages der Einkünfte ausgeglichen werden kann. Es trifft zu, daß bei der Verbrauchsbesteuerung ein Ausgleich im Sinne des Einkommensteuergesetzes deshalb nicht vorgenommen werden kann, da hier eine Berechnung des Gesamtbetrages der Einkünfte nach § 2 Absatz 2 EStG nicht erfolgt. Es besteht aber die Möglichkeit, dem Verlust im Rahmen des § 33 EStG Rechnung zu tragen (s. auch Entscheidung des Reichsfinanzhofs VI A 159/32 vom 16. März 1932, RStBl 1932 S. 516). Es widerspricht dem Wesen des Verlustabzuges, die Beträge, die im Verlustjahr bereits bei der Festsetzung der Einkommensteuer berücksichtigt werden können, auf spätere Jahre zu übertragen. Im übrigen setzt der Verlustabzug voraus, daß der Verlust das Ergebnis der gesamten gewerblichen Tätigkeit des Stpfl. war und auf Grund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt worden ist (s. auch Entscheidung des Obersten Finanzgerichtshofs IV 69/50 vom 4. August 1950, Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen 1950 S. 547).
Fundstellen
Haufe-Index 407188 |
BStBl III 1951, 55 |
BFHE 1952, 141 |
BFHE 55, 141 |