Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitteilung über Änderungen in den für das Kindergeld erheblichen Verhältnissen ist keine "Anzeige" i.S. von § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977
Leitsatz (amtlich)
Die Mitteilung über Änderungen in den für das Kindergeld erheblichen Verhältnissen, zu welcher der Kindergeldberechtigte nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG verpflichtet ist, ist keine "Anzeige" i.S. von § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977, die zu einer Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist für den Anspruch auf Kindergeld führt.
Normenkette
AO 1977 § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; EStG § 68 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind (Gesamt-)Rechtsnachfolger des am 28. März 2001 verstorbenen D. Dieser hatte zwei Kinder (Kläger zu 1. und 2.) aus der ersten Ehe und einen Sohn (Kläger zu 3.) aus der zweiten Ehe mit der Beigeladenen. In dritter Ehe war er mit der Klägerin zu 4. verheiratet.
D bezog für den am 11. April 1991 geborenen Kläger zu 3. bis einschließlich Februar 2001 Kindergeld in Höhe von zuletzt 138 € pro Monat.
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) erhielt Anfang März 2001 durch einen Datenabgleich mit der zuständigen Meldestelle Kenntnis von der Tatsache, dass der Kläger zu 3. nicht bei D, sondern im Haushalt der Beigeladenen lebte. Dies bestätigte D auf eine entsprechende Nachfrage der Familienkasse. Nach seinem Tod erfuhr die Familienkasse, dass der Kläger zu 3. bereits seit September 1995 ausschließlich bei der Beigeladenen gewohnt hatte.
Mit Bescheiden vom 25. Juli 2003, die an die Kläger zu 1. bis 4. als Rechtsnachfolger des D gerichtet waren, hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzungen rückwirkend für die Zeit von Januar 1996 bis Februar 2001 auf und forderte das in diesem Zeitraum für den Kläger zu 3. gezahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt 7 339,18 € zurück.
Die Einsprüche blieben ohne Erfolg.
In den anschließenden Klageverfahren brachten die Kläger u.a. vor, die Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide seien rechtswidrig, weil D das an ihn ausgezahlte Kindergeld an die Beigeladene weitergeleitet habe. Denn er habe monatlich 1 350 DM Barunterhalt für den Kläger zu 3. geleistet, obwohl er nach der Düsseldorfer Tabelle eigentlich nur einen monatlichen Betrag in Höhe von 880 DM hätte zahlen müssen. Die Überzahlung habe das Kindergeld enthalten.
Nachdem das Finanzgericht (FG) die Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hatte, hob es die Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide der Familienkasse in Höhe von 3 926,64 € auf und wies im Übrigen die Klage ab. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 559 veröffentlicht.
Das FG war der Auffassung, für den Zeitraum Januar 1996 bis Dezember 1998 sei die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist rechtswidrig. Entgegen der Ansicht der Familienkasse sei der Anlauf der Festsetzungsfrist nicht dadurch gehemmt worden, dass D den Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen trotz seiner Verpflichtung nach § 68 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) der Familienkasse nicht mitgeteilt habe. Denn die Mitteilung i.S. des § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG sei keine Anzeige i.S. von § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Bei Anzeigen im Sinne dieser Vorschrift handle es sich um einzelgesetzlich geregelte förmliche Erklärungen. Die allgemeinen und besonderen Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren nach § 90 AO 1977 und § 68 EStG würden davon nicht erfasst. Die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von Januar 1999 bis Februar 2001 habe die Familienkasse dagegen zu Recht aufgehoben.
Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts. Sie trägt im Wesentlichen vor:
Die Mitteilung nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG sei eine Anzeige i.S. des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977, deren Unterlassen den Anlauf der Festsetzungsfrist hemme. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift auch Anzeigen einbezogen, für die keine besondere Form vorgesehen sei, wie z.B. bei der in § 1 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung vom 8. Februar 1978 zur Durchführung des Gesetzes zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes vom 3. August 1950 --KraftStGÄndGDV-- (Gesetz- und Verordnungsblatt Berlin --GVBl Bln-- 1978, 745) geforderten Anzeige über den Wegfall der Voraussetzungen für die Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer (z.B. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1991 VII R 72/89, VII R 73/89, BFH/NV 1992, 567). Der BFH habe § 1 Abs. 2 Satz 1 KraftStGÄndGDV als Spezialvorschrift im Verhältnis zu § 153 Abs. 2 AO 1977 angesehen.
Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich, dass die Mitwirkungspflichten in § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG denen in § 153 Abs. 2 AO 1977 entsprächen. Die Hemmung des Anlaufs der Festsetzungsfrist bei Verletzung der Mitwirkungspflichten des § 68 EStG stimme auch mit dem Zweck der Anlaufhemmung überein, weil sie verhindere, dass durch den Verstoß des Anspruchsberechtigten gegen seine Mitwirkungspflichten die der Behörde für die Korrektur zur Verfügung stehende Zeit verkürzt werde.
Da der Rechtsvorgänger der Kläger seiner Mitteilungspflicht nicht nachgekommen sei, habe die Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 erst mit Ablauf des dritten Kalenderjahres begonnen, das auf das Jahr der Entstehung des Anspruchs auf Kindergeld folge, für das im Jahr 1996 gezahlte Kindergeld also erst ab dem 1. Januar 2000. Zum Zeitpunkt der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung im Juli 2003 sei die Festsetzungsfrist für den gesamten Aufhebungszeitraum daher noch nicht abgelaufen gewesen.
Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Zu Recht hat das FG die Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide, soweit sie den Zeitraum Januar 1996 bis Dezember 1998 betreffen, aufgehoben.
1. Die Festsetzungsfrist von vier Jahren für das in den Kalenderjahren 1996 bis 1998 gezahlte Kindergeld war bei Erlass der Aufhebungsbescheide vom 25. Juli 2003 bereits abgelaufen, so dass die Aufhebung der Kindergeldfestsetzungen für diesen Zeitraum nicht mehr zulässig war.
a) Das Kindergeld wird nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt. Es gelten daher die Vorschriften der AO 1977 (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Nach § 155 Abs. 4 AO 1977 sind die Vorschriften über die Steuerfestsetzung (§§ 155 bis 178 AO 1977), also auch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung (§§ 169 bis 171 AO 1977), sinngemäß auf die Festsetzung einer Steuervergütung anzuwenden.
Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 darf die Festsetzung einer Steuervergütung nach Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr aufgehoben werden. Die Festsetzungsfrist für Steuervergütungen beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO 1977), bei Steuerhinterziehung (§ 370 AO 1977) zehn Jahre und bei leichtfertiger Steuerverkürzung (§ 378 AO 1977) fünf Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977).
b) Die Würdigung des FG, dass keine Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Steuerhinterziehung (§ 370 AO 1977) oder eine leichtfertige Steuerverkürzung (§ 378 AO 1977) vorliegen, die zu einer Verlängerung der Festsetzungsfrist auf zehn bzw. fünf Jahre führen würden, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden und auch von der Familienkasse nicht angegriffen worden, so dass im Streitfall eine Festsetzungsfrist von vier Jahren gilt.
c) Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch auf die Steuervergütung entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO 1977). Das als Steuervergütung ausgestaltete Kindergeld wird auf Antrag (§ 67 Satz 1 EStG) vom Beginn des Monats an gezahlt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, bis zum Ende des Monats, in dem die Anspruchsvoraussetzungen weggefallen sind (§ 66 Abs. 2 EStG). Der Anspruch auf das Kindergeld entsteht somit für jeden Monat, in dem die Anspruchsvoraussetzungen zu irgendeinem Zeitpunkt vorgelegen haben.
