Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Berücksichtigung der Änderung des § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO durch das StBereinG 1986; Grobes Verschulden i.S.v. § 173 Abs.. 1 Nr. 2 AO
Leitsatz (amtlich)
1. Das FG darf die Änderung des § 172 Abs.1 Nr.2 AO 1977 durch das StBereinG 1986 vom 19.Dezember 1985 (BGBl I 1985, 24) nicht gemäß Art.97 § 1 Abs.2 Satz 1 EGAO 1977 i.d.F. des StBereinG 1986 berücksichtigen, wenn das FA den Antrag auf schlichte Änderung abgelehnt und den Einspruch dagegen vor dem 1.Januar 1987 zurückgewiesen hat.
2. Grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 ist gegeben, wenn der Steuerpflichtige es grundlos versäumt hat, dem FA steuermindernde Tatsachen bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung zur Kenntnis zu bringen.
Orientierungssatz
1. Ein Einspruch gegen die Ablehnung eines Antrags auf schlichte Änderung war mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, wenn er darauf gerichtet war, so gestellt zu werden, als hätte er einen Rechtsbehelf rechtzeitig eingelegt. Diese zu § 94 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 1 AO ergangene Beurteilung der Zulässigkeit des Einspruchs gegen die Ablehnung der schlichten Änderung eines Steuerbescheids ist auch für § 172 Abs. 1 Buchst. a AO 1977 i.d.F. vor der Änderung der Vorschrift durch das StBereinG 1986 (BGBl I 1985, 2436, BStBl I 1985, 735) maßgebend.
2. Anwendung geänderter Verwaltungsverfahrensvorschriften auf alle bei Inkrafttreten anhängigen Verfahren: Nach den allgemeinen Grundsätzen des Verfahrensrechts handelt es sich bei den noch "anhängigen Verfahren" grundsätzlich um noch nicht abgeschlossene Verwaltungsverfahren. In einem finanzgerichtlichen Verfahren sind Änderungen auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts zu berücksichtigen, wenn sie die Verwaltung bei Aufhebung der Verwaltungsentscheidung und Fortführung des Verfahrens zu beachten hätte. Dagegen gilt der allgemeine Grundsatz der sofortigen Anwendbarkeit neuer Verwaltungsverfahrensvorschriften durch die FG nicht, wenn mit der Änderung von Verwaltungsverfahrensrecht die Voraussetzung für den materiellen Steueranspruch oder für die sachliche Ermessensentscheidung der Finanzbehörde geändert wird (vgl. BFH-Rechtsprechung).
3. Der für ein unbeachtliches Verschulden des Steuerpflichtigen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 notwendige Zusammenhang zwischen steuererhöhenden und steuermindernden Tatsachen ist gegeben, wenn der steuererhöhende Vorgang nicht ohne den steuermindernden Vorgang denkbar ist (vgl. BFH-Urteil vom 30.10.1986 III R 163/82). Dafür reicht es nicht aus, daß ―nach bestandskräftiger Schätzung― zusammen mit der Umsatzsteuererklärung, die die steuermindernden Tatsachen durch geringere Umsätze und höhere Vorsteuerbeträge enthält, eine Einkommensteuererklärung abgegeben wird, in der höhere als in der bisherigen Steuerfestsetzung enthaltene Einkünfte erklärt werden.
