Entscheidungsstichwort (Thema)
Entnahmehandlung als bestimmter Sachverhalt; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision; unselbstständige Anschlussrevision bei objektiver Klagehäufung
Leitsatz (NV)
1. Den “bestimmten” Sachverhalt i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO bilden im Falle einer Entnahme die Tatsachen, die unter den Tatbestand der Entnahme zu subsumieren sind.
2. Wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, müssen auch die Tatsachen dargelegt und glaubhaft gemacht werden, aus denen sich ergibt, dass der Antragsteller die Wiedereinsetzung rechtzeitig nach Behebung des Hindernisses beantragt hat.
3. Hat bei objektiver Klagehäufung ein Beteiligter Revision nur wegen eines Streitjahres eingelegt, kann der andere Beteiligte die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung nicht durch eine unselbstständige Anschlussrevision auf ein anderes Streitjahr ausdehnen.
Normenkette
AO § 165 Abs. 1 S. 1, § 174 Abs. 3-4; FGO § 56 Abs. 1, 2 Sätze 1-3, § 120 Abs. 2 S. 1, § 155; ZPO § 554
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Kläger, Revisionsbeklagten und (Anschluss-)Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute. Sie wurden in den Streitjahren (1991 und 1992) zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Der Kläger war als Landwirt tätig. Er ermittelte seinen Gewinn für das Normalwirtschaftsjahr (1. Juli bis 30. Juni) durch Betriebsvermögensvergleich nach § 4 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Zum Betriebsvermögen gehörte auch eine Hofstelle mit einem alten Wohnhaus. Darin bewohnten die Kläger bis zum Herbst 1986 eine 153 qm große Wohnung gemeinsam mit einem Sohn und einer Tochter. Im Herbst 1986 bezogen die Kläger ein neu errichtetes Wohnhaus auf demselben Grundstück. Der Sohn bewohnt seither die alte Wohnung der Kläger, zunächst allein und ab 1987 mit seiner Ehefrau.
Von April 1985 bis zum 30. Juni 1992 war der Sohn im Betrieb des Klägers als Arbeitnehmer tätig. Aufgrund eines mündlich geschlossenen Arbeitsvertrags hatte der Kläger dem Sohn zunächst Räume mit 40 qm Fläche und später die 153 qm große Wohnung bei voller Kost überlassen. Von April 1985 bis Oktober 1989 unterwarf er diesen Vorteil als Sachbezug dem Lohnsteuerabzug. Ab November 1989 unterließ der Kläger die Sachbezugsversteuerung.
Mit Vertrag vom 24. Juni 1992 gründeten der Kläger und sein Sohn zum 1. Juli 1992 eine GbR. Der Kläger überließ der GbR seinen Hof mit zugepachteten und verpachteten Flächen und allen Wirtschaftsgebäuden zur Nutzung. Zum 1. Juli 1998 wurde die GbR beendet, weil der Kläger zu diesem Zeitpunkt seinen Hof an den Sohn übergab.
In den Bilanzen des landwirtschaftlichen Betriebs war der Hof als Betriebsvermögen ausgewiesen; Gewinne aus der Entnahme von Teilen der Hofstelle wurden nicht erklärt. Nach Gründung der GbR behandelte der Kläger den Hof als Sonderbetriebsvermögen.
Im Anschluss an eine Außenprüfung für die Jahre 1990 bis 1992, die 1994/1995 durchgeführt wurde, erließ der Beklagte, Revisionskläger und (Anschluss-)Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) am 8. November 1995 Änderungsbescheide für die Streitjahre, in denen jeweils der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben wurde. Diese Bescheide wurden bestandskräftig.
