Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Auslegung der Person des Klägers in der Klageschrift (Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung)
Leitsatz (NV)
1. Bei der Bezeichnung der Person des Klägers in der Klageschrift (hier: Klage gegen Haftungsbescheid durch die GmbH oder durch den Geschäftsführer?) handelt es sich um eine prozessuale Willenserklärung, bei der der in der Erklärung verkörperte wirkliche Wille unter Berücksichtigung sämtlicher, dem FG und dem FA erkennbarer Umstände zu erforschen ist.
2. Aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG) ist eine unklare Bezeichnung der Person des Klägers - insbesondere bei einem juristisch nicht vorgebildeten Rechtsmittelführer - im Zweifel so auszulegen, daß das Ergebnis dem Willen eines verständigen Rechtsmittelführers entspricht (Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung).
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4; FGO §§ 65, 100 Abs. 2 S. 2; BGB § 133
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wurde vom Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) als Geschäftsführer einer GmbH mit Haftungsbescheid im wesentlichen wegen Umsatzsteuern der GmbH in Anspruch genommen.
Die dagegen mit Briefbogen der GmbH erhobene Klage hatte u. a. folgenden Inhalt:
,,X-GmbH, in D. gegen Finanzamt D. Steuernummer: . . . Rechtsbehelfsliste-Nummer: . . .
. . . gegen die Einspruchsentscheidung vom . . . wegen Haftung für Steuerrückstände der Firma X-GmbH . . . erheben wir hiermit Klage . . .
(Unterschrift) X
. . . GmbH"
Noch innerhalb der Klagefrist ging beim Finanzgericht (FG) - diesmal auf einem neutralen Papierbogen - ein Schreiben mit u. a. folgendem Inhalt ein:
". . . X
An das Finanzgericht . . .
Steuernummer: . . . - RbSt . . .
Rechtsbehelfsliste-Nummer: . . .
Unsere Klage vom . . . , die wir nunmehr begründen . . .
(Unterschrift) X . . ."
Das FG gab der Klage statt und hob den Haftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung auf. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus:
Die Klage sei zulässig, da die Auslegung der Klageschrift ergebe, daß der Kläger die Klage nicht für die GmbH, sondern für sich persönlich eingelegt habe.
Sie sei auch begründet. Eine schuldhafte Verletzung der Sorgfaltspflichten des Geschäftsführers hänge davon ab, ob der GmbH im Zeitpunkt der Fälligkeit der Steuerschulden hinreichende Mittel für deren Begleichung zur Verfügung gestanden hätten bzw. - bei nicht ausreichender Zahlungsfähigkeit - davon, daß die vorhandenen Mittel zu einer in etwa gleichmäßigen Befriedigung der anderen Gläubiger und des FA verwendet worden seien. Hierzu fehle es an widerspruchsfreien Feststellungen des FA, so daß der Haftungsbescheid aufzuheben sei (§ 100 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Seine - vom Senat zugelassene - Revision begründet das FA wie folgt: Das FG habe die Klageschrift als Klage der GmbH ansehen und demgemäß als unzulässig abweisen müssen. Weder der Schriftsatz vom . . . noch der vom . . . könne im Wege der Auslegung oder Umdeutung als Klage des Geschäftsführers angesehen werden, denn die Klage sei auf dem Briefbogen der GmbH erhoben worden und bezeichne die GmbH als Klägerin. Außerdem sei sie in der ,,Wir"-Form formuliert und trage die Unterschrift des Geschäftsführers mit dem Zusatz ,,X-GmbH". Auch aus einem späteren Schreiben des Klägers gehe hervor, daß nicht der Kläger für sich persönlich, sondern für die von ihm vertretene GmbH die Klage habe erheben wollen. Das FG sei zudem von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (Beschluß vom 23. November 1978 I R 56/76, BFHE 126, 366, BStBl II 1979, 173) abgewichen, wonach lediglich der Inhalt von prozessualen Erklärungen der Umdeutung zugänglich sei, nicht aber die Person des Erklärenden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
1. Das FG ist zu Recht von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen, weil die Klage von dem durch den Haftungsbescheid betroffenen Geschäftsführer in eigenem Namen und nicht für die von ihm vertretene GmbH erhoben worden ist.
a) Bei der nach § 65 FGO in der Klageschrift notwendigen Bezeichnung des Klägers handelt es sich um eine prozessuale Willenserklärung, die in gleicher Weise wie Willenserklärungen i. S. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) vom Revisionsgericht - ohne Bindung an die Vorinstanz - auszulegen ist (BFH-Beschluß vom 25. September 1985 IV R 180/83, BFH/NV 1986, 171, m. w. N.). Nach den für die Auslegung von Willenserklärungen entwickelten Grundsätzen ist analog § 133 BGB auch bei scheinbar eindeutiger Klägerbezeichnung nicht am buchstäblichen Sinne der Beteiligtenerklärung zu haften. Vielmehr ist der in der Erklärung verkörperte wirkliche Wille unter Berücksichtigung sämtlicher dem FG und dem FA erkennbaren Umstände zu erforschen (BFH-Urteil vom 6. Februar 1979 VII R 82/78, BFHE 127, 135, 136, BStBl II 1979, 374; Beschluß in BFH/NV 1986, 171).
