Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO können grundsätzlich nur vor Festsetzung eines Steueranspruchs erlassen werden. Nach Festsetzung des Steueranspruchs sind Billigkeitsmaßnahmen im allgemeinen durch Erlaß oder Stundung der Steuer zu treffen.
Es ist im allgemeinen kein Fehlgebrauch des Ermessens, wenn die Finanzverwaltungsbehörde einen Antrag auf Gewährung von Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO als Stundungsantrag behandeln.
Die Steuerpflichtigen haben im allgemeinen keinen Anspruch darauf, daß ein rechtskräftig festgesetzter Steueranspruch im Billigkeitsverfahren nochmals sachlich geprüft wird.
Normenkette
AO § 131
Tatbestand
Die Beschwerdeführerin (Bfin.), eine GmbH, hatte einen Umsatzbonus ihrer Lieferfirmen jeweils erst im Jahr der tatsächlichen Vereinnahmung gebucht. Auf Grund einer Betriebsprüfung setzte das Finanzamt die Ansprüche jeweils bereits für das Jahr an, zu dem sie gehörten. Die Gewinne erhöhten sich dadurch für 1949 um 7.000 DM, für 1950 um 6.000 DM und für 1951 um 3.000 DM. Die Bfin. focht die Berichtigungsveranlagungen nicht an, nachdem ihr das Finanzamt Ratenzahlungen für die Mehrsteuern in Aussicht gestellt und gewährt hatte. Am 15. November 1953 beantragte sie unter Berufung auf § 131 der Reichsabgabenordnung (AO), die Körperschaftsteuer für 1949 bis 1951 so festzusetzen, als wenn der Bonus erst im Jahr der Vereinnahmung versteuert worden wäre. Das Finanzamt lehnte diesen Antrag ab. Die Oberfinanzdirektion wies die Beschwerde als unbegründet zurück.
Auch die Berufung hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht führte aus, Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 AO setzten voraus, daß entweder die Einziehung der Steuer nach Lage des Falles unbillig sei oder die Anwendung des Gesetzestatbestands selbst zu einem unbilligen Ergebnis führe. Diese Voraussetzungen seien hier nicht gegeben. Die Einziehung der Steuer sei nicht unbillig. Infolge der Aktivierung der Ansprüche sei die Körperschaftsteuer für die Veranlagungszeiträume 1949 bis 1951 insgesamt nicht höher, sondern sogar um 1.300 DM niedriger, als wenn die Bfin. den Bonus im Jahr der Vereinnahmung erfaßt hätte. Das beruhe darauf, daß der Körperschaftsteuersatz im Jahre 1951 von 50 v. H. auf 60 v. H. erhöht worden sei und infolge der änderung der Bilanzierungsmethode ein höherer Betrag zu dem günstigeren Steuersatz hätte versteuert werden können. Die Bfin. habe infolge der gewährten Stundung die Steuer tatsächlich nicht früher entrichtet, als wenn sie den Bonus erst im Jahr der Vereinnahmung erfaßt hätte. Die Einziehung der Steuer sei auch nicht, wie die Bfin. behaupte, unbillig, weil sie durch die Einziehung der Steuer in der Beseitigung der Kriegsschäden gehindert werde. Die Bfin. habe ihren Kriegsschaden bereits weitgehend beseitigt und habe wesentlich an dem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung teilgenommen. Die Anwendung des Gesetzestatbestands selbst führe auch nicht zu einem unbilligen Ergebnis. Das Finanzamt habe mit Recht die Ansprüche auf den Bonus aktiviert.
