Leitsatz (amtlich)
Die Rechtsfolge des § 126 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 tritt nur ein, wenn die fehlende Begründung des Steuerbescheids oder die unterlassene Anhörung vor einer beabsichtigten Abweichung von der Steuererklärung ursächlich für das Versäumen der Rechtsbehelfsfrist war.
Normenkette
AO 1977 § 91 Abs. 1, § 110 Abs. 1-2, § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 3, § 157 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die für das Streitjahr 1975 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt wurden. Der Kläger betreibt eine Tankstelle, die Klägerin eine Gemischtwarenhandlung. In der Einkommensteuererklärung 1975 schätzten die Kläger den Gewinn aus der Gemischtwarenhandlung auf 15 029 DM, indem sie den Gewinn durch Ansatz eines Vomhundertsatzes von 6 auf den wirtschaftlichen Umsatz in Kolonialwaren von 250 485 DM ermittelten.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) schätzte in dem am 13. Juli 1977 zur Post gegebenen Einkommensteuerbescheid den Gewinn aus der Gemischtwarenhandlung auf 9 v. H. des wirtschaftlichen Umsatzes = 22 531 DM. Die Einkommensteuer wurde auf 4 328 DM festgesetzt. In der Anlage zum Bescheid ist ausgeführt: "Einkünfte aus Gewerbebetrieb Ehefrau. Der Gewinn wurde mit 9 % des wirtschaftlichen Umsatzes geschätzt."
Mit Schreiben vom 21. September 1977, das beim FA am 22. September 1977 einging, legte der Prozeßbevollmächtigte der Kläger Einspruch ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung wurde vorgetragen, das FA sei von der Steuererklärung zum Nachteil der Kläger abgewichen, ohne diese vorher, wie § 91 der Abgabenordnung (AO 1977) vorschreibe, zu hören. Wegen der unterlassenen Anhörung sei die Fristversäumnis nach § 126 AO 1977 nicht als verschuldet anzusehen. Der in der Einkommensteuererklärung angegebene Reingewinn von 6 v. H. des wirtschaftlichen Umsatzes sei zutreffend, weil eine Überprüfung der Rohgewinnaufschläge nur einen Durchschnittsaufschlag von 14,32 v. H. ergeben habe. Durch Schreiben vom 31. Oktober 1977 ließen die Kläger mitteilen, die rechtzeitige Anfechtung des Einkommensteuerbescheids sei deshalb unterblieben, weil sie der Meinung gewesen seien, die Abweichung von der Steuererklärung sei zwischen dem FA und ihrem Prozeßbevollmächtigten besprochen worden, und sie den Steuerbescheid deshalb für richtig gehalten hätten.
Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, weil die unterbliebene Anhörung für die Säumnis nicht ursächlich gewesen sei; die Abweichung von der Erklärung sei im Steuerbescheid erläutert worden.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führt aus: Der Einspruch sei verspätet eingelegt worden. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren. Auch § 126 Abs. 3 AO 1977 ermögliche dies nicht. Der Einkommensteuerbescheid 1975 sei begründet worden. Eine Anhörung der Kläger vor Erlaß des Steuerbescheids sei nicht erforderlich gewesen, denn das FA sei nicht von den in der Steuererklärung angegebenen Tatsachen zuungunsten der Kläger abgewichen. Ebensowenig wie der Gewinn selbst sei seine Schätzung eine Tatsache. Die Schätzung des Reingewinns stelle nur eine rechtliche Schlußfolgerung aus der Tatsache des wirtschaftlichen Umsatzes dar.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung der §§ 91, 110, 126 AO 1977. Der in § 91 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 dem Beteiligten verliehene Anspruch, sich zu Tatsachen zu äußern, umfasse - verfassungskonform ausgelegt - das Recht, Rechtsausführungen zum Sachverhalt zu machen. Der Beteiligte dürfe auch in rechtlicher Beziehung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen Stellung nehmen und sei insbesondere zu hören, falls erst rechtliche Ausführungen das tatsächliche Vorbringen für die Finanzbehörde verständlich machten. Da die Unterlassung der Anhörung für die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist ursächlich gewesen sei, sei den Klägern entgegen der Auffassung des FG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Die Kläger beantragen, das FG-Urteil und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Entscheidung zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, daß die Kläger verspätet Einspruch eingelegt haben und daß ihnen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren war.