Für das Wirtschaftsjahr 1989/90 erfasste das FA der Außenprüfung folgend einen Entnahmegewinn wegen der vom Sohn genutzten Wohnung in Höhe von … DM. Das FA war der Auffassung, die Wohnung sei im November 1989 aus dem Betriebsvermögen ausgeschieden und Privatvermögen geworden, weil der Kläger die Wohnung ab diesem Zeitpunkt dem Sohn unentgeltlich überlassen habe. Er habe nämlich keinen Sachbezug mehr versteuert.
Eine dagegen gerichtete Klage hatte Erfolg (Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts --FG-- vom 29. August 2002 12 K 732/96, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2003, 758). Das FG entschied, eine Entnahme habe nicht stattgefunden. Die Wohnung habe als Landarbeiterwohnung zum notwendigen oder zumindest zum gewillkürten Betriebsvermögen des Klägers gehört. An den tatsächlichen Gegebenheiten habe der Umstand, dass der Kläger die Sachbezugsversteuerung unterlassen habe, nichts geändert.
Daraufhin gelangte das FA nunmehr zu der Auffassung, der Gewinn aus der Entnahme der Wohnung sei im Wirtschaftsjahr 1991/92 zu erfassen. Denn die Arbeitnehmerstellung des Sohnes habe am 30. Juni 1992 geendet. Ab Gründung der GbR sei er deren Mitunternehmer; die Wohnung sei ihm ab diesem Zeitpunkt vom anderen Mitunternehmer unentgeltlich überlassen worden. Damit sei sie zwangsweise entnommen worden. Das FA erließ am 16. Januar 2003 entsprechend geänderte Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre. Die Änderungsbefugnis begründete es mit § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO).
Die dagegen gerichtete Klage hatte zum Teil Erfolg. Das FG entschied, die Änderung könne zwar auf § 174 Abs. 4 AO gestützt werden, so dass die Klage hinsichtlich des Streitjahres 1992 unbegründet sei; für das Streitjahr 1991 scheitere der Ansatz eines Entnahmegewinns aber daran, dass dieser nicht im Wirtschaftsjahr 1991/92, sondern erst im Wirtschaftsjahr 1992/93 entstanden sei. Das Urteil vom 8. Juni 2005 2 K 184/03 ist in EFG 2005, 1743 veröffentlicht.
Das Urteil wurde den Klägern am 27. Juni 2005 zugestellt.
Das FA hat Revision, die Kläger haben am 29. August 2005 ebenfalls Revision, hilfsweise Anschlussrevision eingelegt und wegen der Versäumung der Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Das FA wendet sich mit seiner Revision gegen die angefochtene Entscheidung, soweit sie das Streitjahr 1991 betrifft, und rügt die Verletzung materiellen Rechts. Es hält an der Auffassung fest, die Zwangsentnahme sei bereits im Wirtschaftsjahr 1991/92 erfolgt. Maßgeblich dafür sei, dass sowohl der Abschluss des Gesellschaftsvertrages der GbR (24. Juni 1992) als auch die Beendigung der Arbeitnehmerstellung des Sohnes (30. Juni 1992) in dieses Wirtschaftsjahr fielen.
Das FA beantragt sinngemäß,
das Urteil des Niedersächsischen FG vom 8. Juni 2005 2 K 184/03 hinsichtlich des Einkommensteuerbescheides 1991 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
die Revision des FA zurückzuweisen und
das Urteil des Niedersächsischen FG vom 8. Juni 2005 2 K 184/03 aufzuheben, soweit die Klage abgewiesen wurde, sowie den Einkommensteuerbescheid 1992 vom 16. Januar 2003 in Gestalt des Einspruchsbescheids vom 20. März 2003 aufzuheben.