Mit der Rechtsbeschwerde (Rb.) beantragt die Bfin., nach § 131 AO den Bonus für 1949 bis 1951 bei der Veranlagung für diese Zeiträume außer Betracht zu lassen und ihn erst zu einem späteren, vom Bundesfinanzhof zu bestimmenden Zeitpunkt zu erfassen, damit sie ihre Kriegsschäden beseitigen könne. Die Bfin. führt im einzelnen aus, der Bonus sei ihr zur Zeit der Bilanzaufstellung jeweils zwar dem Grunde, nicht aber der Höhe nach bekannt gewesen. Durch die Vorverlegung der Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer sei sie in wirtschaftliche Bedrängnis geraten. Ihre Lieferfirmen kürzten die Rabatte immer mehr. Im Jahre 1953 habe sie deshalb einen Verlust erlitten. Der Gesetzgeber wolle über § 131 AO den kriegszerstörten Betrieben beim Wiederaufbau helfen.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist nicht begründet.
Streitig ist die Anwendung der Vorschrift des § 131 AO, auf Grund deren die Verwaltungsbehörden in bestimmten Fällen und in verschiedener Form nach ihrem Ermessen Billigkeitsmaßnahmen treffen können. Mit Recht hat das Finanzgericht auf Grund des zu Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) ergangenen Gutachtens des Großen Senats des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951 (Slg. Bd. 55 S. 277, Bundessteuerblatt - BStBl - 1951 III S. 107) sich für zuständig gehalten, die ablehnende Entscheidung der Oberfinanzdirektion daraufhin zu prüfen, ob die Entscheidung sich im Rahmen der gesetzlichen Grenzen des Ermessens hielt. Wenn die Bfin. nunmehr im Rechtsbeschwerdeverfahren beantragt, daß der Bundesfinanzhof eine Billigkeitsmaßnahme nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO treffe, so übersieht sie, daß nach dem Grundsatz der Dreiteilung der Staatsgewalt, auf dem das GG beruht, die Steuergerichte nicht anstelle der Verwaltungsbehörden Verwaltungsakte setzen können. Die Aufgabe der Steuergerichte beschränkt sich darauf, zu prüfen, ob die Verwaltungsbehörden bei der Ausübung ihres Ermessens die Grenzen beachtet haben, die das Gesetz dem Ermessen zieht.
Die Bfin. erstrebt nicht gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 AO den Erlaß einer festgesetzten Steuer, d. h. den endgültigen Verzicht der Steuerbehörde auf den Steueranspruch, sondern eine Hinausschiebung der Fälligkeit. Sie beruft sich für ihren Antrag auf § 131 Abs. 1 Satz 3 AO, wonach die Finanzbehörden u. a. zulassen können, daß einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuer erhöhen, bei der Steuerfestsetzung erst zu einem späteren Zeitpunkt berücksichtigt werden.
Die gegenwärtige Fassung des § 131 AO beruht auf Artikel I Ziff. 6 des Gesetzes zur änderung von einzelnen Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 11. Juli 1953 (Bundesgesetzblatt - BGBl - I S. 511, BStBl I S. 262). Sie ist wesentlich weiter und elastischer als die frühere Fassung.
Bedenklich ist, wenn das Finanzgericht § 131 Abs. 1 Satz 3 AO anscheinend dahin auslegen will, daß die Vorschrift nur angewendet werden kann, wenn gleichzeitig für eine größere Gruppe von Steuerpflichtigen Billigkeitsmaßnahmen getroffen werden. Wortlaut und Zweck der Vorschrift sprechen nicht für diese Einschränkung. Aus dem Zusammenhang des Gesetzes ergibt sich sogar das Gegenteil. Denn wenn in § 131 Abs. 2 AO vorgesehen ist, daß für bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen Richtlinien erlassen werden können, so wird doch offenbar dabei vorausgesetzt, daß § 131 Abs. 1 AO - einschließlich § 131 Abs. 1 Satz 3 AO - auch für einzelne Steuerpflichtige angewendet werden kann.