1. Der Einspruch gegen einen Steuerbescheid ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, gilt mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist (§ 355 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 348 Abs. 1 Nr. 1, § 122 Abs. 2 AO 1977).
Da das FA den Einkommensteuerbescheid am 13. Juli 1977 zur Post gegeben hatte, endete die Einspruchsfrist im Streitfall mit Ablauf des 16. August 1977. Diese Frist haben die Kläger nicht eingehalten, denn sie haben erst am 22. September 1977 Einspruch eingelegt.
2. Die Auffassung des FG, daß den Klägern Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden kann, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Nach § 110 Abs. 1 AO 1977 kann auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Das Verschulden eines Vertreters ist dem Vertretenen zuzurechnen. Fehlt einem Verwaltungsakt die erforderliche Begründung oder ist die erforderliche Anhörung eines Beteiligten vor Erlaß des Verwaltungsakts unterblieben und ist dadurch die rechtzeitige Anfechtung des Verwaltungsakts versäumt worden, so gilt die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist als nicht verschuldet (§ 126 Abs. 3 Satz 1 AO 1977). Das für die Wiedereinsetzungsfrist nach § 110 Abs. 2 AO 1977 maßgebende Ereignis tritt im Zeitpunkt der Nachholung der unterlassenen Verfahrenshandlung ein (§ 126 Abs. 3 Satz 2 AO 1977).
a) Die Voraussetzungen des § 126 Abs. 3 AO 1977, unter denen die Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist als nicht verschuldet gilt, liegen im Streitfall nicht vor.
aa) Der Steuerbescheid ist ausreichend begründet worden.
Ein schriftlicher Verwaltungsakt (dazu gehört der Steuerbescheid nach § 157 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) ist schriftlich zu begründen, soweit dies zu seinem Verständnis erforderlich ist (§ 121 Abs. 1 AO 1977). Einer Begründung bedarf es nicht, soweit demjenigen, für den der Verwaltungsakt bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, die Auffassung der Finanzbehörde über die Sach- und Rechtslage bereits bekannt oder auch ohne schriftliche Begründung für ihn ohne weiteres erkennbar ist (§ 121 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977). Schriftliche Steuerbescheide müssen die festgesetzte Steuer nach Art und Betrag bezeichnen und angeben, wer die Steuer schuldet (§ 157 Abs. 1 Satz 2 AO 1977).
Diesen Vorschriften ist im Streitfall in ausreichendem Umfang Rechnung getragen. Das FA hat die Besteuerungsgrundlagen den Klägern im Steuerbescheid mitgeteilt. Soweit es bei der Veranlagung von den Angaben in der Steuererklärung abwich, hat es die Abweichung erläutert. Der Hinweis, daß der Gewinn aus der Gemischtwarenhandlung auf 9 v. H. des wirtschaftlichen Umsatzes geschätzt werde, genügt, um die Abweichung gegenüber den Angaben in der Steuererklärung, in der der Gewinn mit 6 v. H. des wirtschaftlichen Umsatzes angegeben war, ausreichend zu begründen.
bb) Wiedereinsetzung ist nicht deshalb geboten, weil es das FA unterließ, die Kläger vor Erlaß des Steuerbescheids auf die beabsichtigte Höherschätzung des Gewinns hinzuweisen und hierzu anzuhören.
Nach § 91 Abs. 1 AO 1977 soll, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit gegeben werden, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Dies gilt insbesondere, wenn von dem in der Steuererklärung erklärten Sachverhalt zuungunsten des Steuerpflichtigen wesentlich abgewichen werden soll.
