Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärungspflicht des FG und des FA in Schätzungsfällen
Leitsatz (NV)
1. Hat das FA bereits Ermittlungen zu der strittigen Besteuerungsgrundlage angestellt oder mußten sich insoweit nach dem Stand des Verfahrens keine Zweifel aufdrängen, übt das FG das ihm in § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO eingeräumte Ermessen nicht sachgerecht aus, wenn es entgegen seiner eigenen Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 FGO) von eigenen Ermittlungen absieht.
2. Das FA ist verpflichtet, die Richtigkeit seiner Schätzung anhand der im Klageverfahren eingereichten Bilanzen und Steuererklärungen zu überprüfen. Die Auffassung des FG, das FA sei dieser Pflicht nicht nachgekommen, eröffnet jedoch nicht die Möglichkeit, die angefochtenen Verwaltungsakte nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO aufzuheben, ohne selbst in der Sache zu entscheiden.
3. Die Wahl der Reingewinnschätzung als Schätzungsmethode läßt einen Verfahrensfehler nicht erkennen, wenn geeignete Unterlagen für eine Rohgewinnschätzung nicht vorliegen und eine ordnungsmäßige Buchung der Aufwendungen bzw. Kosten nicht ersichtlich ist.
Normenkette
FGO §§ 76, 100 Abs. 2 S. 2; AO 1977 § 162; EStG §§ 4-5
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin - KG -) mit Sitz in A nahm ihren Geschäftsbetrieb im Oktober 1981 auf. Gegenstand ihres Unternehmens waren der Bau und Vertrieb von . . . Persönlich haftende Gesellschafterin der KG war die Z-GmbH (GmbH) mit einer Beteiligung an der KG in Höhe von 5 v. H. Kommanditisten der KG mit einer Beteiligung von jeweils 47,5 v. H. waren die alleinvertretungsberechtigten Gesellschafter-Geschäftsführer der GmbH B und C, die an der GmbH mit einem Anteil von je 50 v. H. beteiligt waren.
Zugleich betrieb B u. a. in D allein ein weiteres Unternehmen, dessen Gegenstand ebenfalls der Bau und der Vertrieb von . . . war. Zwischen B und C ist streitig, ob es in den Streitjahren zu einer Vermischung der Warenbestände der beiden Unternehmen kam, als Warenlieferungen für die KG an das Unternehmen des B in D erfolgten.
Nachdem der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) B und C mehrfach erfolglos aufgefordert hatte, die Gewinnfeststellungserklärung der KG für das Jahr 1981 vorzulegen, stellte er den Gewinn für die Jahre 1981 und 1982 im Wege der Schätzung fest. Der Schätzung legte das FA die vorangemeldeten Umsätze für die Streitzeiträume zugrunde und errechnete daraus - unter Berücksichtigung des von der Klägerin selbst im Fragebogen zur Neugründung der Personengesellschaft angegebenen Reingewinnsatzes von 30 v. H. - den in den Streitjahren erzielten Gewinn.
Die gegen die Gewinnfeststellungsbescheide sowie gegen die aufgrund der vorbezeichneten Feststellungen ergangenen Umsatz- und Gewerbesteuermeßbescheide 1981 und 1982 erhobenen Einsprüche der KG sowie des B und des C wies das FA als unbegründet zurück, nachdem die im Einspruchsverfahren zugesagte Vorlage der Steuererklärungen nicht innerhalb der gesetzten Frist erfolgt war.
Daraufhin erhob B für sich und die KG Klage. Ebenso erhob C für die KG Klage und reichte die Steuererklärungen sowie die Bilanzen für die Streitjahre ein.
Das Finanzgericht (FG) verband die beiden Klagen. Sodann trennte es die inzwischen rechtskräftig abgewiesene Klage des B, soweit er sie im eigenen Namen erhoben hatte, ab.
Auf die Klage im übrigen hob es die Gewinnfeststellungs- und Gewerbesteuermeßbescheide sowie den Umsatzsteuermeßbescheid 1982 auf; die Klage gegen den Umsatzsteuerbescheid 1981 wies es ab.Mit der vom FG - auf Beschwerde - zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Soweit die FG-Entscheidung die Gewinnfeststellungsbescheide betrifft, ist sie aufzuheben, weil sie die Grundordnung des Verfahrens verletzt.
Ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens, der vom Revisionsgericht von Amts wegen zu berücksichtigen ist (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 12. November 1985 IX R 85/82, BFHE 145, 308, BStBl II 1986, 239), liegt vor, wenn das FG - wie hier - ohne die notwendige Beiladung Drittbeteiligter zur Sache entschieden hat (§ 60 Abs. 3 FGO).
Da B und C die Klage nach Abtrennung des - B betreffenden - Verfahrens ausweislich des eindeutigen Wortlauts der Klageschriftsätze ausschließlich für die KG, nicht aber für die GmbH, B oder C betrieben haben, hätte das FG die Klage gegen die Gewinnfeststellungsbescheide nicht ohne Beiladung der GmbH, des B und des C sachlich bescheiden dürfen, weil die Entscheidung über die einheitliche Gewinnfeststellung diesen gegenüber nur einheitlich ergehen kann und alle Gesellschafter klagebefugt sind (§§ 60 Abs. 3 Satz 2, 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO).
Nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO ist in Angelegenheiten, die einen einheitlichen Feststellungsbescheid über Einkünfte aus Gewerbebetrieb betreffen, jeder Gesellschafter klagebefugt, soweit es sich darum handelt, wer an dem festgestellten Betrag - ggf. mit welchem Anteil - beteiligt ist, und soweit die Gesellschafter durch die Feststellungen hierzu berührt werden.
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind gegeben. Mit der von B im eigenen und im Namen der KG erhobenen Klage wird geltend gemacht, B sei an den festgestellten Beträgen nicht beteiligt, weil er keine Gewinnzuweisungen erhalten habe und im übrigen im Jahre 1982 als Gesellschafter der KG ausgeschieden sei. Die Feststellungen hierzu berühren auch die Höhe der Gewinnanteile der GmbH und des C.
Dieser von B für sich und die KG geltend gemachte Klagegrund ist nicht aufgegeben worden. Er ist auch nicht durch die Abtrennung des die (eigene) Klage des B betreffenden Verfahrens entfallen. Die Abtrennung der Klage des B hat den vorbezeichneten Klagegrund (fehlende Beteiligung des B an den festgestellten Gewinnen der KG) nicht entfallen lassen, weil dieser von B auch für die KG vorgetragen worden ist.
2. Soweit das FG-Urteil den Umsatzsteuerbescheid 1982 und die Gewerbesteuermeßbescheide betrifft, ist es aufzuheben, weil das FG zu Unrecht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO bejaht hat.
Nach dieser Vorschrift kann das FG den angefochtenen Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, wenn es wesentliche Verfahrensmängel feststellt und eine weitere, einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit erfordernde Aufklärung für nötig hält.
Die Feststellung des Gerichts über das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist eine im Revisionsverfahren nachprüfbare Rechtsentscheidung (BFH-Urteil vom 22. Juli 1987 I R 226/83, nicht veröffentlicht - NV -). Sie ist nach der materiellen Rechtsauffassung zu beurteilen, die das FA seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat (BFH-Urteile vom 29. Mai 1984 VIII R 177/78, BFHE 141, 272, BStBl II 1984, 661; vom 12. Juni 1986 VII R 135/80, BFH/NV 1988, 76 und vom 15. September 1988 IV R 134/86, BFH/NV 1990, 10).
Hat das FA bereits Ermittlungen zu der strittigen Besteuerungsgrundlage angestellt (vgl. BFH-Urteil vom 22. September 1983, IV R 109/83, BFHE 140, 132, BStBl II 1984, 342) oder mußten sich ihm nach dem Stand des Verfahrens mangels entsprechenden Vortrags des Steuerpflichtigen - wie hier - Zweifel nicht aufdrängen, übt das FG das ihm in § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO eingeräumte Ermessen nicht sachgerecht aus, wenn es entgegen seiner eigenen Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 FGO) von eigenen Ermittlungen absieht (BFH-Urteil vom 15. September 1988 IV R 134/86, BFH/NV 1990, 10).
Im Streitfall hatte das FA während des vorgerichtlichen Verfahrens auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung keinen Anlaß zu weiterer Sachverhaltsaufklärung.
Hinsichtlich der Schätzung der Umsatzsteuer konnte insbesondere die Einspruchsbegründung des B keine Veranlassung geben, an der Richtigkeit der der Schätzung zugrunde gelegten vorangemeldeten Umsätze zu zweifeln. Denn der ausschließlich von B erhobene Einwand, er habe keine Gewinnzuweisungen erhalten und sei im Jahre 1982 aus der KG ausgeschieden, bezieht sich lediglich auf die in den gleichfalls angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheiden vorgenommene Zurechnung der Gewinnanteile.
Der dem FA aus dem Veranlagungsverfahren bekannte Streit zwischen B und C über das Vorliegen einer Vermischung von Warenbeständen der KG und der Firma des B in D konnte dem FA ebenfalls ohne entsprechenden Vortrag der KG keine Veranlassung geben anzunehmen, die eventuelle Vermischung habe Einfluß auf die Höhe der den Umsatzsteuervoranmeldungen und der Umsatzsteuerschätzung zugrunde gelegten Umsätze gehabt.
Da das FG im übrigen keine tatsächlichen Feststellungen darüber getroffen hat, aus welchen Gründen sich dem FA hinsichtlich der vorangemeldeten Umsätze hätten Zweifel aufdrängen müssen, ist die FG-Entscheidung aufzuheben, soweit sie den Umsatzsteuerbescheid 1982 betrifft.
3. Auch hinsichtlich der Gewerbesteuermeßbescheide liegen entgegen der Auffassung des FG keine zur Aufhebung führenden Verfahrensmängel des FA vor.
