Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Steuererlaß nach bestandskräftiger Steuerfestsetzung
Leitsatz (NV)
1. Bestandskräftig festgesetzte Steuern können nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich rechtzeitig gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren.
2. Ist der Steuerpflichtige nicht erlaßwürdig, so ist die Finanzbehörde auch bei Erlaßbedürftigkeit nicht zum Erlaß aus Billigkeitsgründen gezwungen.
3. Das Finanzgericht kann eine angefochtene Ermessensentscheidung nicht mit Erwägungen rechtfertigen, auf die die Finanzbehörde ihre Entscheidung nicht gestützt hat.
Normenkette
AO 1977 § 227; FGO § 102
Verfahrensgang
Tatbestand
Der im Jahre 1929 geborene Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb in den Jahren 1969 bis 1973 ein Kraftdroschkenunternehmen mit mehreren Fahrzeugen. Daneben war er zeitweise als Arbeitnehmer tätig.
Im Jahre 1974 fand bei dem Kläger eine Betriebsprüfung durch die Steuerfahndung statt, die sich auf die Jahre 1969 bis 1972 erstreckte. Der Prüfer erhöhte wegen vermuteter Einnahmeverkürzungen die erklärten Umsätze und Gewinne im Schätzungswege. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) folgte den Feststellungen des Prüfers und setzte die Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuer für den Prüfungszeitraum endgültig fest. Der Kläger ließ diese Bescheide ebenso bestandskräftig werden wie die auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhenden Steuerbescheide für 1973. Der Kläger wurde ferner im Hinblick auf die während der Betriebsprüfung getroffenen Feststellungen zu einer Geldstrafe wegen Steuerhinterziehung verurteilt.
Die für den Zeitraum 1969 bis 1973 im Jahre 1974 festgesetzten Steuern von insgesamt ca. 35 000 DM wurden vom Kläger, der seine gewerbl. Tätigkeit zwischenzeitlich aufgegeben hatte und in keinem festen Arbeitsverhältnis stand, nicht entrichtet. Zwangsvollstreckungsmaßnahmen des FA blieben ebenfalls ohne Erfolg.
Am 3. Dez. 1980 beantragte der Kläger den Erlaß der rückständigen Steuerschulden und Säumniszuschläge gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO 1977). Zur Begründung führte er aus, die auf den Feststellungen der Betriebsprüfung beruhenden Steuerfestsetzungen seien unzutreffend. Im Hinblick auf seine Vermögens- und Arbeitslosigkeit sei er zur Entrichtung der Steuern auch nicht in der Lage.
Der gegen die Ablehnung des Antrags auf Erlaß der rückständigen Steuern eingelegten Beschwerde half die Oberfinanzdirektion (OFD) nicht ab. Zur Begründung führte sie aus, daß es nicht Aufgabe des Erlaßverfahrens sei, einen rechtskräftig abgeschlossenen Steuerfall sachlich zu überprüfen, und daß auch ein Erlaß aus persönlichen Gründen mangels Erlaßwürdigkeit des Klägers nicht in Betracht komme. Die Säumniszuschläge hat das FA erlassen. Mit seiner Klage trug der Kläger vor, er habe bereits in der Schlußbesprechung, in der sein Bevollmächtigter wegen Erkrankung nicht anwesend war, die Prüfungsfeststellungen ausdrücklich beanstandet. Zur Einlegung von Rechtsbehelfen sei es nicht gekommen, weil er wegen der Kürze der Zeit keinen neuen Bevollmächtigten gefunden habe. Da der Betriebsprüfer Zuschätzungen in ungewöhnlicher Höhe (30 bis 50 v. H.) vorgenommen hätte, seien die Steuerfestsetzungen offenkundig fehlerhaft. Im übrigen sei er wegen Vermögenslosigkeit und Überschuldung zur Entrichtung der Steuern, auch langfristig, nicht in der Lage.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.
Mit seiner Revision rügt der Kläger Verletzung des § 227 AO 1977 und Verfahrensfehler.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben und das FA zu verpflichten, die rückständigen Steuern zu erlassen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
1. Nach § 227 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Entscheidung über ein Erlaßbegehren aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung, die von den Gerichten nur in den von § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gezogenen Grenzen überprüft werden kann (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
2. Auf der Grundlage der vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, daß die Ablehnung des vom Kläger begehrten Erlasses ermessensfehlerhaft zustande gekommen ist.
a) Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg auf sachliche Billigkeitsgründe berufen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) können Steuern, die bestandskräftig festgesetzt worden sind, nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (vgl. zuletzt Urteil vom 11. August 1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
aa) Im Streitfall fehlt es bereits an einer offensichtlich und eindeutig unrichtigen Steuerfestsetzung. Der Kläger begehrt den Erlaß von Steuern, die auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhen. Eine Schätzung von Besteuerungsgrundlagen ist durchzuführen, wenn die Bücher und Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen unvollständig oder formell oder sachlich unrichtig sind (vgl. § 162 Abs. 2 AO 1977, § 217 Abs. 2 Satz 2 der Reichsabgabenordnung - RAO -). Der Kläger, der die Schätzungsbefugnis des FA dem Grunde nach nicht in Abrede stellt, hält die vom Betriebsprüfer vorgenommenen Zuschätzungen für überhöht. Jede durch Schätzung ermittelte Besteuerungsgrundlage enthält jedoch einen Unsicherheitsbereich, der vom Wahrscheinlichkeitsgrad der Schätzung abhängig ist. Ob die Besteuerungsgrundlagen tatsächlich zu hoch angesetzt worden sind, läßt sich ohne eingehende Prüfung des vom Betriebsprüfer zugrunde gelegten Sachverhalts und der von ihm angewandten Schätzungsmethode nicht beurteilen. Es ist nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Finanzbehörde eine derartige Prüfung abgelehnt hat. Denn der Kläger hat im Rahmen des Billigkeitsverfahrens grundsätzlich keinen Anspruch auf nochmalige sachliche Überprüfung von bestandskräftig abgeschlossenen Steuerfällen (so schon BFH-Urteil vom 17. April 1956 I 218/55 U, BFHE 62, 510, BStBl III 1956, 190).