Wegen der Versäumung der Revisionsfrist beantragen sie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Mit Schriftsatz vom 12. Juli 2005 sei Revision eingelegt und dieser am gleichen Tag zur Post gegeben worden, wie durch eidesstattliche Erklärungen der Schreibkraft, der Mitarbeiterin im zentralen Postausgang und des bearbeitenden Rechtsanwalts glaubhaft gemacht werde. Als durch die Prozessbevollmächtigten der ersten Instanz die Revisionsschrift des FA übersandt worden sei, gleichzeitig aber noch keine Eingangsbestätigung des Bundesfinanzhofs (BFH) eingegangen sei, habe der nunmehrige Bevollmächtigte das Sekretariat beauftragt, sich den Eingang der Revisionsschrift beim BFH telefonisch bestätigen zu lassen. Dabei habe die Geschäftsstelle des IV. Senats mitgeteilt, dass die Revisionsschrift nicht eingegangen sei. Vorsorglich werde die Revision auch als Anschlussrevision eingelegt.
Zur Begründung der Revision tragen die Kläger vor, das FG habe den Anwendungsbereich des § 174 Abs. 4 AO in unzulässiger Weise ausgedehnt. Zwingende Voraussetzung des § 174 Abs. 4 AO sei die irrige Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts, der deckungsgleich sein müsse. Die Entnahme der Wohnung selbst sei nicht Sachverhalt, sondern Ergebnis einer juristischen Subsumtion. Maßgeblich sei der zugrunde liegende Lebenssachverhalt. Dieser sei nicht identisch. Entsprechend würden im Tatbestand des FG-Urteils zwei unterschiedliche Lebenssachverhalte dargelegt, nämlich zum einen die unterlassene Sachbezugsversteuerung und zum anderen die Umstände der GbR-Gründung. Im Übrigen habe das FG zutreffend entschieden, ein Entnahmegewinn wäre erst für das Wirtschaftsjahr 1992/93 zu berücksichtigen, da die GbR erst zum 1. Juli 1992 gegründet worden sei. Rechtswirkungen seien nicht bereits durch den Vertragsabschluss eingetreten. Die Landarbeiterwohnung sei darin nicht behandelt worden.
Das FA beantragt,
die Revision der Kläger als unzulässig zu verwerfen.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren, weil die Kläger die rechtzeitige Absendung der Revision nicht durch die erforderliche Vorlage von Auszügen aus dem Fristenkontrollbuch und dem Postausgangsbuch nachgewiesen hätten. Sie hätten auch nicht dargelegt, dass sie den Antrag binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt hätten. Wann die Revisionsschrift des FA von den Prozessbevollmächtigten der ersten Instanz übersandt worden sei, ergebe sich aus dem Wiedereinsetzungsantrag nicht. Dem FA habe der BFH das Aktenzeichen mit Schreiben vom 6. Juli 2005 mitgeteilt. Es sei davon auszugehen, dass die Revisionsschrift des FA gleichzeitig den Prozessbevollmächtigten der ersten Instanz übersandt worden sei. Das Hindernis müsse daher im Juli weggefallen sein, so dass die Frist für die Wiedereinsetzung nicht eingehalten worden sei.
Eine Anschlussrevision bezüglich der Einkommensteuer 1992 sei nicht möglich, weil die Revision des FA nur das Streitjahr 1991 betreffe.
Eine Änderung der Bescheide nach § 174 Abs. 4 AO sei möglich gewesen. Sachverhalt sei auch ein aus mehreren Tatsachen gebildeter Lebensvorgang, ein für die Besteuerung maßgeblicher Sachverhaltskomplex. So verhalte es sich bei der Entnahme der vom Sohn genutzten Wohnung. Die Entnahme sei nicht Ergebnis der Subsumtion, sondern selbst ein Lebensvorgang. Die Entnahme der Wohnung sei in der irrigen Annahme, sie sei bereits im Wirtschaftsjahr 1989/90 erfasst worden, bei der GbR-Gründung 1992 steuerlich nicht berücksichtigt worden.
