Leitsatz (amtlich)
1. Auswirkung der rückwirkenden Verminderung der Einkommensteuer auf die Vermögensteuer.
2. Vermögensteuerliche Behandlung der nachträglichen Herabsetzung der Einkommensteuerschuld infolge rückwirkender Änderung des EStG als Erstattungsanspruch.
Normenkette
VStG § 7; BewG 1934 § 67 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) hatte in ihrer als vorläufig bezeichneten Vermögenserklärung vom 12. Juni 1961 auf den 1. Januar 1960 u. a. Schulden einer Erbengemeinschaft angegeben, an der die mit ihr zusammen veranlagte Tochter zu 3/8 als Miterbin beteiligt war. Unter diesen Schulden war eine anteilige Einkommensteuerschuld für 1958 des Erblassers enthalten, die durch einen vorläufigen Einkommensteuerbescheid festgesetzt worden war und im Jahr 1960 bezahlt wurde. Der Beklagte und Revisionskläger (FA) führte durch Bescheid vom 29. September 1961 eine im vollen Umfang vorläufige Vermögensteuerveranlagung 1960 durch, bei der die in der vorläufigen Vermögenserklärung der Klägerin angegebenen Beträge angesetzt wurden. Der Vertreter der Klägerin teilte dem FA durch Schreiben vom 25. März 1966 mit, daß sich bei der endgültigen Einkommensteuerveranlagung 1958 des Erblassers durch einen Bescheid des zuständigen FA vom 30. Juni 1965 insgesamt eine Einkommensteuererstattung ergeben habe. Diese Erstattung beruhe darauf, daß nach der Neufassung des § 17 EStG in dem StÄndG 1965 für die Ermittlung einer Beteiligung die Anteile von Angehörigen nicht mehr zusammenzurechnen gewesen seien und diese Neufassung nach § 52 Abs. 17 letzter Satz EStG 1965 in noch nicht rechtskräftig veranlagten Fällen rückwirkend auch auf Veräußerungen anzuwenden sei, die vor dem 1. Januar 1965 vorgenommen worden seien. Das FA setzte bei der endgültigen Vermögensteuerveranlagung 1960 durch Bescheid vom 5. Februar 1971 den Erstattungsanspruch in Höhe von 3/8 als Besitzposten i. S. des § 7 VStG i. V. m. § 67 Abs. 1 BewG 1934 an. Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Dagegen gab das FG der Klage statt. Es nahm den Erstattungsanspruch aus dem sonstigen Vermögen heraus und setzte die Vermögensteuerjahresschuld entsprechend herab. Das FG-Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 1974 S. 141 veröffentlicht.
Das FA beantragt mit der Revision (sinngemäß), unter Aufhebung des FG-Urteils die Klage abzuweisen. Es rügt unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts. Die Revision wird im wesentlichen wie folgt begründet: Das FG halte eine Modifizierung des Stichtagsprinzips in Fällen der nachträglichen Herabsetzung von Steuerschulden auf ertragsteuerlichem Gebiet durch rückwirkende Gesetzesänderungen mit der Folge eines geringeren Schuldabzugs bei der Vermögensteuer entgegen der Rechtsprechung des BFH nicht allgemein, sondern nur dann für zulässig, wenn die Herabsetzung der Steuerschuld schon am Stichtag mit hinreichender Sicherheit feststehe. Das FG stütze seine Auffassung, daß diese Voraussetzung nicht vorliege, auf das BFH-Urteil vom 21. Juli 1960 IV 330/57 U (BFHE 71, 429, BStBl III 1960, 409). Der Hinweis auf dieses Urteil genüge jedoch nicht. Die Frage der Verfassungskonformität des § 17 Abs. 1 Satz 2 EStG a. F. sei trotz dieses Urteils weiter bestritten gewesen, wie sich aus dem Schriftlichen Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages (BT) vom 19. März 1965 (BT-Drucksache IV/3189 S. 7) ergebe. Diese Auffassung habe sich auch der Gesetzgeber zu eigen gemacht und demgemäß § 17 im EStG 1965 neu gefaßt. Im übrigen habe die BFH-Entscheidung die Möglichkeit der rückwirkenden Gesetzesänderung nicht berührt. