Entscheidungsstichwort (Thema)
Eingangsstempel als öffentliche Urkunde
Leitsatz (NV)
Der von einem FA angebrachte Eingangsstempel als öffentliche Urkunde erbringt dann nicht den Beweis über Zeit oder Ort des Eingangs des Schriftstücks, wenn das Gericht davon überzeugt ist, dass der Stempelaufdruck den Zeitpunkt des Eingangs unzutreffend wiedergibt.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1 S. 1, § 96 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erließ gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) die streitigen Gewerbesteuermessbescheide für 1996 bis 2000 und die streitigen Bescheide auf den 31. Dezember 1995 bis 31. Dezember 1997 über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlusts. Nach den vom Finanzgericht (FG) getroffenen Feststellungen wurden die Gewerbesteuermessbescheide von der Stadt S am 7. April 2003 und die Gewerbesteuerverlustfeststellungsbescheide vom FA am 10. April 2003 zur Post aufgegeben. Ferner ging das FG davon aus, das gegen die streitigen Bescheide gerichtete Einspruchsschreiben des Klägers vom 12. Mai 2003 sei am Folgetag beim FA eingegangen. Das FA wies den Einspruch des Klägers nach sachlicher Prüfung als (teilweise) unbegründet zurück. Mit seiner Klage machte der Kläger im Wesentlichen geltend, das FA sei nicht berechtigt gewesen, die angefochtenen Bescheide zu erlassen. Insbesondere seien die Zuschätzungen, die das FA vorgenommen habe, zu Unrecht erfolgt.
Nach mündlicher Verhandlung vom 14. März 2006, an der neben dem Kläger auch dessen Prozessbevollmächtigter teilnahm, hat das FG die Klage wegen der angefochtenen Gewerbesteuermessbescheide als unbegründet abgewiesen, weil diese Bescheide bestandskräftig seien. Die Rechtsbehelfsfrist habe am 12. Mai 2003 geendet. Das Einspruchsschreiben trage zwar das Datum vom 12. Mai 2003. Es sei aber mit dem Eingangsstempel des FA vom 13. Mai 2003 versehen. Dieser erbringe als öffentliche Urkunde nach der Rechtsprechung regelmäßig den Beweis über Zeit und Ort des Eingangs. Die Klage sei auch insoweit unbegründet, als sie die Bescheide über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlusts betreffe. Denn der Gewerbesteuermessbescheid 1995 sei nicht mittels Klage angefochten worden. Die Gewerbesteuermessbescheide 1996 bis 2000 seien bestandskräftig.
Im Verlauf des sich anschließenden Beschwerdeverfahrens (X B 60/06) teilte das FA dem angerufenen Senat mit, der im Zeitpunkt der Einspruchseinlegung für den Kläger tätig gewesene Steuerberater habe sich am 15. August 2006 fernmündlich an das FA gewandt. Er habe mitgeteilt, die Einsprüche seien am 12. Mai 2003 dem FA mittels Telefax zugeleitet worden. Nach Übersendung der Akten durch den Bundesfinanzhof (BFH) habe eine Überprüfung durch das FA ergeben, dass dieser Vortrag zutreffe. Das Einspruchsschreiben sei am unteren Rand mit dem Zugangsaufdruck "12. Mai 2003, 16.30 Uhr" versehen. Aus welchem Grund und von wem der unzutreffende Stempelaufdruck mit dem Datum des Folgetags angebracht worden sei, sei nicht mehr feststellbar.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, das angefochtene Urteil leide an einem Verfahrensmangel, weil es den Widerspruch zwischen dem Datum des Eingangsstempels und der Datumszeile auf dem Fax nicht berücksichtigt habe.
Das angefochtene Urteil sei eine unzulässige Überraschungsentscheidung. Noch in der Ladung zur mündlichen Verhandlung habe das FG zum Ausdruck gebracht, eine Beweisaufnahme komme in Betracht.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA hat keinen Antrag gestellt. Es trägt vor, die Ausführungen des Klägers zum Zugang des Einspruchs seien zutreffend. Die Einsprüche seien daher zulässig gewesen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist im Wesentlichen begründet. Das angefochtene Urteil wird, soweit es die angefochtenen Gewerbesteuermessbescheide und die Bescheide über die Feststellung des vortragsfähigen Verlusts zum 31. Dezember 1996 und zum 31. Dezember 1997 betrifft, aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Der Kläger hat schlüssig gerügt, das FG habe bei seiner Entscheidung einen maßgeblichen in den Akten enthaltenen Vorgang nicht berücksichtigt. Dieser Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO, auf dem das angefochtene Urteil beruht, liegt auch tatsächlich vor. Im Übrigen ist die Revision unbegründet. Sie wird daher insoweit zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 FGO). Denn insoweit beruht die angefochtene Entscheidung nicht auf einem Verfahrensfehler (vgl. § 118 Abs. 3 Satz 1 FGO).