Das Kindergeld wird durch Bescheid festgesetzt und ausgezahlt (§ 70 Abs. 1 Satz 1 EStG). Wird dem Antrag auf Kindergeld entsprochen, kann von der Erteilung eines schriftlichen Bescheids abgesehen werden. In diesem Fall liegt in der monatlichen Auszahlung des Kindergelds die konkludente Festsetzung des Kindergelds, die nur unter den im EStG und in der AO 1977 geregelten Voraussetzungen geändert oder aufgehoben werden darf.
Die Festsetzungsfrist für das in den einzelnen Monaten des jeweiligen Kalenderjahres gezahlte Kindergeld beginnt somit mit Ablauf dieses Kalenderjahres. Die Festsetzungsfrist für das in den Kalenderjahren 1996 bis 1998 gezahlte Kindergeld war somit mit Ablauf der Jahre 2000 bzw. 2001 bzw. 2002 abgelaufen, so dass die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum im Juli 2003 nicht mehr aufheben durfte (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977).
2. Nach zutreffender Entscheidung des FG war der Beginn der Festsetzungsfrist nicht gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 hinausgeschoben.
a) Ist eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten, beginnt nach dieser Vorschrift die Festsetzungsfrist abweichend von § 170 Abs. 1 AO 1977 nicht mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sondern mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung, die Steueranmeldung oder die Anzeige eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (sog. Anlaufhemmung).
Durch das Hinausschieben des Beginns der Festsetzungsfrist soll verhindert werden, dass durch die Nichtabgabe oder späte Einreichung der Steuererklärung die der Behörde zur Verfügung stehende Bearbeitungszeit verkürzt wird. Entsprechendes gilt für Fälle, in denen eine Anzeige zu erstatten ist. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es Steuern gibt, bei denen die Behörde erst durch die Anzeige von der Entstehung eines Steueranspruchs erfährt (BTDrucks VI/1982, 151; Ruban in Hübschmann/ Hepp/Spitaler --HHSp--, § 170 AO Rz. 11).
Anzeigen i.S. von § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 sind Mitteilungen des Steuerpflichtigen über steuerlich erhebliche Vorgänge, die es der Behörde ermöglichen, eine Steuer festzusetzen. Dazu gehört z.B. die Anzeige von der Erbschaftsteuer unterliegenden Erwerben gemäß § 30 Abs. 1 des Erbschaftsteuergesetzes (ErbStG) oder von der Grunderwerbsteuer unterliegenden Rechtsvorgängen gemäß § 19 Abs. 1 des Grunderwerbsteuergesetzes --GrEStG-- (vgl. z.B. Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 170 AO Tz. 8; Ruban in HHSp, § 170 AO Rz. 11, 22). Durch die Anlaufhemmung soll der Behörde eine angemessene Zeit für die Festsetzung der Steuer verschafft werden. Die Festsetzungsfrist soll nicht schon zu laufen beginnen, bevor die Behörde von dem Entstehen und der Höhe des Anspruchs erfahren hat (Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 170 Rz. 5).
Keine Anzeigen i.S. des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 sind z.B. die Anzeigen nach § 153 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 über die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit einer abgegebenen Erklärung. Denn mit Ablauf des Jahres, in dem der Steuerpflichtige die (unrichtige oder unvollständige) Steuerklärung abgegeben hat, wurde die Festsetzungsfrist in Lauf gesetzt (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977). Dadurch, dass die unrichtige Erklärung später berichtigt wird oder die Berichtigung unterlassen wird, kann die Festsetzungsfrist nicht erneut zu laufen beginnen (BFH-Beschluss vom 22. Januar 1997 II B 40/96, BFHE 181, 571, BStBl II 1997, 266, m.w.N.).