Die Voraussetzungen für eine Schätzung des Gewinns durch das FA waren nach § 162 Abs. 2 Satz 2 FGO gegeben, nachdem die KG die Steuererklärungen für die Streitjahre trotz entsprechender Ankündigung auch nicht im Einspruchsverfahren vorgelegt hatte. Da für eine Rohgewinnschätzung geeignete Unterlagen nicht vorlagen und die ordnungsmäßige Buchung der Aufwendungen bzw. Kosten nicht ersichtlich war, läßt die Wahl der Reingewinnschätzung als Schätzungsmethode ebenfalls einen Verfahrensfehler nicht erkennen (vgl. BFH-Urteil vom 18. Dezember 1984 VIII R 195/82, BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226; Beschluß des Reichsfinanzhofs - RFH - vom 14. April 1937 VI A 179/37, RStBl 1937, 581).
Das FA hat ferner nach den bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen den ihm bekannten Sachverhalt in seine Schätzung einfließen lassen (§ 162 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 -). Die Auffassung des FG, das FA habe bei seiner Schätzung nicht berücksichtigt, daß die KG ihre Geschäfte erst im Oktober 1981 aufgenommen und daß zwischen den Gesellschaftern Streit über das Vorliegen einer Vermischung der Warenbestände der KG einerseits und der Firma des B in D andererseits bestanden habe, verkennt, daß der Schätzung nur die ab Oktober 1981 vorangemeldeten Umsätze zugrunde gelegt wurden und die vorgenommene Reingewinnschätzung eine Berücksichtigung der Warenbestände sowie einer ggf. vorliegenden Vermischung mit Warenbeständen Dritter systemimmanent nicht erfordert.
Allerdings war das FA verpflichtet, anhand der im Klageverfahren eingereichten Bilanz- und Steuererklärungen die Richtigkeit seiner Schätzung zu überprüfen. Dies folgt aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der in § 76 Abs. 3 FGO seine besondere Ausprägung erhalten hat. Wenn das FG der Auffassung war, daß das FA dieser Verpflichtung nicht nachgekommen sei, so eröffnete dies jedoch nicht die Möglichkeit, die angefochtenen Verwaltungsakte nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO aufzuheben, ohne selbst in der Sache zu entscheiden.
Die vom FG desweiteren als Verfahrensfehler geltend gemachte fehlende Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärungen 1982 rechtfertigt ebenfalls nicht, nach Maßgabe des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO zu entscheiden.
Das FA konnte die Schätzung auch für das Jahr 1982 vornehmen, obwohl die KG weder vor Erlaß der Steuerbescheide noch im Einspruchsverfahren zur Abgabe der Steuererklärungen für dieses Jahr aufgefordert worden war. Eine Schätzung setzt nach § 162 AO 1977 grundsätzlich nicht voraus, daß der Steuerpflichtige zuvor zur Abgabe der Steuererklärungen, zu deren Vorlage er gesetzlich verpflichtet ist (§ 25 des Gewerbesteuergesetzes), aufgefordert worden ist. Das Unterlassen einer solchen Aufforderung stellt im Streitfall auch keinen Verstoß gegen allgemeine Verfahrensgrundsätze dar. Denn das FA konnte zumindest im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung (Juli 1985) aufgrund des Verhaltens der Steuerpflichtigen davon ausgehen, daß die Steuererklärungen für das Jahr 1982 selbst nach einer entsprechenden Aufforderung nicht vorgelegt würden, nachdem die Aufforderung des FA zur Abgabe der Steuererklärungen für das Jahr 1981 trotz mehrfacher Erinnerungen erfolglos geblieben und die im Einspruchsverfahren abgegebene Zusage auf Abgabe der Steuererklärungen nicht eingehalten worden war.
Schließlich rügt das FA mit der Revision zu Recht, daß das FG unter Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten - der als Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO anzusehen ist (vgl. BFH-Urteil vom 6. Dezember 1978 I R 131/75, BFHE 126, 379, BStBl II 1979, 162) - festgestellt hat, es habe die Einspruchsbegründung des B nicht berücksichtigt. Denn das FA hat den Vortrag des B über ausgebliebene Gewinnzuweisungen und dessen Ausscheiden aus der KG zum 1. März 1982 insoweit gewürdigt, als es B aufgefordert hat darzulegen, ob und ggf. welche Beträge den Kapitalkonten der Gesellschafter gutgeschrieben worden seien, sowie sein Ausscheiden aus der KG nachzuweisen.
Da B dieser Aufforderung nicht nachkam, konnte das FA ohne Verstoß gegen seine Amtsermittlungspflicht (§ 88 Abs. 1 AO 1977) davon ausgehen, daß B aus der KG nicht ausgeschieden und in den Streitjahren entsprechend seinem Anteil an der KG an den festgestellten Gewinnen dieser Gesellschaft beteiligt gewesen sei.
Fundstellen
Haufe-Index 63024 |
BFH/NV 1991, 646 |