Leitsatz (amtlich)
1. Die Einhaltung der Klagefrist ist als Sachurteilsvoraussetzung vom BFH auch ohne entsprechende Verfahrensrüge zu überprüfen.
2. Ist die Klage innerhalb der Klagefrist beim FA angebracht worden, so gilt die Frist auch dann als gewahrt, wenn die Klageschrift abhanden gekommen ist. Rechtshängig wird die Streitsache erst mit Eingang der Klage beim FG.
Orientierungssatz
1. Der BFH unterliegt bei Überprüfung der Frage, ob die Klagefrist gewahrt ist, keinen Beschränkungen, wenn Ergänzungen im Sachverhalt notwendig werden. Der BFH kann selbst Beweis erheben und auch neue Tatsachen berücksichtigen. Dabei steht ihm ein an der Prozeßökonomie auszurichtendes Ermessen zu, ob er selbst Beweis erhebt oder zur Klärung zurückverweist. Sollte der Sachverhalt unklar bleiben, so trifft den Kläger die Feststellungslast dafür, daß er die Klageschrift rechtzeitig in den Hausbriefkasten des FA eingeworfen hat (vgl. Rechtsprechung; Literatur).
2. Die fristwahrende Wirkung nach § 47 Abs. 2 Satz 1 FGO wird nicht beeinträchtigt, wenn die Klage mit einer unzulässigen Bedingung versehen ist. Denn es besteht kein Zusammenhang zwischen der Vermutung des § 47 Abs. 2 Satz 1 FGO und der Frage, ob die Klage wegen einer unzulässigen Bedingung nicht als wirksam erhoben beurteilt werden kann (vgl. Rechtsprechung; Literatur).
Normenkette
FGO § 47 Abs. 2 S. 1, § 66 Abs. 1, § 118 Abs. 3 S. 1, § 47 Abs. 1 S. 1, § 64 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Steuerberater. Am 31.März 1982 wurde ihm mit Postzustellungsurkunde die die Einkommensteuerfestsetzungen 1977 und 1978 betreffende Einspruchsentscheidung des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) zugestellt. Einem Aktenvermerk des FA zufolge behauptete der Kläger dem FA gegenüber fernmündlich am 11.Juni 1982, daß er am 1.April 1982 beim FA einen Berichtigungsvorschlag gemacht habe, dem für den Fall der Nichteinigung eine Klageschrift zur Weiterleitung an das Finanzgericht (FG) beigefügt gewesen sei. Diese Schreiben habe seine Frau persönlich in den Briefkasten des FA geworfen. Im Aktenvermerk vom 11.Juni 1982 heißt es außerdem wörtlich: "Die o.a. Unterlagen sind im Finanzamt nicht auffindbar. Herr A wird nunmehr direkt beim Finanzgericht Klage erheben und Wiedereinsetzung beantragen."
Mit Schreiben vom 12.Juni 1982 bestätigte der Kläger dem FA unter Bezugnahme auf das am Vortag geführte Telefonat, daß er von dem Nichtvorliegen des Antrags vom 1.April 1982 bzw. der Klage an das FG in Kenntnis gesetzt worden sei. Er habe "heute" das FG Köln angeschrieben, die Klage wiederholt und auf den Sachverhalt hingewiesen.
Seinen mit der Klage gestellten Sachantrag verband der Kläger mit dem Begehren, ihm wegen der versäumten Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Klageschrift datiert vom 30.Juli 1982; sie ist am 2.August 1982 beim FG eingegangen.
Das FG wies die Klage wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig ab. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht gegeben. Wiedereinsetzungsantrag und Nachholung der versäumten Rechtshandlung seien erst nach Ablauf der in § 56 Abs.2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand enthaltenen Antragsfrist erfolgt. Der Kläger sei nicht ohne Verschulden an der Einhaltung der Antragsfrist des § 56 Abs.2 FGO verhindert gewesen. Auch insoweit komme eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht.
Mit seiner Revision rügt der Kläger sinngemäß Verletzung des § 56 Abs.2 FGO. Er trägt vor, die Antragsfrist nach § 56 Abs.2 FGO habe erst am 22.Juli 1982 zu laufen begonnen. Denn erst an diesem Tag sei das Hindernis für die Einhaltung dieser Frist weggefallen. Er habe sich zuerst überzeugen wollen, ob seine Klageschrift vom 1.April 1982 nicht doch beim FA vorhanden gewesen sei. Zu diesem Zweck habe er sich mit der Rechtsbehelfs-, Veranlagungs- und Poststelle des FA in Verbindung gesetzt. Eine letztmalige Rückfrage bei der Veranlagungsstelle sei erst am 22.Juli 1982 erfolglos geblieben.
Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).
1. Der Senat versteht das Vorbringen des Klägers dahin, daß das FG zu Unrecht durch Prozeßurteil entschieden habe. Diese Verfahrensrüge (vgl. v.Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8.Aufl., § 56 FGO Rdnr.79) führt zur Aufhebung der Vorentscheidung. Die tatsächlichen Feststellungen des FG reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob die Klage unzulässig war. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Kläger die Klagefrist gewahrt hat.
a) Die Rüge des Klägers beschränkt sich inhaltlich zwar darauf, daß das FG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätte gewähren müssen (§ 56 FGO). Der Senat ist jedoch nicht gehindert, darüber hinaus zu prüfen, ob nicht schon die Klagefrist (§ 47 Abs.1 Satz 1 FGO) eingehalten worden ist. Zwar ist bei einer auf Verfahrensmängel gestützten Revision gemäß § 118 Abs.3 Satz 1 FGO grundsätzlich nur über den geltend gemachten Verfahrensmangel zu entscheiden. Aber abgesehen davon, daß die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Versäumung einer gesetzlichen Frist --hier die Klagefrist-- denknotwendig voraussetzt (§ 56 Abs.1 FGO), ist das Vorliegen jener Voraussetzungen, von denen die Zulässigkeit des auf sachliche Entscheidung gerichteten Verfahrens als solches und im ganzen abhängt, in jeder Lage des Verfahrens ohne Beachtung der in § 118 Abs.3 Satz 1 FGO enthaltenen Einschränkung zu überprüfen (vgl. z.B. für Prozeß- und Prozeßhandlungsvoraussetzungen Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3.Dezember 1971 III R 44/68, BFHE 105, 230, BStBl II 1972, 541; für Prozeßfortsetzungsbedingungen Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 21.Juni 1976 III ZR 22/75, Monatsschrift für Deutsches Recht --MDR-- 1977, 34). Dazu gehört auch die Einhaltung der Klagefrist, unabhängig davon, ob sie vom FG als eingehalten angesehen wurde oder nicht (BFH-Urteil vom 9.September 1970 I R 113/69, BFHE 100, 179, BStBl II 1971, 9, 10).
Nach den bisherigen Feststellungen des FG ist es nicht völlig ausgeschlossen, daß der Kläger die Klagefrist nicht versäumt hat. Trifft nämlich die Behauptung des Klägers zu, daß am 1.April 1982 eine Klageschrift des Klägers wegen Einkommensteuer 1977 und 1978 in den Briefkasten des FA eingelegt worden ist, die den in §§ 64, 65 FGO genannten Mindestvoraussetzungen entsprach (vgl. BFH-Urteil vom 7.Dezember 1977 II R 96/75, BFHE 123, 437, BStBl II 1978, 70) und die auch auf Kenntnisnahme durch das FA abgezielt hat (vgl. zu diesem Erfordernis der Anbringung i.S. von § 47 Abs.2 Satz 1 FGO z.B. BFH-Urteil vom 5.Dezember 1974 IV R 179/70, BFHE 114, 402, BStBl II 1975, 337), so würde gemäß § 47 Abs.2 Satz 1 FGO die Klagefrist als gewahrt gelten. Denn in diesem Fall wäre die Klageschrift derart in den Verfügungsbereich des FA gekommen, daß das FA tatsächlich von ihr hätte Kenntnis nehmen können. Der Verfügungsbereich des FA erstreckt sich auch auf den Hausbriefkasten (vgl. BFHE 114, 402, BStBl II 1975, 337).
b) Die Sache geht zur Nachholung der entsprechenden Feststellungen an das FG zurück. Der Senat hält es nicht für zweckmäßig, daß er selbst die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen trifft und Beweise erhebt.
Zwar unterliegt das Revisionsgericht bei Überprüfung der Frage, ob die Klagefrist gewahrt ist, keinen Beschränkungen, wenn Ergänzungen im Sachverhalt notwendig werden (vgl. v.Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 118 FGO, Rdnr.28; BGH-Urteil vom 25.Oktober 1977 VI ZR 198/76, Versicherungsrecht --VersR-- 1978, 155 m.w.N.; Werp, Deutsche Richterzeitung --DRiZ-- 1975, 278; Urteil des Bundesverwaltungsgericht --BVerwG-- vom 8.März 1983 1 C 34.80, Bayerische Verwaltungsblätter --BayVBl-- 1983, 476; BVerwG-Beschluß vom 21.Oktober 1976 VII B 94.76, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 31 o, § 60 VwGO Nr.94; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 6.Aufl., 1984, § 137 Rdnr.26; Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, Dissertation 1975, S.23 ff.). Es kann selbst Beweis erheben und auch neue Tatsachen berücksichtigen (BGH-Urteil in VersR 1978, 155 m.w.N.; Kopp, a.a.O., § 137 Rdnr.28). Dabei steht ihm ein Ermessen zu, ob es selbst Beweis erhebt oder zur Klärung zurückverweist (z.B. BGH-Urteil in VersR 1978, 155; Gottwald, a.a.O., S.55, 335 ff. m.w.N.). Die Ausübung dieses Ermessens hat sich an der Prozeßökonomie auszurichten. Dabei sind weitere Prozeßverzögerungen, (Verfahrens-) Kosten, Sachnähe und voraussichtliche Aufklärung abzuwägen gegen die Hauptaufgabe des Revisionsgerichts, Rechtsfragen zu entscheiden (Gottwald, a.a.O., S.337).