Auch die Anzeigen nach § 153 Abs. 2 AO 1977 über den Wegfall von Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung oder Steuervergünstigung werden im Schrifttum nicht als Anzeige i.S. des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 angesehen, deren Abgabe oder Unterlassen den Anlauf der Festsetzungsfrist hemmen kann (vgl. Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 170 AO Rz. 8; Ruban in HHSp, § 170 Rz. 23; Balmes in: Kühn/v. Wedelstädt, 18. Aufl., AO, § 170 Rz. 3).
b) Zu Recht hat das FG angenommen, dass die Mitteilungen i.S. des § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG keine Anzeigen i.S. von § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 sind (gl.A. Felix, in: Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, EStG, § 68 Rdnr. A 12).
aa) Dafür spricht schon die unterschiedliche Wortwahl in beiden Vorschriften. Denn wer Kindergeld beantragt oder erhält, hat nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG die Änderung in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich der zuständigen Familienkasse "mitzuteilen". Hätte der Gesetzgeber mit dem Unterlassen der Mitteilung eine Hemmung des Anlaufs der Festsetzungsfrist verknüpfen wollen, ist davon auszugehen, dass er wie z.B. in § 30 ErbStG oder § 19 GrEStG den Begriff "anzeigen" verwendet hätte.
bb) Auch die Gesetzesbegründung lässt nicht erkennen, dass die Mitteilung als Anzeige i.S. des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 konzipiert worden ist. Nach der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Finanzausschusses zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes 1996 (BTDrucks 13/1558, 161) wurde § 68 EStG geschaffen, weil die Pflicht zur Berichtigung einer durch Zeitablauf unrichtig gewordenen Erklärung in der AO 1977 nicht geregelt sei.
Aus dem Hinweis in der Gesetzesbegründung, die Anwendbarkeit des § 153 Abs. 1 und Abs. 2 AO 1977 sei zweifelhaft, lässt sich entgegen der Auffassung der Familienkasse nicht herleiten, die Mitteilung nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG sei eine dem § 153 Abs. 2 AO 1977 vergleichbare Regelung und damit vom Gesetzgeber als Anzeige i.S. von § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 aufgefasst worden. Denn ob Anzeigen nach § 153 Abs. 2 AO 1977 anders als Anzeigen nach § 153 Abs. 1 AO 1977 zur Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 führen, ist noch nicht geklärt. Aufgrund der beiläufigen Bemerkung in dem von der Familienkasse zitierten BFH-Urteil in BFH/NV 1992, 567, § 1 Abs. 2 Satz 1 KraftStGÄndGDV sei eine Spezialvorschrift zu § 153 Abs. 2 AO 1977, kann nicht als entschieden gelten, dass Anzeigen i.S. des § 153 Abs. 2 AO 1977 zur Hemmung des Anlaufs der Festsetzungsfrist führen. Im Schrifttum wird --wie oben dargelegt-- die gegenteilige Auffassung vertreten.
cc) Zudem betrifft die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 nach ihrer Konzeption nur Fälle, in denen eine Steuer bzw. Steuervergütung noch nicht festgesetzt ist. Liegt --wie im Streitfall-- bereits eine Festsetzung vor, bleibt der Anlauf der Festsetzungsfrist unberührt. Es kann sich lediglich die Festsetzungsfrist auf fünf bzw. zehn Jahre verlängern, wenn das Unterlassen der Mitteilung den Tatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 Abs. 1 AO 1977) oder Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977) erfüllt. Hätte der Gesetzgeber es für den Fall der Verletzung von Mitteilungspflichten nach Festsetzung der Steuervergütung für erforderlich gehalten, den Beginn der Festsetzungsfrist hinauszuschieben, hätte er dies durch Verwendung des für die Anlaufhemmung einschlägigen Begriffs der Anzeige zum Ausdruck gebracht.
dd) Eine andere Auslegung ist auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil es sich bei der Festsetzung des Kindergelds um einen Dauerverwaltungsakt handelt, der solange gilt, bis er bei Änderung der Verhältnisse mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung an aufgehoben oder geändert wird (§ 70 Abs. 2 EStG). Zwar muss der Familienkasse ausreichend Zeit bleiben, um die Kindergeldfestsetzung an die geänderten Verhältnisse anzupassen. Ändern sich die Verhältnisse während des Kalenderjahres, stehen der Familienkasse aber mit Ablauf des Kalenderjahres vier Jahre, ggf. auch fünf oder zehn Jahre zur Verfügung, um die Kindergeldfestsetzung zu ändern oder aufzuheben. Für eine faktische Verlängerung der Festsetzungsfrist durch Hinausschieben ihres Beginns gibt es keine zwingenden Gründe.