Normenkette
AO 1977 § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a, § 173 Abs. 1 Nr. 2; StBereinG 1986 Art. 1, 3; EGAO 1977 Art. 97 § 1 Abs. 1; AO 1977 § 5; AO § 94
Tatbestand
I. Gegen den Bescheid über die Festsetzung von Umsatzsteuer für 1981 vom 1.August 1983 mit geschätzten Besteuerungsgrundlagen legte der Kläger und Revisionskläger (Kläger) fristgemäß, aber ohne Begründung, Einspruch ein. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) wies den Einspruch durch die Einspruchsentscheidung vom 30.November 1983 zurück. Am 21.Dezember 1983 reichte der Kläger bei dem FA ohne Anschreiben die bisher noch nicht abgegebene Umsatzsteuererklärung für 1981 mit einer um 3 100 DM gegenüber der bisherigen Steuerfestsetzung niedrigeren Umsatzsteuer ein. Unter dem 12.Januar 1984 teilte das FA dem Kläger mit, daß seine Umsatzsteuererklärung für 1981 bis zum Ablauf der Frist für die Erhebung der Klage gegen den Umsatzsteuerbescheid für 1981 (am 2.Januar 1984) nicht habe bearbeitet werden können, weil den Steuererklärungen (neben der Umsatzsteuererklärung für 1981 hatte der Kläger auch eine Gewerbe- und Einkommensteuererklärung für 1981 abgegeben) die Gewinnermittlung nicht beigefügt worden sei. Als der Kläger erwiderte, die Steuererklärungen hätten gleichwohl bearbeitet werden können, und es hätten vorläufig erlassene Steuerbescheide ergehen können, ergänzte das FA in einem mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Schreiben vom 26.Januar 1984 sein Vorbringen und meinte, der Umsatzsteuerbescheid für 1981 sei inzwischen bestandskräftig geworden und könne nicht mehr geändert werden.
Gegen den Bescheid vom 26.Januar 1984 legte der Kläger Einspruch ein und erhob, nachdem der Einspruch zurückgewiesen worden war, Klage. Er begehrt Festsetzung der Umsatzsteuer entsprechend der eingereichten Jahreserklärung.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Zur Begründung führte es u.a. aus, eine Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung für 1981 nach § 172 Abs.1 Nr.2 Buchst.a der Abgabenordnung (AO 1977) zugunsten des Klägers sei nur innerhalb der Klagefrist möglich gewesen. Diese Änderung sei aber nach Eingang der Umsatzsteuererklärung am 21.Dezember 1983 bis zum Ablauf der Klagefrist am 2.Januar 1984 selbst dann nicht durchführbar gewesen, wenn die Steuererklärung sofort bearbeitet worden wäre, weil der Bescheid wenige Tage vor dem Weihnachtsfest und vor dem Jahreswechsel nicht mehr rechtzeitig hätte bekanntgegeben werden können.
Einen Anspruch auf Änderung nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 habe der Kläger nicht, weil ihn grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der steuermindernden Tatsachen treffe (§ 173 Abs.1 Nr.2 Satz 1 AO 1977). Das Verschulden sei nicht unbeachtlich, weil ein Zusammenhang mit steuererhöhenden Umständen nicht gegeben sei.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977.
Der Kläger begehrt Aufhebung der Vorentscheidung und Verpflichtung des FA zur Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung vom 1.August 1983 entsprechend der am 21.Dezember 1983 abgegebenen Umsatzsteuererklärung für 1981.
Das FA ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet. Sie wird zurückgewiesen (§ 126 Abs.2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).
1. Verfahrensrügen hat der Kläger nicht in der gesetzlich geforderten Form erhoben. Der Senat sieht gemäß Art.1 Nr.8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) von einer weiteren Begründung ab.
2. Die Vorentscheidung verletzt nicht materielles Recht.
a) Der Kläger hat mit der Abgabe der Umsatzsteuererklärung für 1981 am 21.Dezember 1983 einen Antrag auf schlichte Änderung des Umsatzsteuerbescheids vom 1.August 1983 nach § 172 Abs.1 Nr.2 a AO 1977 gestellt. Durch Urteil vom 21.Februar 1991 V R 2/87 hat der Senat entschieden, daß die ohne weitere Erklärung übersandte Umsatzsteuererklärung für 1981 nicht als Klage gegen die Einspruchsentscheidung vom 30.November 1983 zu beurteilen ist.
b) Der Einspruch des Klägers gegen die Ablehnung des Änderungsantrags vom 26.Januar 1984 war mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, denn er war darauf gerichtet, so gestellt zu werden, als hätte er einen Rechtsbehelf (§ 348 Abs.1, 2 AO 1977) rechtzeitig eingelegt (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 13.März 1975 VIII R 123/70, BHFE 115, 409, BStBl II 1975, 725).