Die Prozessbevollmächtigten der Kläger entgegnen daraufhin, sie hätten erst Mitte August Kenntnis von der Revisionseinlegung des FA erhalten, nachdem sie darüber von den Prozessbevollmächtigten der ersten Instanz informiert worden seien. Ein Postausgangsbuch könne keinen Beweis für den tatsächlichen Postausgang geben. Diese Tatsache sei durch eidesstattliche Versicherungen glaubhaft gemacht worden.
Eine Anschlussrevision sei auch für das Jahr 1992 möglich, denn sie erfasse nach der aktuellen Gesetzesfassung den gesamten erstinstanzlichen Sachverhalt und sei nicht auf den vom Revisionskläger vorgetragenen Sachverhalt begrenzt. Sie solle der anderen Partei Gelegenheit geben, eine Änderung des erstinstanzlichen Urteils zu ihren Gunsten zu erreichen, wenn das Revisionsverfahren aufgrund der Revision der Gegenpartei ohnehin durchgeführt werden müsse.
Entgegen der Auffassung des FA scheide der Begriff der Entnahme als Sachverhalt i.S. von § 174 Abs. 4 AO aus, wie sich aus der Tatsache ergebe, dass er in § 4 Abs. 1 Satz 2 EStG definiert werde. Identität der Rechtsfolgen führe noch nicht zur Identität der Sachverhalte.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des FA ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Revision der Kläger ist --auch als Anschlussrevision-- unzulässig und daher zu verwerfen (§ 126 Abs. 1 FGO).
A. Revision des FA
Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass eine Gewinnerhöhung wegen der Entnahme der vom Sohn des Klägers genutzten Wohnung im Streitjahr 1991 nicht zu berücksichtigen war. Dies folgt allerdings bereits daraus, dass der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid 1991 nicht nach § 174 Abs. 4 AO geändert werden konnte.
1. Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde oder das Gericht zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können aus dem Sachverhalt nach § 174 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AO nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden.
a) Die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ist irrig, wenn sie sich nachträglich als unrichtig erweist (BFH-Urteile vom 14. März 2006 I R 8/05, BFHE 212, 517; vom 18. März 2004 V R 23/02, BFHE 205, 402, BStBl II 2004, 763, jeweils m.w.N.). Unerheblich ist, ob der für die rechtsirrige Beurteilung maßgebliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen hat (BFH-Urteile in BFHE 212, 517, und in BFHE 205, 402, BStBl II 2004, 763, sowie vom 2. Mai 2001 VIII R 44/00, BFHE 195, 14, BStBl II 2001, 562).
b) Unter einem "bestimmten" Sachverhalt i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ist der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Darunter fällt nicht nur die einzelne steuererhebliche Tatsache oder das einzelne Merkmal, sondern auch der einheitliche, für die Besteuerung maßgebliche Sachverhaltskomplex (BFH-Urteile in BFHE 212, 517, und in BFHE 205, 402, BStBl II 2004, 763, jeweils m.w.N.). Es muss sich um denselben Lebensvorgang handeln, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Entscheidend ist, dass aus demselben --unveränderten und nicht durch weitere Tatsachen ergänzten-- Sachverhalt andere steuerliche Folgerungen in einem anderen Steuerbescheid gegenüber dem Steuerpflichtigen zu ziehen sind (BFH-Urteil vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647, unter B.1.b der Gründe; Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 174 Rz 52).
c) Der vorliegende Rechtsstreit betrifft die Entnahme eines vom Sohn des Betriebsinhabers (des Klägers) bewohnten, zum landwirtschaftlichen Betriebsvermögen gehörenden Wohnhauses. Zu einer Entnahme kann in diesem Zusammenhang eine nach dem 31. Dezember 1986 beginnende Nutzungsüberlassung führen, wenn sie unentgeltlich erfolgt und kein Arbeitnehmer-Sachbezug zu versteuern ist (vgl. Senatsurteil vom 27. Juni 1996 IV R 82/95, BFH/NV 1997, 101, unter 2.a der Gründe).