1. Das angefochtene Urteil beruht insoweit auf einer Verletzung von § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO, als das FG bei seiner Entscheidung, die Klage wegen der angefochtenen Gewerbesteuermessbescheide und der Bescheide über die Feststellung des vortragsfähigen Verlusts zum 31. Dezember 1996 und zum 31. Dezember 1997 wegen der (angeblichen) Versäumung der Einspruchsfrist als unbegründet abzuweisen, den Zugangsaufdruck auf dem mittels Fax übersandten Einspruchschreiben übersehen hat.
a) § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO verpflichtet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Diese Vorschrift ist daher dann verletzt, wenn das FG nicht den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei berücksichtigt (ständige BFH-Rechtsprechung; vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 24. Juli 2007 X B 6/07, BFH/NV 2007, 1921, m.w.N.).
b) Das Vorliegen eines solchen Verfahrensverstoßes hat der Kläger schlüssig dargelegt.
Danach habe das FG bei seiner Entscheidung lediglich den mit dem Datum vom 13. Mai 2003 angebrachten Eingangsstempel des FA, nicht aber den auf diesem Schreiben ebenfalls angebrachten Zugangsaufdruck berücksichtigt.
c) Der gerügte Verfahrensverstoß liegt auch tatsächlich vor. Denn das vom Kläger benannte Einspruchsschreiben enthält neben dem erwähnten Eingangsstempel zusätzlich im unteren Bereich des Schreibens den Zugangsaufdruck: "12. Mai 2003 16.30 Uhr". Dieser Zugangsaufdruck wird weder in dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem FG vom 14. März 2006 noch im Tatbestand und in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils erwähnt. Es ist daher davon auszugehen, dass das FG den Zugangsaufdruck übersehen und damit bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt hat.
d) Das angefochtene Urteil beruht auf diesem Verfahrensfehler, soweit es die streitigen Gewerbesteuermessbescheide und die Bescheide über die Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlusts zum 31. Dezember 1996 und zum 31. Dezember 1997 betrifft. Ein Urteil beruht dann auf einem Verfahrensfehler, wenn diese Entscheidung ohne den Mangel unter Zugrundelegung der in dem Urteil vertretenen materiell-rechtlichen Auffassung möglicherweise anders ausgefallen wäre (Senatsbeschluss vom 10. Januar 2007 X B 94/06, juris).
Das FG ist (zu Recht) davon ausgegangen, dass der von einem Finanzamt angebrachte Eingangsstempel als öffentliche Urkunde nur in der Regel den Beweis über Zeit oder Ort des Eingangs eines in Frage stehenden Schriftstücks erbringt (BFH-Urteil vom 19. Juli 1995 I R 87, 169/94, BFHE 178, 303, BStBl II 1996, 19, m.w.N. aus der BFH-Rechtsprechung). Dies gilt aber dann nicht, wenn das Gericht im Rahmen seiner Überzeugungsbildung zu dem Ergebnis gelangt, dass der Stempelaufdruck den Zeitpunkt des Eingangs unzutreffend wiedergibt. Solche Zweifel sind jedenfalls dann gegeben, wenn der Beweiswert des Eingangsstempels durch einen anderen tatsächlich auf diesem Schriftstück angebrachten Zugangshinweis wie etwa den Vermerk über den Zeitpunkt des Zugangs des Schreibens mittels Fax deshalb erheblich gemindert ist, weil dieser darauf hinweist, dass das Schriftstück zu einem früheren als im Stempelaufdruck angegebenen Zeitpunkt bei der Behörde eingegangen ist. In einem solchen Fall ist das FG gehalten, durch geeignete Maßnahmen aufzuklären, ob der Beweiswert des Stempelaufdrucks widerlegt ist, wenn es hierauf entscheidend ankommt.
Im Streitfall hätte das FG im Falle der rechtzeitigen Einspruchseinlegung die Klage wegen der streitigen Gewerbesteuermessbescheide nicht wegen der angeblichen Verfristung des Einspruchs ohne weitere Sachprüfung als unbegründet abweisen dürfen, sondern das sachliche Begehren des Klägers prüfen müssen.