bb) Der Kläger hat auch nicht das seinerseits Erforderliche getan, um die nach seiner Auffassung zutreffende Festsetzung der Steuern zu erreichen.
Schon nach seinem eigenen Vorbringen kann nicht davon ausgegangen werden, daß es ihm nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die angebliche Fehlerhaftigkeit der Steuerbescheide rechtzeitig zu wehren. Es ist nicht zu ersehen, daß er etwa durch fehlende Mittel oder ein besonderes Maß an Unerfahrenheit oder durch ein außergewöhnliches Verhalten des FA veranlaßt worden wäre, keine Rechtsbehelfe einzulegen. Vielmehr will er sich bereits in der Schlußbesprechung gegen die Prüfungsfeststellungen zur Wehr gesetzt haben. Es bleibt deshalb unverständlich, warum er nicht gegen die auf den Feststellungen des Prüfers beruhenden Änderungsbescheide vorgegangen ist. Der Hinweis auf die krankheitsbedingte Verhinderung seines steuerlichen Beraters bei der Schlußbesprechung vermag dies weder zu erklären noch zu rechtfertigen.
b) Die Versagung des begehrten Erlasses ist auch nicht ermessensfehlerhaft, soweit die Finanzbehörde persönliche Billigkeitsgründe verneint hat.
Persönliche Unbilligkeit liegt vor, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde. Dies ist der Fall, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 26. Febr. 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl II 1987, 612). Auch wenn der Steuerpflichtige erlaßbedürftig ist, ist die Verwaltung nach allgemeiner Auffassung allerdings dann nicht zum Erlaß aus Billigkeitsgründen gezwungen, wenn es an der Erlaßwürdigkeit fehlt (vgl. BFH-Urteile vom 14. Nov. 1957 IV 418/56 U, BFHE 66, 398, BStBl III 1958, 153, und vom 29. April 1981 IV R 23/78, BFHE 133, 489, BStBl II 1981, 726; Tipke / Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, § 227 AO 1977 Tz. 42; v. Wallis in Hübschmann / Hepp / Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 227 AO 1977 Anm. 13). Erlaßwürdigkeit ist nicht gegeben, wenn der Steuerpflichtige durch sein Verhalten gegen die Interessen der Allgemeinheit verstößt. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn Steuern schuldhaft verkürzt werden (BFHE 66, 398, BStBl III 1958, 153).
aa) Die Finanzbehörde hat den Erlaß aus persönlichen Billigkeitsgründen bereits wegen fehlender Erlaßwürdigkeit des Klägers abgelehnt und hierbei entscheidend auf die festgestellten Steuerverkürzungen abgestellt. Diese Begründung läßt Ermessensfehler nicht erkennen, zumal der Kläger gerade wegen Verkürzung der Steuern strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden ist, deren Erlaß er begehrt. Auch im Hinblick auf das BFH-Urteil vom 2. März 1961 IV 126/60 U (BFHE 73, 53, BStBl III 1961, 288), wonach über die Erlaßwürdigkeit unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden ist, ergeben sich gegen die Entscheidung der Finanzbehörde keine Bedenken. Denn anders als im dort entschiedenen Fall hat der Kläger nichts getan, um die Folgen seines steuerunehrlichen Verhaltens zu beseitigen. Schließlich war die Finanzbehörde wegen der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers auch nicht gehalten, sich näher mit dessen Behauptung auseinanderzusetzen, diese Verurteilung sei zu Unrecht erfolgt.
bb) Es kommt demnach im Streitfall auf die Erlaßbedürftigkeit des Klägers, die vom FG ausdrücklich verneint worden ist, nicht an. Im übrigen war es dem FG verwehrt, die angefochtene Ermessensentscheidung mit Erwägungen zu rechtfertigen, auf die die Finanzbehörde ihre Entscheidung nicht gestützt hat. Denn das Gericht ist nicht berechtigt, sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltung zu setzen. Es würde in die der Finanzbehörde vorbehaltene Ermessensbefugnis auch eingreifen, wenn es anstelle der Verwaltung eine bisher noch nicht angestellte Ermessensprüfung vornehmen würde (vgl. BFH-Urteil vom 5. Mai 1977 IV R 116/75, BFHE 122, 283, BStBl II 1977, 639).
3. Da die Finanzbehörde im Rahmen des Billigkeitsverfahrens nicht verpflichtet war, die Einwendungen des Klägers gegen die Prüfungsfeststellungen sachlich zu überprüfen, geht auch die insoweit erhobene Rüge mangelnder Sachaufklärung durch das FG ins Leere. Es kann deshalb dahinstehen, ob die Verfahrensrüge überhaupt in zulässiger Form erhoben worden ist.
Fundstellen
Haufe-Index 415670 |
BFH/NV 1989, 432 |