aa) Das FA hatte zunächst eine Entnahme im Jahr 1989 angenommen, weil der Kläger den Vorteil aus der Wohnungsüberlassung nicht mehr als Sachbezug behandelt hatte. Dem war das FG im Urteil in EFG 2003, 758 nicht gefolgt, weil sich durch die unterlassene Sachbezugsversteuerung an den tatsächlichen Gegebenheiten nichts geändert hatte. Maßgeblicher Lebenssachverhalt des Wirtschaftsjahres 1989/90 war somit die unterlassene Sachbezugsversteuerung. Das FA hatte rechtsirrig angenommen, dass damit der Tatbestand der Entnahme erfüllt wurde. Als richtige steuerliche Folgerung ergab sich aus diesem Sachverhalt insoweit aber (nur), dass die Wohnung weiterhin zum Betriebsvermögen des Klägers gehörte.
bb) Den streitigen Änderungsbescheiden lag demgegenüber der Lebenssachverhalt zugrunde, dass das Arbeitsverhältnis des Sohnes beendet und dieser einen Gesellschaftsvertrag über die Gründung der GbR abgeschlossen hatte, so dass die Überlassung der Wohnung als Arbeitnehmer-Sachbezug weggefallen und es zu einer unentgeltlichen Nutzung und damit zu einer Zwangsentnahme gekommen war. Dieser Sachverhalt führte zwar nur dann zu einer Entnahme, wenn die Wohnung bis dahin weiterhin als Betriebsvermögen zu bilanzieren war, wie aus dem FG-Urteil vom 29. August 2002 folgt. Die Ablehnung einer früheren Entnahme ist jedoch lediglich eine Vorfrage für die Entscheidung, ob (und wann) der im Streitjahr 1992 verwirklichte Sachverhalt zu einer Entnahme geführt hat.
d) Vorliegend war es danach nicht derselbe Sachverhalt, den das FA zunächst irrig im Wirtschaftsjahr 1989/90 und später --nach der klagestattgebenden Entscheidung des FG vom 29. August 2002-- im Wirtschaftsjahr 1991/92 berücksichtigt hat. Denn Sachverhalt ist --entgegen der Auffassung des FG-- nicht die Entnahme; dieser Begriff bildet vielmehr den Tatbestand für die rechtliche Beurteilung. Den maßgeblichen Sachverhalt bilden demgegenüber die Tatsachen, die unter den Tatbestand der Entnahme zu subsumieren sind. In den Streitjahren ging es um andere Entnahmehandlungen und damit einen anderen Lebenssachverhalt als 1989.
Diese Auffassung wird im Übrigen auch durch die weitere Revisionsbegründung des FA bestätigt. Denn danach ist streitig, wann der Sachverhalt des Jahres 1992 zu rechtlichen Folgen führte. Insoweit geht es --anders als im vorliegend zu beurteilenden Zusammenhang-- um denselben Sachverhalt, der entweder, wie das FA meint, im Wirtschaftsjahr 1991/92 oder, nach der vorliegend angefochtenen Entscheidung des FG, im Wirtschaftsjahr 1992/93, steuerrechtlich zu erfassen ist. Es steht jedoch außer Frage, dass das FA diesen im Jahr 1992 verwirklichten Sachverhalt nicht bereits --rechtsirrig- im Jahr 1989 der Besteuerung unterworfen hatte.
2. Die Änderung kann auch nicht auf § 174 Abs. 3 AO gestützt werden. Die Vorschrift betrifft den Fall, dass ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden ist, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen wäre; stellt sich diese Annahme als unrichtig heraus, kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist, geändert werden. § 174 Abs. 3 AO setzt eine alternative Berücksichtigung des Sachverhalts in dem einen oder dem anderen Steuerbescheid voraus (Senatsurteil vom 15. Februar 2001 IV R 9/00, BFH/NV 2001, 1007; vgl. auch Senatsbeschluss vom 18. August 2005 IV B 167/04, BFHE 210, 210, BStBl II 2006, 158). Der Sachverhalt muss identisch sein (vgl. Senatsbeschluss vom 3. September 1997 IV B 166/96, BFH/NV 1998, 148, unter 2.b bb der Gründe). Daran fehlt es aus den unter II.1. dargelegten Gründen. Es bedarf daher keiner Prüfung, ob das FA --was sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen lässt-- den Sachverhalt in den nunmehr streitigen Steuerbescheiden erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt hatte, dass er in den früheren Steuerbescheiden zu berücksichtigen wäre.