Auf dem dargelegten Mangel beruht das Urteil auch insoweit, als es wegen der Bescheide betreffend die Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlusts auf den 31. Dezember 1996 und den 31. Dezember 1997 ergangen ist. Zwar hat das FG die Klage insoweit nicht mit der Begründung abgewiesen, der diese Bescheide betreffende Einspruch sei verspätet eingegangen. Es hat im Rahmen der sachlichen Überprüfung des klägerischen Begehrens vielmehr darauf abgestellt, die Klage wegen dieser Bescheide sei deshalb abzuweisen, weil die Gewerbesteuermessbescheide für die Streitjahre 1996 und 1997 bestandskräftig seien. Der dargelegte Verfahrensmangel wirkt sich deshalb mittelbar auch auf die genannten Feststellungsbescheide aus. Denn der Erfolg der wegen dieser Feststellungsbescheide erhobenen Klage hängt vom Ergebnis der sachlichen Überprüfung der Gewerbesteuermessbescheide 1996 und 1997 durch das FG ab (§ 10a Satz 1 und 2 des Gewerbesteuergesetzes --GewStG--).
e) Die gebotene Aufklärung, ob der Beweiswert des Stempelaufdrucks widerlegt ist, konnte auch nicht deshalb unterbleiben, weil der rechtskundig vertretene Kläger keinen Beweisantrag zu dem Beweisthema gestellt hatte, dass das Einspruchschreiben dem FA bereits am 12. Mai 2003 zugegangen ist. Das FG ist zur weiteren Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO), auch wenn kein Beweisantrag gestellt worden ist, dann von Amts wegen verpflichtet, wenn sich ihm eine solche Sachaufklärung aufdrängen muss. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es wie im Streitfall (unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des FG) entscheidend auf das Vorliegen bestimmter tatsächlicher Umstände ankommt und andere Erkenntnisse hierzu nicht vorliegen (Senatsbeschlüsse vom 22. Mai 2006 X B 190/05, BFH/NV 2006, 1681, und vom 26. März 2007 X B 186/06, juris).
2. Die Revision ist unbegründet, soweit sie den Bescheid über die Feststellung des vortragsfähigen Verlustabzugs zum 31. Dezember 1995 betrifft. Denn das Urteil beruht insoweit nicht auf der Verletzung von § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO sowie auf den weiteren vom Kläger behaupteten Verfahrensverstößen.
Die Verfahrensrügen stehen durchgehend allein im Zusammenhang mit der Frage, ob der gegen die streitigen Gewerbesteuermessbescheide 1996 bis 2000 gerichtete Einspruch rechtzeitig eingelegt worden ist. Dementsprechend bezieht sich der klägerische Vortrag, wonach sich das FG zu Unrecht auf die (angebliche) Bestandskraft der streitigen Gewerbesteuermessbescheide berufen habe, obwohl sich die Beteiligten sachlich auf die Klage eingelassen hätten, ebenso wie der Vortrag, das FG habe eine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen, allein auf die Gewerbesteuermessbescheide 1996 bis 2000, die nach § 10a Satz 2 GewStG keinen Einfluss auf den zum 31. Dezember 1995 festzustellenden Gewerbeverlust haben. Gleiches gilt, soweit der Kläger vorträgt, das FG habe es versäumt, eigenständig zu überprüfen, wann die streitigen Gewerbesteuermessbescheide durch die Stadt S zur Post aufgegeben worden sind. Ebenso gilt dies hinsichtlich des klägerischen Vortrags, das FG habe es zu Unrecht abgelehnt, die mündliche Verhandlung zu vertagen, um ihm, dem Kläger, die Überprüfung zu ermöglichen, ob der gegen die Gewerbesteuermessbescheide gerichtete Einspruch tatsächlich erst verspätet eingegangen ist.
Ergänzend weist der angerufene Senat darauf hin, dass die Rüge des Klägers, das FG habe gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) sowie gegen § 155 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) verstoßen, nicht schlüssig erhoben worden ist.
Ein solcher Verstoß kann gegeben sein, wenn das FG eine mündliche Verhandlung nicht vertagt, obwohl hierfür erhebliche Gründe vorliegen (Senatsbeschluss vom 10. April 2006 X B 162/05, BFH/NV 2006, 1332). Auf die Rüge eines solchen Verfahrensverstoßes wird jedoch gemäß § 155 FGO i.V.m. § 295 Abs. 1 ZPO verzichtet, wenn ein rechtskundig vertretener Verfahrensbeteiligter es unterlässt, im Hinblick auf neues Vorbringen in der mündlichen Verhandlung eine Vertagung oder die Einräumung einer Schriftsatzfrist zu beantragen (BFH-Beschluss vom 16. Oktober 2002 VII B 73/02, juris).
Der Kläger, der in der mündlichen Verhandlung vom 14. März 2006 rechtskundig vertreten war, trägt nicht vor, dass er einen solchen Antrag gestellt hat. Ausweislich des Protokolls über diese mündliche Verhandlung wurde dort auch kein solcher Antrag gestellt.
Fundstellen
Haufe-Index 1936694 |
BFH/NV 2008, 578 |