Leitsatz (amtlich)
1. Das FG hat über einen unzulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 3 FGO durch Urteil zu erkennen.
2. Entscheidet das FG dagegen durch Beschluß (Inkorrekte Entscheidung), ist als Rechtsmittel sowohl die Beschwerde als auch die Revision zulässig (Grundsatz der Meistbegünstigung). Der BFH entscheidet über das eingelegte Rechtsmittel in der Form und in der Besetzung, in der er bei einer Entscheidung des FG durch Urteil zu erkennen hätte.
2. Die Entscheidung, mit der eine von einem vollmachtlosen Vertreter eingelegte Klage mangels Vollmacht als unzulässig verworfen wird, ist auch dem angeblich Vertretenen zuzustellen.
Normenkette
FGO § 90 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Steuerbevollmächtige ... hat im Namen der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) Klagen erhoben. Nachdem er trotz mehrfacher Aufforderung eine Prozeßvollmacht der Klägerin nicht vorgelegt hatte, hat das Gericht durch Vorbescheide die Klagen abgewiesen und die Kosten der Rechtsstreite dem vollmachtlosen Prozeßvertreter auferlegt. Die Vorbescheide wurden dem vollmachtlosen Vertreter am 26. Juli 1977 zugestellt.
Die Klägerin, nunmehr vertreten durch den Steuerberater ..., bat mit Schreiben vom 13. April 1978 das Finanzgericht (FG) um die Zusendung von Abschriften der rechtskräftigen Urteile. Die Geschäftsstelle des FG teilte dem Steuerberater mit, daß die Vorbescheide am 26. Juli 1977 dem Steuerbevollmächtigten ... zugestellt worden seien und seit dem 30. August 1977 als Urteile wirkten.
Daraufhin bat der Steuerberater mit Schreiben vom 5. Mai 1978 um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Nach einer Anfrage durch das FG, was er als die versäumte Rechtshandlung im Sinne des § 56 FGO betrachte, beantragte der Steuerberater unter Hinweis auf den Wiedereinsetzungsantrag die Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung.
Das FG lehnte nach mündlicher Verhandlung den Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO durch Beschluß mit der Begründung ab, daß er verspätet eingelegt und damit unzulässig sei. ...
Gegen diesen Beschluß wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde. ...
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
I.
Bedenken gegen die Zulässigkeit der Beschwerde bestehen nicht, obwohl das FG über den Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO durch Urteil statt - wie im Streitfall geschehen - durch Beschluß hätte entscheiden müssen.
1. Die Finanzgerichtsordnung enthält keine Bestimmung darüber, in welcher Form über die Unzulässigkeit eines Antrags auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO zu entscheiden ist. Für einen vor dem Bundesfinanzhof (BFH) gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung hat der BFH mit Beschluß vom 22. Oktober 1971 VI R 159/68 (BFHE 103, 138, BStBl II 1971, 812) entschieden, daß die Unzulässigkeit des Antrags in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluß auszusprechen ist. In welcher Form ein FG im erstinstanzlichen Verfahren über die Unzulässigkeit eines Antrags nach § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO zu befinden hat, ist dagegen höchstrichterlich bisher nicht geklärt.
Ein Teil der Rechtsprechung der FG und der Literatur vertritt die Auffassung, daß die FG durch Urteil entscheiden müssen, ein anderer Teil hält - wie im Verfahren vor dem BFH - den Beschluß für die richtige Entscheidungsform (zum Stand der Meinungen vgl. Gräber, Deutsche Steuerzeitung 1981 S. 296 f. - DStZ 1981, 296 f. -). Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß die FG - anders als der BFH - die Unzulässigkeit des Antrags auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO durch Urteil auszusprechen haben. § 126 FGO, wonach die unzulässige Revision durch Beschluß zu verwerfen ist, gilt nur im Revisionsverfahren. Eine analoge Anwendung des § 126 Abs. 1 FGO kommt darum als Begründung für eine Entscheidung durch Beschluß im FG-Verfahren nicht in Betracht (vgl. FG des Saarlandes vom 16. November 1979, Entscheidungen der Finanzgerichte 1980 S. 137 - EFG 1980, 137 -; FG Köln vom 14. Oktober 1980, EFG 1981, 100). Das Fehlen einer dem § 126 Abs. 1 FGO entsprechenden Vorschrift spricht im Gegenteil für die Notwendigkeit einer Entscheidung durch Urteil. Dies wird bestätigt durch § 97 FGO, wonach über die Zulässigkeit der Klage vorab durch Zwischen"urteil" entschieden werden kann. Das Gesetz macht hier ebensowenig wie in § 95 FGO hinsichtlich der Entscheidungsform einen Unterschied zwischen einer zulässigen und einer unzulässigen Klage. Die FG dürfen auch über die Wiedereinsetzung, die die Zulässigkeit der Klage betrifft, nur durch Urteil entscheiden; denn die vorgezogene Entscheidung muß in der Form ergehen, in der über die versäumte Rechtshandlung zu befinden ist (vgl. BFH-Urteil vom 26. Februar 1969 I K 1/68, BFHE 95, 86, BStBl II 1969, 320). Nichts anderes kann aber für den Antrag auf mündliche Verhandlung gelten, der - wie die Wiedereinsetzung - Teil des die endgültige Entscheidung in der Sache betreffenden Vorganges ist (vgl. Gräber, DStZ 1981, 296, 297).