b) Das rechtfertigt im Streitfall die Schlußfolgerung, daß der Kläger mit der Klageschrift für sich persönlich und nicht für die von ihm vertretene GmbH gegen den Haftungsbescheid Klage erhoben hat. Schon allein aus dem Text der Klageschrift, wonach unter Bezug auf die Rechtsbehelfslistennummer ,,gegen die Einspruchsentscheidung vom . . . wegen Haftung für Steuerrückstände der GmbH" Klage erhoben werden sollte, ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit, daß der durch den Haftungsbescheid persönlich vom FA in Anspruch genommene Geschäftsführer den ihn belastenden Haftungsbescheid einer gerichtlichen Überprüfung unterziehen wollte. Zwar ist mit diesem Klageziel nicht vereinbar, daß der Kläger die Klage auf dem Briefpapier der GmbH erhoben hat, die GmbH auch ausdrücklich als Klägerin bezeichnet worden ist und daß die Unterschrift des Geschäftsführers mit dem Zusatz ,,X-GmbH" versehen ist. Bei der Auslegung der Klageschrift ist aber auch das Vorbringen in der Klagebegründung mitzuberücksichtigen (BFH-Urteil vom 26. April 1989 VI R 80/85, BFH/NV 1990, 171), die der Kläger innerhalb der Klagefrist eingereicht hat und die er - unter Beifügung seiner Privatadresse und seines Privatstempels - anders als die Klageschrift mit seiner persönlichen Unterschrift nicht für die GmbH gezeichnet hat. Aufgrund dieses noch innerhalb der Klagefrist eingegangenen Schriftsatzes kommt der prozeßrechtlich unzutreffenden Bezeichnung der GmbH als Klägerin in der Klageschrift kein ausschlaggebendes Gewicht zu. Nur so wird bei der Auslegung der Klageerhebung als Prozeßerklärung auch die verfassungsrechtlich in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) garantierte Effektivität des Rechtsschutzes (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 29. Oktober 1975 2 BvR 630/73, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1976, 70) zur Geltung gebracht, die in der Rechtsprechung des BFH dahingehend konkretisiert wird, daß ein unklarer Antrag - insbesondere bei einem juristisch nicht vorgebildeten Rechtsmittelführer - im Zweifel so auszulegen ist, daß das Ergebnis dem Willen eines verständigen Klägers entspricht (Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung, vgl. BFH-Urteile vom 12. April 1967 VI 389/65, BFHE 88, 314, BStBl III 1967, 382, und in BFH/NV 1990, 171, m. w. N.; Tipke / Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 65 FGO Tz. 1 c).
Dem steht auch die Verwendung der ,,Wir"-Form in der Klageschrift nicht entgegen. Wie sich aus der Klagebegründung ergibt, wechselt der Kläger ständig zwischen der ,,Wir"- und ,,Ich"-Form. Schon deshalb ist es nicht gerechtfertigt, der ,,Wir"-Form eine besondere Aussagekraft für die Klageerhebung beizumessen.
Auch dem Schriftsatz des Klägers vom . . ., auf den sich das FA beruft, kann nicht entnommen werden, daß die Klage für die GmbH erhoben werden sollte. Da der Kläger in diesem Schriftsatz erkennbar von einer persönlichen Klageerhebung ausgeht und nach der jüngsten Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 12. Mai 1989 III R 132/85, BFHE 157, 296, BStBl II 1989, 846) eine weitere Konkretisierung der Person des Klägers u. U. sogar noch nach Ablauf der Klagefrist erfolgen kann, stellt dieses Schreiben eher eine weitere Grundlage zur Rechtfertigung einer Klageerhebung im eigenen Namen dar.
c) Das FG ist auch nicht - wie das FA annimmt - von der Rechtsprechung des 1. Senats des BFH in BFHE 126, 366, BStBl II 1979, 173 (ablehnend Tipke / Kruse, a. a. O., § 65 FGO Tz. 2) abgewichen, wonach eine Umdeutung der Person des Rechtsmittelführers ausgeschlossen sein soll, weil nur der Inhalt einer Erklärung, nicht aber auch die Person des Erklärenden der Umdeutung fähig sei. Das FG ist - ebenso wie der Senat - bereits im Wege der Auslegung der Klageerhebung als prozessuale Willenserklärung zu dem Ergebnis gelangt, daß in der Klageschrift eine Klageerhebung für den Kläger persönlich erfolgt ist. Die Auslegung einer Willenserklärung geht jedoch der Umdeutung vor (Palandt / Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, 49. Aufl., § 140 Anm. 2 cc, m. w. N.).
2. Im übrigen läßt das FG-Urteil keinen Rechtsfehler erkennen. Die Aufhebung des Haftungsbescheides gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO wegen wesentlicher Verfahrensmängel entspricht der Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteile vom 17. Juli 1985 I R 205/80, BFHE 144, 329, BStBl II 1985, 702; vom 2. Oktober 1986 VII R 190/82, BFH/NV 1987, 223, 225). Das FG hat zutreffend einen wesentlichen Verfahrensmangel i. S. des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO des FA darin gesehen, daß dieses nicht ausreichend geprüft hat, inwieweit die der GmbH im Haftungszeitraum zur Verfügung stehenden Zahlungsmittel zur Tilgung aller Verbindlichkeiten ausgereicht haben und ob somit eine Haftungsbeschränkung nach dem Grundsatz der anteiligen Tilgung der Umsatzsteuer in Betracht kommt (vgl. Urteil des Senats vom 12. Juni 1986 VII R 192/83, BFHE 146, 511, BStBl II 1986, 657). Zu dieser Prüfung bestand aus der Sicht des FA Anlaß, da dieses in der Einspruchsentscheidung die Frage der ausreichenden Zahlungsmittel angesprochen hat, sich aus dem dort in Bezug genommenen Betriebsprüfungsbericht aber ergibt, daß die GmbH die . . . kosten als ihren Hauptkostenfaktor nur teilweise bezahlt hat. Das FA hat auch insoweit gegen die Vorentscheidung keine Einwendungen erhoben.
Fundstellen
Haufe-Index 417545 |
BFH/NV 1991, 795 |