Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Einwilligung des Vorstehers des Finanzamts zur Sprungberufung unterliegt als Prozeßerklärung nicht der Nachprüfung des Finanzgerichts. Die Zurückverweisung an das Finanzamt ist nur zulässig, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung des Finanzgerichts die eng umgrenzten Voraussetzungen des § 284 Abs. 1 Satz 2 AO erfüllt sind.
Normenkette
AO § 261; FGO § 45/1; AO § 284/1; FGO § 100/2/2
Tatbestand
Für bestimmte Beförderungen der Bfin. in der Zeit vom 26. Januar 1956 bis 25 April 1958 war die Beförderungsteuer nur in Höhe von 1 Dpf. je tkm erhoben worden. Durch Bescheid vom 11. Dezember 1962 hat das Finanzamt die Beförderungsteuer zum vollen Satz der Beförderungsteuer für Werkfernverkehr nachgefordert. Dagegen hat die Bgin. am 4. Januar 1963 beim Finanzamt Einspruch und gleichzeitig beim Finanzgericht Berufung eingelegt. In dem Begleitschreiben an das Finanzamt hat die Bfin. gebeten, in die Sprungberufung einzuwilligen und diesfalls den Einspruch als nicht erhoben zu betrachten. Der Vorsteher des Finanzamts hat am 29. Januar 1963 die Einwilligung erteilt.
Das Finanzgericht hat entschieden, die Berufung sei als Einspruch zu behandeln, und hat die Sache an das Finanzamt zurückverwiesen. Abweichend von dem Urteil des Bundesfinanzhofs VII 211/57 U vom 4. März 1959 (BStBl 1959 III S. 222, Slg. Bd. 68 S. 583) hält es sich für befugt, die Einwilligung des Vorstehers des Finanzamts nachzuprüfen. Deren Berechtigung verneint es, weil der Sachverhalt nicht genügend geklärt sei.
Entscheidungsgründe
Die Rb. der Oberfinanzdirektion ist begründet.
Gegen Steuerbescheide ist durch § 261 Satz 1 AO die Berufung ohne vorgängiges Einspruchsverfahren (§§ 229, 259 Abs. 1, 212 AO) eröffnet, wenn der Steuerpflichtige statt des Einspruchs Berufung einlegt und der Vorsteher des Finanzamts innerhalb eines Monats (von der Einlegung des Rechtsmittels ab gerechnet) einwilligt. Diese Voraussetzungen waren erfüllt. Das Finanzgericht hatte demzufolge über die Berufung zu entscheiden. Es konnte die Sache nicht wegen mangelnder Aufklärung an das Finanzamt zurückverweisen (ß 284 Abs. 1 Satz 1 AO); die eingeschränkten Voraussetzungen einer Ausnahme (ß 284 Abs. 1 Satz 2 AO) waren nicht erfüllt. § 284 Abs. 1 Satz 2 AO gilt für das Urteil über eine Sprungberufung (ß 261 Satz 1 AO) gleichermaßen wie für das finanzgerichtliche Urteil gegenüber einer Einspruchsentscheidung (ß 263 AO) des Finanzamts (Urteil des Reichsfinanzhofs V A 192/35 vom 8. Mai 1936, RStBl 1936 S. 598). Entgegen Tipke (Reichsabgabenordnung, 1963, § 261 Tz. 5; Steuerrechtsprechung in Karteiform, Anmerk. zu § 261 AO Rechtsspruch 11) sind die besonderen Erfordernisse des § 284 Abs. 1 Satz 2 AO, insbesondere die Ersparung von Kosten, Arbeit oder Zeit, nicht schon deshalb erfüllt, weil es - nach Ansicht des Finanzgerichts - aus diesen Gründen zweckmäßiger gewesen wäre, zuvor das Einspruchsverfahren durchzuführen. Maßgebend ist vielmehr, ob diese besonderen Gründe objektiv zu dem Zeitpunkt vorliegen, in dem das Finanzgericht entscheidet. Mehr ist auch dem Urteil des Reichsfinanzhofs V A 192/35 (a. a. O.) nicht zu entnehmen.
