Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt in B ein privates Kinderheim, das von den Kreissozialämtern, Gesundheitsämtern, Fürsorgestellen und Wohlfahrtsverbänden verschiedener Landkreise bzw. Gemeinden für sechswöchige Kuraufenthalte belegt wird. Sie wurde mit diesen Einkünften ursprünglich zur Gewerbesteuer herangezogen. Später behandelte das damals zuständige Finanzamt N das Unternehmen der Klägerin im Zusammenhang mit einem Rechtsbehelfsverfahren betreffend Gewerbesteuer 1956 bis 1959 als freiberufliche Tätigkeit und hob die Gewerbesteuermeßbescheide 1956 bis 1960, 1963, 1964 sowie 1966 ersatzlos auf (Schreiben vom 30. September 1970). Schon vorher waren für die Jahre 1961, 1962, 1965 und 1967 keine Gewerbesteuerveranlagungen durchgeführt worden. Sie unterblieben zunächst auch in der Folgezeit bis einschließlich 1974. In den Einkommensteuerbescheiden für diese Jahre wurden die Einkünfte der Klägerin als freiberuflich gewertet. Der Einkommensteuerbescheid betreffend den Veranlagungszeitraum 1972, für den erstmals der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) zuständig geworden war, erging endgültig; diejenigen der Jahre 1973 und 1974 waren nach § 100 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) vorläufig.
Nach einer Betriebsprüfung sah das FA die Einkünfte der Klägerin als gewerblich an und erließ für die Streitjahre 1972 bis 1974 erstmals Gewerbesteuermeßbescheide. Einspruch und Klage blieben erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) bejahte die Gewerbesteuerpflicht für das Kinderheim, weil die Unterbringung, Verköstigung und Betreuung der Kinder und nicht die erzieherische Tätigkeit der Klägerin im Vordergrund gestanden hätten. Gegen die Gewerbesteuerveranlagungen für 1972 bis 1974 könnten weder unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben noch aus § 176 der Abgabenordnung (AO 1977) Einwände erhoben werden.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verstoß gegen §§ 176, 173 AO 1977 sowie Verletzung der Rechtsgrundsätze über die Verwirkung.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG sowie die Gewerbesteuermeßbescheide für die Jahre 1972, 1973 und 1974 und die Einspruchsentscheidung des FA ersatzlos aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die angefochtenen Gewerbesteuermeßbescheide für 1972 bis 1974 wurden vom FG zutreffend als rechtmäßig angesehen.
1. Das FG hat ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (vgl. die Urteile vom 27. Juni 1974 IV R 204/70, BFHE 114, 95, BStBl II 1975, 147, und vom 9. April 1975 I R 107/73, BFHE 115, 379, BStBl II 1975, 610) das von der Klägerin unterhaltene Kinderheim als Gewerbebetrieb i. S. von § 2 Abs. 1 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG), § 1 Abs. 1 der Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung (GewStDV) behandelt. Dabei hat es als maßgeblich angesehen, daß die Leistungen der Klägerin in erster Linie die äußeren Voraussetzungen für eine Erholung der untergebrachten Kinder sichergestellt hatten. Diese Beurteilung ist nicht zu beanstanden. Sie wird auch von der Revision nicht angegriffen.
2. Das Urteil des FG verletzt auch nicht die §§ 176, 173 AO 1977. Ein Verstoß gegen die Rechtsgrundsätze der Verwirkung ist ebenfalls nicht zu erkennen.
a) Nach § 176 AO 1977 wird die Aufhebung und Änderung eines Steuerbescheids aus Gründen des Vertrauensschutzes unter den im Gesetz näher bezeichneten Voraussetzungen eingeschränkt. Die Anwendung dieser Vorschrift auf den Streitfall scheitert schon daran, daß die angefochtenen Gewerbesteuermeßbescheide für die Streitjahre 1972 bis 1974 erstmalige und keine Änderungsbescheide im Sinne der genannten Vorschrift darstellten. Zwar gilt als Steuerbescheid i. S. des § 176 AO 1977 auch ein Freistellungsbescheid (§ 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977). Das Schreiben des FA N vom 30. September 1970 konnte aber die Klägerin schon deshalb nicht für die Streitjahre von der Gewerbesteuerpflicht freistellen, weil es sich ausdrücklich auf andere Jahre bezog. Eine Wertung dieses Schreibens als Zusage, daß künftig von Gewerbesteuerveranlagungen abgesehen werde, hat das FG unter Hinweis auf den fehlenden Bindungswillen des FA rechtsfehlerfrei abgelehnt. Dabei kann ungeprüft bleiben, ob eine derartige Zusage als Freistellungsbescheid i. S. von § 155 Abs. 1 AO 1977 anzusehen wäre. Schließlich kann auch das Unterlassen von Gewerbesteuerveranlagungen - weder für sich gesehen noch im Zusammenhang mit den erwähnten Vorgängen - als Freistellungsbescheid gedeutet werden.
Fehlte es danach aber schon an erstmaligen Bescheiden für die Gewerbesteuer der Streitjahre, so stand auch § 173 i. V. m. § 172 Abs. 1 Nr. 2 d AO 1977 dem Erlaß der angefochtenen Gewerbesteuermeßbescheide nicht entgegen. Auf die Neuheit von Tatsachen oder Beweismitteln kommt es deshalb nicht an.