Der Senat läßt dahinstehen, ob er dem FG darin folgen könnte, eine Verpflichtung zur Anhörung aufgrund dieser Vorschrift sei im Streitfall nicht gegeben, weil das FA nicht von einer erklärten Tatsache zuungunsten der Steuerpflichtigen abgewichen sei, sondern lediglich eine andere rechtliche Schlußfolgerung gezogen habe (zur Gewährung rechtlichen Gehörs in Schätzungssachen vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 2. Februar 1982 VIII R 65/80, BFHE 135, 158, BStBl II 1982, 409 ). Selbst wenn für das FA eine Verpflichtung zur Anhörung bestanden haben sollte, könnte die unterlassene Anhörung nicht zur Wiedereinsetzung führen, weil die unterlassene Anhörung nicht ursächlich für die Versäumung der Einspruchsfrist war.
Die Rechtsfolge des § 126 Abs. 3 Satz 1 AO 1977, daß die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist unter bestimmten Voraussetzungen als nicht verschuldet gilt, tritt nur ein, wenn das Fehlen der Begründung oder das Unterbleiben der Anhörung ursächlich für die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist war (BFH-Urteil vom 30. Juli 1980 I R 148/79, BFHE 131, 270, BStBl II 1981, 3 ; Urteil des FG Hamburg vom 2. Dezember 1981 VI 217/78, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1982, 274; Urteil des FG Baden-Württemberg vom 17. März 1983 III 346/80, EFG 1983, 586; Spanner in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 126 AO 1977 Anm. 18; Förster in Koch, Abgabenordnung - AO 1977, 2. Aufl., § 126 Rz. 11; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 126 AO 1977 Anm. 4; Schlücking, Betriebs-Berater - BB - 1982, 1727; Apitz, Deutsches Steuerrecht - DStR - 1984, 584). Ob das Fehlen der Begründung oder das Unterbleiben der Anhörung ursächlich ist, wird sich häufig nur schwer feststellen lassen. Im Zweifel wird man zugunsten des Steuerpflichtigen entscheiden müssen (Spanner in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 126 AO 1977 Anm. 20; Förster in Koch, a. a. O., § 126 Rz. 11; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 126 AO 1977 Tz. 4; Schlücking, BB 1982, 1727).
Im Streitfall ist die unterlassene Anhörung der Kläger zu der vom FA beabsichtigten Schätzung des Gewinns mit 9 v. H. des wirtschaftlichen Umsatzes für die Versäumung der Einspruchsfrist nicht ursächlich gewesen. Die Kläger haben in ihrem Schreiben vom 31. Oktober 1977 selbst mitgeteilt, daß die rechtzeitige Anfechtung des Einkommensteuerbescheids deshalb unterblieben sei, weil sie der Meinung gewesen seien, die Abweichung von der Steuererklärung sei zwischen dem FA und ihrem Prozeßbevollmächtigten besprochen worden, und weil sie deshalb den Steuerbescheid für richtig gehalten hätten.
Die unterbliebene Anhörung ist aber auch deshalb für die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist nicht ursächlich, weil die Kläger im Steuerbescheid darauf hingewiesen worden sind, daß der Gewinn aus der Gemischtwarenhandlung mit 9 v. H. des wirtschaftlichen Umsatzes angesetzt worden ist. Dadurch erhielten die Kläger Gelegenheit, sich gegen die Höherschätzung des Gewinns innerhalb der Rechtsbehelfsfrist zu wenden.
b) Danach bedürfte es zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO 1977 der Feststellung, daß die Kläger ohne Verschulden verhindert waren, die Einspruchsfrist einzuhalten. Diese Feststellung kann nicht getroffen werden.
Nach Eingang des Bescheids wäre es Sache der Kläger gewesen, mit ihrem Steuerberater in Verbindung zu treten und mit seiner Hilfe die Richtigkeit des Steuerbescheids zu überprüfen. Aus der Rechtsbehelfsbelehrung war den Klägern bekannt, daß nach Ablauf der Einspruchsfrist der Bescheid unanfechtbar werden würde. Es war ihr Risiko, wenn sie gleichwohl darauf vertraut haben, der Bescheid sei rechtmäßig.
Fundstellen
Haufe-Index 426149 |
BStBl II 1985, 601 |
BFHE 1985, 106 |