Diese zu § 94 Abs.1 Nr.2 Halbsatz 1 der Reichsabgabenordnung (AO) ergangene Beurteilung der Zulässigkeit des Einspruchs gegen die Ablehnung der schlichten Änderung eines Steuerbescheids ist auch für § 172 Abs.1 Buchst.a AO 1977 i.d.F. vor der Änderung der Vorschrift durch Art.1 Nr.27 des Steuerbereinigungsgesetzes vom 19.Dezember 1985 ―StBereinG 1986― (BGBl I 1985, 2436, BStBl I 1985, 735) maßgebend. § 172 Abs.1 Nr.2 a AO 1977 entspricht nach Wortlaut und Inhalt dem § 94 Abs.1 Nr.2 AO (vgl. auch Begründung, BTDrucks VI/1982, S.152 zu § 153 Entwurf einer Abgabenordnung 1974 = § 172 Abs.1 Nr.2, AO 1977).
c) Eine davon abweichende Beurteilung aufgrund der bezeichneten Änderung des § 172 Abs.1 Nr.2 a Halbsatz 2 AO 1977 ist nicht gerechtfertigt.
Danach darf ein Steuerbescheid zugunsten des Steuerpflichtigen auch noch nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist geändert werden, wenn der Steuerpflichtige die Änderung vor Fristablauf beantragt oder ihr zugestimmt hat. Diese Regelung ist für die Entscheidung des Senats nicht heranzuziehen. Zwar sind gemäß Art.97 § 1 Abs.2 Satz 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) i.d.F. des Art.3 Nr.1 StBereinG 1986, die durch das StBereinG 1986 geänderten oder eingeführten Vorschriften auf alle bei Inkrafttreten dieser Vorschriften (grundsätzlich am 1.Januar 1987 gemäß Art.25 Abs.1 StBereinG 1986) anhängigen Verfahren anzuwenden, soweit nichts anderes bestimmt ist. Diese Voraussetzungen sind aber nicht erfüllt.
Art.97 § 1 Abs.2 Satz 1 EGAO 1977 in der bezeichneten Fassung stellt in Anlehnung an die bei Inkrafttreten der AO 1977 in Art.97 § 1 Abs.1 EGAO 1977 getroffene Übergangsregelung klar, daß geänderte Verfahrensvorschriften auf alle bei Inkrafttreten dieser Vorschriften noch anhängigen Verfahren nach den allgemeinen Grundsätzen des Verfahrensrechts anzuwenden sind (vgl. auch Begründung zu Art.97 § 1 Abs.2 EGAO 1977 i.d.F. von Art.3 StBereinG 1986, BRDrucks 140/84, S.52). Nach den allgemeinen Grundsätzen des Verfahrensrechts handelt es sich bei den noch "anhängigen Verfahren" grundsätzlich um noch nicht abgeschlossene Verwaltungsverfahren, denn die AO 1977 und das EGAO 1977 treffen keine Regelungen für das finanzgerichtliche Verfahren. In einem finanzgerichtlichen Verfahren sind Änderungen auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts zu berücksichtigen, wenn sie die Verwaltung bei Aufhebung der Verwaltungsentscheidung und Fortführung des Verfahrens zu beachten hätte (ständige Rechtsprechung vgl. z.B. BFH-Urteile vom 8.Februar 1977 VIII R 50/74, BFHE 121, 379, BStBl II 1977, 516; vom 26.Juli 1983 VIII R 28/79, BFHE 139, 335, BStBl II 1984, 290; vom 8.Oktober 1986 I R 58/83, BFH/NV 1987, 767, und vom 1.Dezember 1987 IX R 90/86, BFHE 152, 17, BStBl II 1988, 319, mit weiteren zahlreichen Nachweisen). Dementsprechend sind die geänderten Verfahrensregelungen über den Erlaß des Folgebescheids bereits vor Bekanntgabe des Grundlagenbescheids nach § 155 Abs.2, § 162 Abs.3 AO 1977 (seit BFH-Urteil vom 24.Februar 1981 VIII B 14/78, BFHE 132, 402, BStBl II 1981, 416 ständige Rechtsprechung vgl. z.B. BFH-Urteil vom 23.September 1986 III R 215/82, BFH/NV 1987, 240), über die Verpflichtung zur Abgabe einer Feststellungserklärung gemäß § 3 der Verordnung zu § 180 Abs.2 AO 1977 (vgl. BFH in BFHE 152, 17, BStBl II 1988, 319), zur Verbindung von Feststellungserklärungen gemäß § 15a Abs.4 Sätze 5 und 6 des Einkommensteuergesetzes ―EStG― (vgl. BFH-Urteil vom 1.Juni 1989 IV R 19/88, BFHE 157, 181, BStBl II 1989, 1018) auch dann im gerichtlichen Verfahren zu berücksichtigen, wenn die Verwaltungsentscheidung vor Inkrafttreten dieser Vorschriften ergangen ist.