Billigkeitsmaßnahmen auf Grund von § 131 Abs. 1 Satz 3 AO können, wie die Oberfinanzdirektion mit Recht annimmt, grundsätzlich nur vor Festsetzung der Steuer getroffen werden. Sie werden in aller Regel in Form einer besonderen Verfügung vor Erlaß des Steuerbescheids ergehen und dann bei der Steuerfestsetzung entsprechend berücksichtigt werden. Es trifft nicht zu, wie das Finanzgericht anzunehmen scheint, daß Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO überhaupt erst zulässig sind, wenn zuvor die Besteuerungsgrundlagen so, wie sie sich nach den allgemeinen Bestimmungen ergeben, festgestellt worden sind. Eine solche Einschränkung entspricht nicht Wortlaut und Sinn des Gesetzes. Sie widerspricht auch dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit. Ist eine Steuer festgesetzt worden, und erscheint nachher eine Steuermilderung aus Billigkeitsgründen geboten, so kann sie im allgemeinen durch Erlaß oder Stundung der festgesetzten Steuer verwirklicht werden. Einer Maßnahme nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO bedarf es dazu nicht.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Rb. nicht schon deshalb unbegründet ist, weil die Bfin. durch ihren jetzigen Antrag sich mit ihrem eigenen Verhalten in Widerspruch setzt. Sie hatte nach der Betriebsprüfung die Auffassung des Finanzamts über die Behandlung des Bonus anerkannt und bewußt auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet, nachdem das Finanzamt Ratenzahlungen für die Mehrsteuern in Aussicht gestellt hatte. Das Finanzamt hat seine Zusage erfüllt. Es kann nicht der Sinn des § 131 AO sein, die Rechtskraft einer Steuerfestsetzung dadurch auszuhöhlen, daß die Finanzbehörden gezwungen werden, im Billigkeitsverfahren nochmals sachlich auf einen rechtskräftig abgeschlossenen Steuerfall einzugehen. Jedenfalls müßten dafür ganz besondere Gründe vorliegen. Vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs II 137/55 U vom 14. März 1956, BStBl 1956 III S. 137.
Es ist auch zu erwägen, daß Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO und Stundungsmaßnahmen nach § 127 AO in vielen Fällen zum gleichen wirtschaftlichen Ergebnis führen, nämlich zur Hinausschiebung der Fälligkeit einer Steuer. Will ein Steuerpflichtiger die Hinausschiebung der Fälligkeit einer Steuer erreichen, so ist im allgemeinen der Weg der Stundung nach § 127 AO für alle Beteiligten einfacher und klarer als der einer vom Gesetz abweichenden Bilanzierung nach § 131 Abs. 1 Satz 3 AO. Es bedeutet jedenfalls keinen Fehlgebrauch des Ermessens, wenn die Finanzverwaltungsbehörden, sofern nicht im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, den Antrag eines Steuerpflichtigen, die Steuer später entrichten zu können, in erster Linie als Stundungsantrag im Sinne des § 127 AO behandeln.
Im vorliegenden Fall ist das Finanzamt, wie das Finanzgericht feststellt, der Bfin. hinsichtlich der Stundung soweit entgegengekommen, daß die Fälligkeit der Steuern nicht früher eintrat, als wenn die Bfin. den Bonus erst später aktiviert hätte. Wenn die Finanzverwaltungsbehörden eine weitere Hinausschiebung der Fälligkeit nicht für geboten erachteten, so konnten sie im Rahmen ihres Ermessens zu diesem Ergebnis kommen. Kriegsschäden rechtfertigen für sich allein nicht ohne weiteres die Anwendung des § 131 AO. Es müssen im Einzelfall dafür besondere Umstände dargetan werden. Wenn die Vorbehörden festgestellt haben, daß die Bfin. infolge des Wirtschaftsaufschwungs ihre Kriegsschäden weitgehend beseitigen konnte, so bedeutet es keinen Fehlgebrauch des Ermessens, wenn sie trotz der Kriegsschäden der Bfin. keine weitergehenden Billigkeitsmaßnahmen als die gewährte Stundung trafen, zumal sie damit dem ursprünglichen eigenen Antrag der Bfin. voll entsprochen hatten.
Fundstellen
Haufe-Index 408466 |
BStBl III 1956, 190 |
BFHE 1956, 510 |
BFHE 62, 510 |