Die Prozeßökonomie gebietet im Streitfall die Beweiserhebung und Beweiswürdigung durch das FG. Hierfür spricht, daß die dadurch entstehenden Kosten und die zeitliche Belastung der Zeugen geringer sind, wenn die Beweiserhebung durch das ortsnähere FG durchgeführt wird.
Sollte sich ergeben, daß trotz umfassender Untersuchungen durch das FG der Sachverhalt unklar bleibt, so trifft den Kläger die Feststellungslast dafür, daß er die Klageschrift rechtzeitig in den Hausbriefkasten des FA eingeworfen hat (für die außergerichtliche Rechtsbehelfsschrift BFH-Urteil vom 8.Dezember 1976 I R 240/74, BFHE 121, 142, BStBl II 1977, 321).
2. Die Sachaufklärung kann nicht deshalb unterbleiben, weil die Entscheidung des FG aus anderen Gesichtspunkten heraus im Ergebnis zutrifft.
a) Ist das Beweisergebnis für den Kläger günstig, was nicht völlig ausgeschlossen werden kann, müßte die Klagefrist nach § 47 Abs.2 Satz 1 FGO unabhängig davon als gewahrt gelten, ob die Klageschrift zwischenzeitlich untergegangen oder nicht mehr greifbar ist und deshalb vom FA diese Klageschrift nicht an das FG übersandt werden konnte. Der Zugang der Klageschrift bei Gericht hat keinen Einfluß darauf, ob die Klagefrist gemäß § 47 Abs.2 Satz 1 FGO als eingehalten gilt, sondern nur dafür, ab wann die Klage erhoben und die Sache rechtshängig ist (§ 64 Abs.1 Satz 1, § 66 Abs.1 FGO; BFH-Urteil vom 12.März 1971 III R 76/69, BFHE 102, 14, 19, BStBl II 1971, 529; List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 66 FGO Rdnr.5; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz.7131; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11.Aufl., § 66 FGO Tz.1).
b) Die fristwahrende Wirkung nach § 47 Abs.2 Satz 1 FGO würde auch nicht beeinträchtigt, wenn die Klage vom 1.April 1982 mit einer unzulässigen Bedingung versehen gewesen wäre. Denn es besteht kein Zusammenhang zwischen der Vermutung des § 47 Abs.2 Satz 1 FGO und der Frage, ob die Klage wegen einer unzulässigen Bedingung nicht als wirksam erhoben beurteilt werden kann (§ 64 Abs.1 Satz 1, § 66 Abs.1 FGO; zur Unterscheidung vgl. auch Urteil des FG Düsseldorf vom 11.Dezember 1973 X 271/70 E, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1974, 320).
c) Die ggf. am 1.April 1982 beim FA angebrachte Klage war jedenfalls im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit (§ 66 Abs.1 FGO) unbedingt erhoben.
Nach den Feststellungen des FG ist diesem erst am 2.August 1982 eine die Einkommensteuersache 1977 und 1978 betreffende Klageschrift zugegangen, weswegen auch erst ab diesem Zeitpunkt die Klage erhoben und rechtshängig sein konnte. Am 2.August 1982 hat der Kläger aber, wie der Aktenvermerk des FA vom 11.Juni 1982 und das Schreiben des Klägers an das FA vom 12.Juni 1982 belegen, seine Bemühungen um eine außergerichtliche Einigung aufgegeben. Auch ein weiterer Schriftsatz vom 30.Juli 1982 enthält keinen Hinweis auf eine weitere Verknüpfung der Klage mit einem an das FA gestellten Berichtigungsantrag mehr.
Fundstellen
Haufe-Index 60879 |
BStBl II 1986, 268 |
BFHE 145, 299 |
BFHE 1986, 299 |
BB 1986, 519-519 (ST) |
DB 1986, 842-842 (ST) |
HFR 1986, 304-305 (ST) |