Dagegen gilt der allgemeine Grundsatz der sofortigen Anwendbarkeit neuer Verwaltungsverfahrensvorschriften durch die FG nicht, wenn mit der Änderung von Verwaltungsverfahrensrecht die Voraussetzung für den materiellen Steueranspruch oder für die sachliche Ermessensentscheidung der Finanzbehörde geändert wird (vgl. BFH in BFHE 121, 379, BStBl II 1977, 516). Die Änderung der Voraussetzungen für die sachliche Ermessensentscheidung über die Änderung des Steuerbescheids aufgrund eines Antrags oder der Zustimmung des Steuerpflichtigen gemäß § 172 Abs.1 Nr.2 a Halbsatz 2 AO 1977 ist somit nicht in einem anhängigen Gerichtsverfahren zu beachten.
3. Zutreffend hat das FG erkannt, daß das FA nicht verpflichtet war, die Umsatzsteuerfestsetzung gegen den Kläger für 1981 nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 zu ändern.
Den Kläger trifft grobes Verschulden daran, daß die Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen, dem FA erst nachträglich bekanntgeworden sind. Grobes Verschulden des Steuerpflichtigen, dem auch grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters zuzurechnen ist (ständige Rechtsprechung des BFH, z.B. Urteil vom 24.März 1987 X R 66/81, Steuerrechtsprechung in Karteiform ―StRK―, Abgabenordnung, § 173 Abs.1 Nr.2, Rechtsspruch 26, m.w.N.), ist gegeben, wenn es grundlos versäumt wird, die für die Steuerfestsetzung zu berücksichtigenden Tatsachen bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung darzulegen (vgl. dazu auch BFH-Urteil vom 20.Januar 1988 I R 1/84, StRK, Abgabenordnung 1977, § 173 Abs.1 Nr.2, Rechtsspruch 28). Bis zu diesem Zeitpunkt muß das FA im Einspruchsverfahren den Sachverhalt nach § 367 Abs.2 Satz 1 AO 1977 unabhängig davon umfassend prüfen, ob die nachträglich vorgebrachten Tatsachen verschuldet verspätet geltend gemacht werden. Nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung ist die Steuerfestsetzung nur noch nach §§ 172 ff. AO 1977 änderbar, und es kommt für eine Änderung nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 auf grobes Verschulden des Steuerpflichtigen an. Gründe für die verspätete Darlegung der steuermindernden Tatsachen hat der Kläger nach der Feststellung des FG nicht geltend gemacht.
Das Verschulden des Klägers ist entgegen seiner Ansicht auch nicht unbeachtlich (§ 173 Abs.1 Nr.2 Satz 2 AO 1977). Der dafür notwendige Zusammenhang zwischen steuererhöhenden und steuermindernden Tatsachen ist gegeben, wenn der steuererhöhende Vorgang nicht ohne den steuermindernden Vorgang denkbar ist (BFH-Urteil vom 30.Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161). Dafür reicht es nicht aus, daß zusammen mit der Umsatzsteuererklärung, die die steuermindernden Tatsachen durch geringere Umsätze und höhere Vorsteuerbeträge enthält, eine Einkommensteuererklärung abgegeben wird, in der höhere als in der bisherigen Steuerfestsetzung enthaltene Einkünfte erklärt werden.
Fundstellen
Haufe-Index 63747 |
BFH/NV 1991, 41 |
BStBl II 1991, 496 |
BFHE 164, 1 |
BFHE 1992, 1 |
BB 1991, 1117 (L) |
DB 1991, 1431 (L) |
HFR 1991, 633 (LT) |
StE 1991, 209 (K) |