2. Hat das FG im Streitfall eine der Art nach falsche Entscheidung getroffen, darf der Klägerin kein Nachteil dadurch erwachsen, daß sie von dem Rechtsmittel Gebrauch gemacht hat, auf das sie durch das Gericht hingewiesen worden ist. Vielmehr ist in einem solchen Fall nach dem Grundsatz der sog. Meistbegünstigung sowohl das Rechtsmittel zulässig, das gegen die gewählte Entscheidungsform zulässig wäre als auch das Rechtsmittel, das gegen die richtige Entscheidungsform zulässig gewesen wäre (vgl. BFH-Beschluß vom 18. November 1966 III B 18/66, BFHE 87, 335, BStBl III 1967, 142).
II.
Die Beschwerde ist auch begründet.
Der Antrag der Klägerin auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO ist rechtzeitig gestellt worden. Der Vorbescheid des FG gilt als nicht ergangen (§ 90 Abs. 3 Satz 3 FGO).
1. Gemäß § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO kann jeder der Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung eines Vorbescheids mündliche Verhandlung beantragen. Nach dieser Bestimmung beginnt die Frist, in deren Verlauf ein Beteiligter den Antrag auf mündliche Verhandlung stellen kann, erst zu laufen, wenn ihm der Vorbescheid wirksam zugestellt worden ist.
Die Klägerin ist Beteiligte an dem finanzgerichtlichen Verfahren, das der Steuerbevollmächtigte ... als vollmachtloser Vertreter in ihrem Namen angestrengt hat (so die ständige Rechtsprechung des BFH und die überwiegende Auffassung im Schrifttum; vgl. unter anderem Urteil vom 17. Oktober 1973 II R 166/71, BFHE 111, 221, BStBl II 1974, 218; Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 62 FGO Tz. 10; Gräber, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 62 Anm. 17; Ziemer/Birkholz, Kommentar zur Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 62 Tz. 27, jeweils mit weiteren Nachweisen). Der in diesem Verfahren ergangene Vorbescheid hätte ihr demnach zugestellt werden müssen (§ 106 FGO i. V. m. § 104 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz FGO).
Der Vorbescheid ist der Klägerin aber nicht wirksam zugestellt worden. Ihr persönlich ist keine Ausfertigung des Vorbescheids zugestellt worden. Auch die Zustellung des Vorbescheids an den Steuerbevollmächtigten ... ist gegenüber der Klägerin nicht wirksam. Zustellungen des Gerichts sind nach § 62 Abs. 3 Satz 3 FGO an einen Vertreter zu richten, wenn er zum Bevollmächtigten bestellt worden ist. Bestellt im Sinne des § 62 Abs. 3 Satz 3 FGO ist ein Bevollmächtigter nur dann, wenn die ihm schriftlich erteilte Vollmacht dem FG vorliegt. Das ergibt sich aus § 62 Abs. 3 Sätze 1 und 2 FGO, wonach die Vollmacht schriftlich zu erteilen ist und nachgereicht werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 10. August 1976 VII R 95/75, BFHE 119, 391, BStBl II 1976, 689). Dem FG hat bis zur Zustellung des Vorbescheids am 26. Juli 1977 an den Steuerbevollmächtigten ... keine auf diesen lautende Vollmacht der Klägerin vorgelegen.
Da die Frist nach § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO mangels wirksamer Zustellung des Vorbescheids der Klägerin gegenüber nicht in Lauf gesetzt worden ist, war ihr Antrag auf mündliche Verhandlung vom 1. August 1978 rechtzeitig. Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist damit gegenstandslos. Auf die von der Klägerin erhobene Verfahrensrüge (§ 76 Abs. 2 FGO) braucht nicht eingegangen zu werden.
2. Der Senat entscheidet in der Besetzung von fünf Richtern (§ 10 Abs. 3 1. Halbsatz FGO) durch Vorbescheid.
Nach § 132 FGO hat der BFH zwar über eine Beschwerde - in der Besetzung von drei Richtern (§ 10 Abs. 3 2. Halbsatz FGO) - durch Beschluß zu entscheiden. § 132 FGO findet indes keine Anwendung, wenn das Rechtsmittel, über das zu entscheiden ist, nur nach dem Grundsatz der sog. Meistbegünstigung als Beschwerde zulässig ist. Der Meistbegünstigungsgrundsatz hat allein den Zweck, den Beteiligten die Anfechtung mit dem durch die unrichtige Form der Entscheidung vorgezeichneten Rechtsmittel zu ermöglichen. Er darf jedoch nicht dazu führen, daß durch eine der Art nach falsche Entscheidung der unteren Instanz die Entscheidungsform und damit in der Regel auch die Besetzung des Rechtsmittelgerichts verändert wird. Der BFH befindet darum in der Form, in der er bei einer Entscheidung des FG durch Urteil und dem dagegen gegebenen Rechtsmittel der Revision zu entscheiden gehabt hätte (vgl. dazu Beschluß des Bundesgerichtshof vom 24. November 1965 VIII ZR 168/65, Monatsschrift für Deutsches Recht 1966 S. 232).
Fundstellen
Haufe-Index 74157 |
BStBl II 1982, 128 |
BFHE 1981, 216 |