Eine Verjährung der Gewerbesteuer 1972 bis 1974 war unstreitig noch nicht eingetreten.
b) Der Einwand der Verwirkung greift ebenfalls nicht durch.
Verwirkung ist ein Anwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Tuns, das Ausfluß des die gesamte Rechtsordnung beherrschenden Grundsatzes von Treu und Glauben ist. Wie der Senat in seinem Grundsatzurteil vom 14. September 1978 IV R 89/74 (BFHE 126, 130, 137, BStBl II 1979, 121) mit eingehender Begründung entschieden hat, setzt der Tatbestand der Verwirkung neben dem bloßen Zeitmoment (zeitweilige Untätigkeit des Anspruchsberechtigten) sowohl ein bestimmtes Verhalten des Anspruchsberechtigten voraus, demzufolge der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung darauf vertrauen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Vertrauenstatbestand) als auch, daß der Anspruchsverpflichtete tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich hierauf eingerichtet hat (Vertrauensfolge).
Durch das Rechtsinstitut der Verwirkung soll der Steuerpflichtige davor geschützt werden, daß ihm erhebliche Nachteile entstehen, die nicht entstanden wären, wenn das FA den Steueranspruch rechtzeitig geltend gemacht hätte.
Im Streitfall fehlt es bereits an einem Vertrauenstatbestand, also an einem zur bloßen zeitweiligen Untätigkeit hinzutretenden Verhalten des FA, das bei objektiver Beurteilung die Klägerin erwarten lassen durfte, das FA werde sie für die Streitjahre nicht zur Gewerbesteuer heranziehen.
Treuwidrig ist die Heranziehung der Klägerin zur Gewerbesteuer insbesondere nicht schon deswegen, weil das FA für zurückliegende Jahre die Gewerbesteuerpflicht ausdrücklich verneint hat. Denn das FA hat für jeden Besteuerungsabschnitt gesondert die tatbestandlichen Voraussetzungen des Steueranspruchs zu prüfen und ist an eine frühere abweichende Rechtsauffassung selbst dann nicht gebunden, wenn der Steuerpflichtige im Vertrauen darauf disponiert haben sollte (vgl. BFH-Urteil vom 22. Juni 1971 VIII 23/65, BFHE 103, 77, BStBl II 1971, 749).
Auf einen endgültigen Verzicht des FA, Gewerbesteuerveranlagungen für die Jahre 1972 bis 1974 durchzuführen, konnte die Klägerin aber auch dann nicht schutzwürdig vertrauen, als das FA in den Einkommensteuerbescheiden für diese Jahre - bezogen auf das Kinderheim - von Einkünften i. S. von § 18 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ausging.
Zwar hat die Rechtsprechung angenommen, daß auch eine im Einkommensteuerbescheid zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung des FA ein schutzwürdiges Vertrauen auf einen solchen Verzicht erzeugen kann, wenn das FA in der Vergangenheit auch in einer gewerbesteuerrechtlichen Entscheidung die Gewerbesteuerpflicht verneint hat und in der Folge danach verfahren ist. Dabei wurde aber auf den Einkommensteuerbescheid des jeweiligen Folgejahres abgehoben, weil erst vom Zeitpunkt seines Ergehens an ein Unterbleiben der Gewerbesteuerveranlagung als sicher anzunehmen sei (vgl. BFH-Urteil vom 5. März 1970 IV 213/65, BFHE 100, 1, BStBl II 1970, 793). Im Streitfall konnte schon der danach für den Zeitraum 1972 maßgebliche Einkommensteuerbescheid 1973 vom 5. März 1976 keine vergleichbare Wirkung zeitigen. Denn im engen zeitlichen Zusammenhang mit seiner Bekanntgabe, und zwar im Schreiben vom 11. März 1976, hat das FA die Klägerin unter Bezugnahme auf einschlägige BFH-Urteile gebeten, zur gewerbesteuerlichen Behandlung des Kinderheims Stellung zu nehmen.
Überdies ergingen die datumsgleichen Einkommensteuerbescheide für 1973 und 1974 vorläufig nach § 100 Abs. 2 AO. Die Klägerin mußte deshalb damit rechnen, daß das FA die Angaben in der Einkommensteuererklärung zunächst weitgehend ungeprüft der Besteuerung zugrunde gelegt hatte. Angesichts dieser Umstände konnte sich die Klägerin für den vorangegangenen Erhebungszeitraum 1972 nicht nach den Grundsätzen des Urteils in BFHE 126, 130, BStBl II 1979, 121 schutzwürdig auf ein weiteres Unterbleiben von Gewerbesteuerveranlagungen eingestellt haben.
Fehlten danach schon für 1972 die Voraussetzungen einer Verwirkung, so ist dies zwingend auch hinsichtlich der verbleibenden Jahre 1973 und 1974 anzunehmen.
3. Ohne Erfolg beruft sich die Revision schließlich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz. Für die Entscheidung des Streitfalls kann es keine Rolle spielen, ob das FA in anderen Fällen das Unterhalten von Kinderheimen als freiberufliche Tätigkeit beurteilt hat.
Fundstellen
BStBl II 1984, 780 |
BFHE 1985, 451 |