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH komme es zudem im Falle der nachträglichen Änderung von Steuerschulden durch mit rückwirkender Kraft anwendbare Gesetze nicht darauf an, daß der Steuerpflichtige mit der rückwirkenden Änderung habe rechnen können. Auch bezüglich der Vorläufigkeit der Vermögensteuerveranlagung könne dem FG nicht gefolgt werden. Es sei unerheblich, aus welchen Gründen die Veranlagung vorläufig durchgeführt worden sei. Solange eine Veranlagung nicht endgültig vorgenommen sei, müsse der Steuerpflichtige damit rechnen, daß durch eine Reflexwirkung ein für ihn ungünstiges Ergebnis entstehen könne.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Sie hält das FG-Urteil für zutreffend. Es gebe kein modifiziertes Stichtagsprinzip. Die vom FA angeführte Rechtsprechung des BFH sei nicht einschlägig. Es sei auch unerheblich, aus welchen Gründen die Vermögensteuerveranlagung zunächst vorläufig durchgeführt worden sei. Die Vorläufigkeit der Vermögensteuerveranlagung könne das Stichtagsprinzip nicht außer Kraft setzen. Hilfsweise werde darauf hingewiesen, daß, selbst wenn man das Bestehen eines Erstattungsanspruchs bereits zum 1. Januar 1960 fingieren wollte, dieser Anspruch am Stichtag so zweifelhaft gewesen sei, daß er mit 0 DM angesetzt werden müsse. Zumindest sei der Anspruch nach der Rechtsprechung des BFH abzuzinsen.
Das FA widerspricht dem Vorbringen der Klägerin, schränkt aber seinen Revisionsantrag dahin ein, daß nur der abgezinste Erstattungsanspruch im sonstigen Vermögen angesetzt wird.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
1. Entgegen der Vermutung der Klägerin ist die Revision zulässig ...
2. Das FA konnte nach § 225 AO durch endgültigen Bescheid die Steuerfestsetzung erhöhen, weil der am 29. September 1961 ergangene Bescheid nach seinem Abschn. C (Erläuterungen) in vollem Umfang nach § 100 AO vorläufig war. Dabei kommt es nicht darauf an, aus welchen Gründen das FA die Veranlagung nur vorläufig durchgeführt hatte.
3. Die Beteiligten und das FG haben im Veranlagungsund Einspruchsverfahren sowie im finanzgerichtlichen Verfahren und in der Revision den strittigen Betrag als Erstattungsbetrag angesehen. Rein rechtlich gesehen trifft diese Betrachtungsweise nicht zu, da am Vermögensteuerstichtag 1. Januar 1960 die Einkommensteuerschulden des Erblassers noch nicht bezahlt waren, es sich somit um eine Herabsetzung der damaligen Einkommensteuerschuld gehandelt hat. Der erkennende Senat beläßt es jedoch bei dem statt der Schuldminderung vorgenommenen Ansatz eines aktiven Ausgleichspostens im Hinblick darauf, daß die rückwirkende Anwendung des § 17 EStG 1965 (s. § 52 Abs. 17 EStG 1965) auf die Einkommensteuerveranlagung 1958 die Berichtigung der Vermögensteuer 1960 aulöste. Bei rückwirkender Anwendung des Gesetzes erscheint es zulässig, auch den dadurch entstandenen Rechtszustand zurückzubeziehen und die zuviel angeforderten (und später bezahlten) Steuern vermögensrechtlich zum 1. Januar 1960 als Erstattungsanspruch zu behandeln.