3. Der Senat verkennt den Bedarf nach einer Änderungsmöglichkeit nicht, wenn das FA eine Entnahmehandlung in einem späteren Veranlagungszeitraum zunächst nicht berücksichtigt, weil es von einer früheren Entnahme ausgegangen ist, und sich diese Annahme später als rechtsirrig erweist. Von einer erweiternden Auslegung des § 174 Abs. 3 oder Abs. 4 AO hat der Senat jedoch abgesehen, weil die Änderungsmöglichkeit durch eine vorläufige Veranlagung nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO gewährleistet werden kann, wenn über die Entnahme im späteren Veranlagungszeitraum wegen der ungewissen weiteren Zugehörigkeit des Wirtschaftsguts zum Betriebsvermögen bis zum Abschluss des Rechtsstreits über den früheren Veranlagungszeitraum nicht abschließend entschieden werden kann. Denn zu den ungewissen Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuerschuld können auch präjudizielle Rechtsverhältnisse gehören; darunter fällt auch der Streit über den zutreffenden Ansatz eines Bilanzpostens in einem früheren Jahr (vgl. BFH-Beschluss vom 16. August 1995 VIII B 156/94, BFH/NV 1996, 125; BFH-Urteil vom 24. Februar 1977 VIII R 237/72, BFHE 121, 309, BStBl II 1977, 392 zu § 100 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 165 AO Rz 8; Klein/Rüsken, a.a.O., § 165 Rz 16, und Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 165 AO Rz 7 a.E.). So kann es sich verhalten, wenn über die Entnahme eines Wirtschaftsguts und damit über dessen Verbleiben im Betriebsvermögen in einem früheren Veranlagungszeitraum gestritten wird.
4. Die Frage, ob und ggf. zu welchem Zeitpunkt die Wohnung entnommen wurde, kann bei dieser Sachlage offenbleiben, weil der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1991 nicht mehr nach § 174 Abs. 3 oder Abs. 4 AO geändert werden konnte.
B. Revision der Kläger
Die Revision der Kläger war als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht fristgerecht eingelegt wurde, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren ist und das Revisionsbegehren vorliegend auch nicht Gegenstand einer Anschlussrevision sein konnte.
1. Zwar ist eine unzulässige Revision nach § 126 Abs. 1 FGO grundsätzlich durch Beschluss zu verwerfen. Haben aber beide Beteiligte Revision eingelegt, und ist davon die eine unbegründet, die andere unzulässig, kann der Senat insgesamt über beide Revisionen durch Urteil entscheiden (vgl. BFH-Urteile vom 1. Juni 1994 X R 40/91, BFHE 174, 442, BStBl II 1994, 752, unter II.2. der Gründe; vom 17. Februar 1971 I R 148/68, BFHE 101, 509, BStBl II 1971, 411; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 10 Rz 3, § 126 Rz 4, m.w.N.; Seer in Tipke/ Kruse, a.a.O., § 126 FGO Rz 8).
2. Die Kläger haben die Hauptrevision nicht dadurch zurückgenommen, dass die Revision auch als Anschlussrevision eingelegt wurde, weil Letzteres ausdrücklich nur hilfsweise und höchst vorsorglich geschehen ist (s. dazu im Einzelnen BFH-Urteil vom 20. September 1999 III R 33/97, BFHE 190, 266, BStBl II 2000, 208, unter II.B.1.c der Gründe).