Die Zuständigkeit des Finanzgerichts ist durch die übereinstimmenden Erklärungen beider Parteien gemäß § 261 Satz 1 AO begründet worden. Das Finanzgericht war nicht befugt, sich über die Einwilligung des Vorstehers des Finanzamts hinwegzusetzen. Denn sie war keinesfalls nichtig. Ihre Rechtmäßigkeit war nicht Gegenstand des von dem Finanzgericht zu entscheidenden Streits (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs VII 211/57 U, a. a. O.; VI 32/62 vom 19. Juli 1963, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1964 Nr. 27 S. 28).
Die nach § 261 AO erforderliche Einwilligung des Vorstehers des Finanzamts ist - ebenso wie in Zivilsachen die Einwilligung zur Sprungrevision (ß 566 a Abs. 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) - eine Prozeßerklärung des Anfechtungsgegners. Das Gericht kann den Parteien nicht vorschreiben, welche Anträge sie zu stellen haben. Zwar darf das Finanzamt dem Finanzgericht keine Ermittlungen aufbürden, die ihm selbst obliegen würden; der Vorsteher des Finanzamts soll der Sprungberufung nur zustimmen, wenn die Sache im Einspruchsverfahren nicht gefördert werden kann oder wenn überwiegende Interessen des Steuerpflichtigen eine unverzügliche gerichtliche Entscheidung erfordern. Die Gerichte können die Verwaltung aber nur insoweit überwachen, als sie Rechtsprechung ausüben (Art. 19 Abs. 4 Satz 1, Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Art. 92 des Grundgesetzes - GG -); eine Dienstaufsicht über die Finanzverwaltung steht ihnen nicht zu (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gab dem Finanzgericht keine Zuständigkeit. Den der Berufungsführer kann nicht dadurch in einem Recht verletzt werden, daß der Vorsteher des Finanzamts das gewünschte Rechtsmittel zuläßt (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs VII 211/57 U, a. a. O.).
§ 261 AO dient dem Interesse des Steuerpflichtigen. Er kann wählen, ob er Einspruch oder - vorbehaltlich der Einwilligung des Vorstehers des Finanzamts - Sprungberufung einlegen will. Auch wenn der Vorsteher des Finanzamts einwilligt, bleibt die Steuerpflichtige (Berufungsführerin) diejenige, die das Gericht angerufen hat. Daher kann die "Bindung" an die Einwilligungserklärung des Vorstehers des Finanzamts nicht, wie die Steuerpflichtige (nunmehrige Bgin.) meint, die Rechtsstaatlichkeit verletzen. Denn die Einwilligung ermöglicht dem Gericht ja gerade, dem Rechtsschutzbegehren des Berufungsführers nachzukommen.
§ 261 AO entspricht weitgehend den Vorschriften über die Sprungrevision in §§ 566 a ZPO, 335 der Strafprozeßordnung. E beruht nicht auf der überholten Auffassung der AO, daß die Finanzgerichte das Steuerfestsetzungsverfahren der Finanzverwaltungsbehörden fortzuführen haben. Die insoweit und aus dem Fehlen einer Finanzgerichtsordnung (Art. 108 Abs. 5 GG) erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken des Finanzgerichts gehen daher fehl. Aus dem ganz anders aufgebauten § 68 der Verwaltungsgerichtsordnung kann man nichts für die Auslegung des § 261 AO entnehmen; dasselbe gilt hinsichtlich des § 79 des Sozialgerichtsgesetzes.
Auf § 284 Abs. 1 Satz 2 AO hat sich das Finanzgericht (außer dessen Zitierung im vorletzten Absatz der Gründe) nicht berufen. Dessen Voraussetzungen liegen, wie bereits eingangs ausgeführt worden ist, nicht vor. Demzufolge war das angefochtene Urteil aufzuheben (ß 296 Abs. 1, § 288 Ziff. 1 AO) und die Sache an das Finanzgericht zur sachlichen Entscheidung zurückzuverweisen (ß 296 Abs. 3 AO).
Fundstellen
Haufe-Index 411658 |
BStBl III 1965, 461 |
BFHE 1965, 595 |
BFHE 82, 595 |