4. Dem Ansatz des sog. Einkommensteuererstattungsanspruchs als Besitzposten bei der endgültigen Vermögensteuerveranlagung 1960 zum Ausgleich der nunmehr zu hoch angesetzten anteiligen Einkommensteuerschuld des Erblassers steht entgegen der Auffassung des FG nicht das im Bewertungsrecht maßgebende Stichtagsprinzip entgegen. Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß durch ein Gesetz, das in verfassungsrechtlich zulässiger Weise die Steuerbelastung rückwirkend ändert, das Stichtagsprinzip "modifiziert" wird (so ausdrücklich das BFH-Urteil vom 7. Dezember 1961 III 12/59 U, BFHE 74, 413, BStBl III 1962, 154, das die Auswirkung der rückwirkenden Änderung der HGA auf die Vermögensteuer betrifft; vgl. auch die BFH-Urteile vom 17. Januar 1958 III 167/57 U, BFHE 66, 334, BStBl III 1958, 127. Auswirkung der rückwirkenden Herabsetzung der HGA auf die Vermögensabgabe; vom 7. März 1958 III 258/57 U, BFHE 67, 101, BStBl III 1958, 311, Auswirkung der rückwirkenden Verminderung von Ertragsteuer auf die Einheitsbewertung und Vermögensteuer; vom 30. April 1964 III 57/61 U, BFHE 79, 650, BStBl III 1964, 470, Auswirkung der rückwirkenden Herabsetzung der Vermögensabgabe auf die Vermögensteuer; vom 5. Februar 1965 III 127/62 U, BFHE 82, 170, BStBl III 1965, 308, Auswirkung der rückwirkenden Verminderung der HGA auf die Vermögensteuer, und vom 12. Juli 1968 III 216/64, BFHE 93, 332, BStBl II 1968, 837, Ansatz eines Soforthilfeabgabe [SHA] - und Vermögensabgabeerstattungsanspruchs, der durch rückwirkende Verminderung der SHA und Vermögensabgabe entstanden war, bei der Veranlagung der Vermögensteuer). In diesen Urteilen hat der Senat die Auffassung vertreten, wenn der Gesetzgeber für eine bestimmte Abgabe eine nicht zu beanstandende Rückwirkung angeordnet habe, werde, wenn nichts anderes vorgeschrieben sei, das Stichtagsprinzip nach dem Willen des Gesetzgebers aufgrund der Vorschrift über die Abzugsfähigkeit dieser Abgabe mittelbar und zwangsläufig betroffen. Durch diese Auslegung werde das Stichtagsprinzip nicht verletzt, es liege darin auch keine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips (so BFH-Urteil III 216/64). Der Senat sieht keine Veranlassung, im Streitfall von dieser ständigen Rechtsprechung abzuweichen. Das FG hat sich nur mit dem Urteil III 258/57 U auseinandergesetzt. Der Einwand der Klägerin, die Rechtsprechung betreffe andere Fälle als den ihren, trifft nicht zu. Es ist ohne Bedeutung, daß im Fall III 258/57 U die rückwirkende Gesetzesänderung nur wenige Monate nach dem Stichtag eintrat und daß in den Fällen III 57/61 U und III 216/64 ein Gestaltungsrecht des Steuerpflichtigen gegeben war. Diese Umstände haben die Entscheidung der Frage der Modifizierung des Stichtagsprinzips nicht beeinflußt. Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben.
5. Die Sache ist spruchreif. Die Klägerin kann zwar nicht mit ihrem Hilfsantrag durchdringen, den Erstattungsanspruch deswegen mit 0 DM anzusetzen, weil die rückwirkende Änderung des § 17 Abs. 1 Satz 2 EStG a. F. am Stichtag vom 1. Januar 1961 kaum wahrscheinlich gewesen sei. Sie hat jedoch mit ihrem weiteren Hilfsantrag, daß der "Erstattungsanspruch" entsprechend den Grundsätzen des BFH-Urteils vom 10. Mai 1972 III R 58/71 (BFHE 106, 102, BStBl II 1972, 691) abgezinst werden müsse, Erfolg, wie auch das FA durch die Einschränkung seines Revisionsantrags anerkannt hat. Der "Erstattungsanspruch" ist nur nach der Hilfstafel 1 zum Bewertungsgesetz für einen Zeitraum von 5 1/2 Jahren (1. Januar 1960 bis 30 Juni 1965) anzusetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 71269 |
BStBl II 1975, 284 |
BFHE 1975, 379 |