3. Die Hauptrevision der Kläger ist unzulässig, weil sie nicht fristgerecht erhoben wurde.
a) Die Revision ist beim BFH innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich einzulegen (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO). Im Streitfall lief die Frist für die Kläger am 27. Juli 2005 ab; das Urteil war den Prozessbevollmächtigten der ersten Instanz am 27. Juni 2005 zugestellt wor-den. Die Revision ist jedoch erst am 29. August 2005 beim BFH eingegangen.
b) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht zu gewähren.
aa) Nach § 56 Abs. 1 FGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen; diese Frist beträgt bei Versäumung der Frist zur Begründung der Revision einen Monat (§ 56 Abs. 2 Satz 1 FGO).
bb) Im Streitfall gilt --entgegen der Auffassung des FA-- die Zwei-Wochen-Frist. Denn es geht vorliegend um die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision --die wie unter II.B.3.a dargelegt einen Monat beträgt--, nicht um die Versäumung der Frist zu ihrer Begründung, die nach § 120 Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz FGO zwei Monate beträgt, wenn die Revision --wie im Streitfall-- vom FG zugelassen wurde.
cc) Nach § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO sind die Tatsachen zur Begründung des Antrags bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (§ 56 Abs. 2 Satz 3 FGO).
Darzulegen ist, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegeben sind und dass die in § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO vorgeschriebene Antragsfrist von zwei Wochen gewahrt wurde (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 20. Oktober 1993 IX S 6/93, BFH/NV 1994, 331, m.w.N.). Deshalb müssen auch die Umstände dargelegt werden, aus denen sich ergibt, dass der Antragsteller die Wiedereinsetzung rechtzeitig nach Behebung des Hindernisses beantragt hat (BFH-Beschlüsse vom 5. Dezember 1990 II B 66/90, BFH/NV 1991, 335; vom 13. Oktober 1993 II B 130/93, BFH/NV 1994, 254; vom 27. August 1997 XI B 118, 119, 149/96, XI S 43, 44, 50/96, BFH/NV 1998, 617; Söhn in HHSp, § 56 FGO Rz 509).
Die schlüssig vorgetragenen Tatsachen sind glaubhaft zu machen (Gräber/Ruban, a.a.O., § 56 Rz 42 und 45, m.w.N.). Die Darlegung muss innerhalb der Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO erfolgen; allenfalls ihre Glaubhaftmachung kann später nachgeholt werden (BFH-Urteil vom 21. Oktober 1982 IV R 74/82, juris; BFH-Beschlüsse vom 29. März 1990 V R 44/86, BFH/NV 1991, 687, und in BFH/NV 1998, 617).
dd) Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Kläger nicht. Sie haben zwar vorgetragen, die Prozessbevollmächtigten im Revisionsverfahren hätten bei einer telefonischen Nachfrage in der Geschäftsstelle des IV. Senats des BFH vom fehlenden Eingang ihrer Revision erfahren, nachdem ihnen durch die Prozessbevollmächtigten der ersten Instanz die Revisionsschrift des FA übersandt worden sei, gleichzeitig aber noch keine Eingangsbestätigung des BFH vorgelegen habe. In der Begründung ihres Antrags haben sie jedoch nicht angegeben, wann dies geschehen sein soll. Erst nachdem das FA diesen Punkt aufgegriffen hat, haben sie mit Schreiben vom 14. November 2005 erklärt, sie hätten Mitte August 2005 Kenntnis von der Fristversäumnis erlangt. Die Darlegungsfrist war nach ihrem Vorbringen jedoch spätestens Ende August abgelaufen. Die Angabe ist überdies ungenau und ermöglicht keine exakte Überprüfung, ob die Zwei-Wochen-Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO durch den am 29. August 2005 gestellten Antrag eingehalten wurde.