ee) Die Familienkasse mag zwar --wie sie vorträgt-- wegen des Charakters der Kindergeldfestsetzung als Dauerverwaltungsakt auf die ordnungsgemäße Mitwirkung der Kindergeldberechtigten angewiesen sein. Es ist aber zu berücksichtigen, dass mit der Stellung eines Antrags auf Kindergeld zunächst alle wesentlichen Daten über die Kindergeldberechtigung bekannt sind (z.B. Alter und Wohnsitz des Kindes und seiner Eltern). Für das Kindergeld erhebliche Änderungen des Wohnsitzes des Kindes bzw. seiner Eltern werden der Familienkasse gemäß § 69 EStG in regelmäßigen Abständen von den Meldebehörden übermittelt. Die Familienkasse ist daher gerade im Hinblick auf den Wohnsitzwechsel des Kindes oder seiner Eltern nicht ausschließlich auf die Mitteilung der Kindergeldberechtigten angewiesen. Dass die Meldebehörde im Streitfall den geänderten Wohnsitz des Klägers zu 3. erst so spät übermittelt hatte, spricht dafür, dass die Meldebehörde ihre Mitteilungspflicht versäumt hat.
ff) Im Streitfall waren zudem beide Elternteile für den streitbefangenen Zeitraum dem Grunde nach kindergeldberechtigt. Das Kindergeld hätte somit in jedem Fall an einen von beiden ausbezahlt werden müssen, zumindest an die Beigeladene als vorrangig Berechtigte nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG. Insoweit kann sich aber die Familienkasse gegenüber der Beigeladenen hinsichtlich des von ihr geltend gemachten Kindergeldanspruchs auf den Eintritt der Festsetzungsverjährung berufen.
c) Der Senat weicht mit seiner Entscheidung nicht von dem Urteil des VII. Senats in BFH/NV 1992, 567 ab.
Dieses Urteil betraf die Befreiung bestimmter Kfz in Berlin von der Kraftfahrzeugsteuer. Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KraftStGÄndGDV hatte der Steuerpflichtige dem Finanzamt unverzüglich "anzuzeigen", wenn die Voraussetzungen für die Kraftfahrzeugsteuer wegfielen. Nach Auffassung des VII. Senats des BFH handelt es sich bei dieser "Anzeige" um eine Anzeige i.S. des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO 1977, die zu einer Anlaufhemmung für die Frist zur Festsetzung der Kraftfahrzeugsteuer führen könne.
Die vom VII. Senat entschiedene Rechtsfrage ist mit der im Streitfall zu entscheidenden Rechtsfrage nicht vergleichbar. Zum einen wird in § 1 Abs. 2 Satz 1 KraftStGÄndGDV --anders als in § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG-- ausdrücklich der Begriff "anzeigen" verwendet und zum anderen betrifft § 1 Abs. 2 Satz 1 KraftStGÄndGDV Sachverhalte, in denen noch keine Steuer festgesetzt worden ist. In diesen Fällen mag es gerechtfertigt sein, den Anlauf der Festsetzungsfrist hinauszuschieben. Im Streitfall dagegen geht es um die Aufhebung einer festgesetzten Steuervergütung.
Fundstellen
Haufe-Index 1588186 |
BFH/NV 2006, 2323 |
BStBl II 2008, 371 |
BFHE 2007, 1 |
BFHE 214, 1 |
BB 2006, 2400 |
DB 2006, 2382 |
DStRE 2007, 247 |
DStZ 2006, 754 |
HFR 2007, 8 |