ee) Ihr Vorbringen haben die Kläger insoweit auch nicht glaubhaft gemacht. Sie haben weder einen Auszug aus dem Posteingangsbuch wegen des Schreibens der Prozessbevollmächtigten der ersten Instanz im Zusammenhang mit der Revision des FA noch sonstige geeignete Nachweise für Art und Zeitpunkt der Kenntniserlangung von der Fristversäumnis vorgelegt. Das wäre jedoch umso mehr erforderlich gewesen, als der vorgetragene Geschehensablauf nicht ohne weiteres plausibel erscheint. Denn danach ist zwischen dem Eingang der Revisionsschrift des FA bei den Prozessbevollmächtigten der ersten Instanz (lt. deren Empfangsbekenntnis am 8. Juli 2005) und dem Zeitpunkt der Kenntniserlangung (Mitte August 2005) mehr als ein Monat verstrichen.
ff) Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob es zur Glaubhaftmachung der rechtzeitigen Übermittlung der Revision der Kläger --neben den eidesstattlichen Versicherungen der Personen, die mit der Absendung befasst waren-- der Vorlage einer Kopie des Fristenkontrollbuchs oder des Postausgangsbuchs bedurft hätte (vgl. dazu u.a. BFH-Beschluss vom 23. Dezember 2002 IV B 9/02, BFH/NV 2003, 786).
4. Die Revision der Kläger ist auch als Anschlussrevision (§ 155 FGO i.V.m. § 554 der Zivilprozessordnung --ZPO--) unzulässig.
a) Eine Anschlussrevision ist gegenüber der Hauptrevision (des anderen Beteiligten) akzessorisch. Sie hat lediglich die Bedeutung eines Antrags in deren Rahmen (BFH-Urteil in BFHE 190, 266, BStBl II 2000, 208, m.w.N.). Hat bei objektiver Klagehäufung ein Beteiligter Revision nur wegen eines Streitjahres eingelegt, kann daher der andere Beteiligte die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung nicht durch eine unselbständige Anschlussrevision auf ein anderes Streitjahr ausdehnen (BFH-Urteile vom 29. Juni 2004 IX R 26/03, BFHE 206, 418, BStBl II 2004, 995, unter II.2.a der Gründe, und vom 17. Oktober 1984 I R 22/79, BFHE 142, 276, BStBl II 1985, 69, unter II.1. der Gründe, m.w.N.; Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz 86 und 87, m.w.N.; Lange in HHSp, § 120 FGO Rz 300). Die Anschlussrevision der Kläger ist daher unzulässig, weil sie sich auf die Einkom-mensteuerfestsetzung 1992 bezieht und das FA Revision nur gegen die Einkommensteuerfestsetzung 1991 eingelegt hat.
b) Die Anschlussrevision muss ungeachtet dessen innerhalb eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung eingelegt werden (§ 155 FGO i.V.m. § 554 Abs. 2 Satz 2 ZPO; vgl. auch BFH-Urteile in BFHE 190, 266, BStBl II 2000, 208; vom 9. Mai 2000 VIII R 77/97, BFHE 192, 445, BStBl II 2000, 660, unter B. der Gründe; Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz 84). Auch daran fehlt es vorliegend. Die Revisionsbegründung des FA wurde den Klägern (den Prozessbevollmächtigten der ersten Instanz) am 8. Juli 2005 zugestellt. Die (Anschluss-)Revision wurde jedoch erst am 29. August 2005 eingelegt.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung dieser Frist kommt nicht in Betracht. Die Kläger haben insoweit keinen Antrag gestellt. Im Übrigen sind Gründe, die über die wegen der Versäumung der Revisionsfrist wiedergegebenen hinausgehen, nicht ersichtlich. Daher wird ergänzend auf die Gründe unter II.B.3.b verwiesen.
Fundstellen
Haufe-Index 1780875 |
BFH/NV 2007, 1813 |