Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftungsbegründendes Verschulden bei Nichtabführung fälliger Steuern und rückwirkend bewilligter Stundung
Leitsatz (NV)
1. Ein Geschäftsführer, der im Falle eines noch nicht beschiedenen Antrags auf Stundung Steuern zum Fälligkeitszeitpunkt nicht abführt, handelt in der Regel schuldhaft i. S. v. § 69 AO 1977.
2. Eine nachträglich bewilligte Stundung, die auf den vor der Stellung des Stundungsantrags liegenden Zeitpunkt der Fälligkeit zurückwirkt, vermag die eingetretene Verwirklichung des Tatbestandes des § 69 AO 1977 nicht zu beseitigen.
Normenkette
AO 1977 §§ 69, 34
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) gemäß §§ 34, 69 der Abgabenordnung (AO 1977) in seiner Eigenschaft als ehemaliger Geschäftsführer der inzwischen in Konkurs gefallenen GmbH & Co. KG (KG) für deren Lohn- und Umsatzsteuerschulden des Jahres . . . als Haftungsschuldner in Anspruch.
Das Finanzgericht (FG) gab der vom Kläger erhobenen Klage statt und hob den Haftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung auf. Es führte im wesentlichen aus: Der Kläger habe seine Pflichten als Geschäftsführer nicht gemäß §§ 69, 34 AO 1977 grob fahrlässig verletzt. Als Geschäftsführer sei er zwar grundsätzlich verpflichtet gewesen, die fälligen Steuern an das FA abzuführen. Durch die vom FA rückwirkend zum Fälligkeitszeitpunkt gewährte Stundung der Lohn- und Kirchensteuern . . . sowie der Umsatzsteuer . . . sei er insoweit jedoch entlastet gewesen. Im Zusammenhang mit der zur Sicherung der gestundeten Steuerschulden vorgenommenen Forderungsabtretung sei dem Kläger entgegen der Auffassung des FA eine grob fahrlässige Pflichtverletzung nicht anzulasten. Er habe dem FA nicht vorgetäuscht, daß die Schuldnerin der abgetretenen Forderung, die X-GmbH, keine Gegenforderungen gehabt habe. Er habe lediglich die objektiv zutreffende Erklärung abgegeben, daß eine Aufrechnung nicht erfolgen könne. Auch bezüglich der Höhe der abgetretenen Forderung habe der Kläger keine falschen Erklärungen abgegeben. Zu der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), nach der bei unzureichender Liquidität eine Verpflichtung bestehe, die Löhne vor der Auszahlung zu kürzen und die Umsatzsteuerschulden in gleichem Maße wie die übrigen Schulden zu tilgen, sei zu bemerken: Eine anteilige Befriedigungspflicht aus vorhandenen Mitteln habe nicht bestanden, weil die Stundung vom Zeitpunkt der Fälligkeit bis zum . . . gereicht habe. Soweit der Stundungsantrag für die Lohnsteuer erst nach Fälligkeit gestellt worden sei, sei zu bedenken, daß die Lohnsteuer für . . . bereits vorher gestundet gewesen sei und der Kläger aufgrund seiner früheren Erfahrungen und laufenden Verhandlungen mit dem FA auch von einer Stundung der Lohnsteuer für . . . habe ausgehen können. Dies werde auch dadurch belegt, daß das FA dann ja auch kurz darauf die Stundung förmlich verfügt habe.
Mit seiner vom BFH zugelassenen Revision rügt das FA die unzutreffende Anwendung des § 69 AO 1977 und trägt vor: Das FG sei von den Urteilen des BFH vom 29. September 1987 VII R 54/84 (BFHE 151, 111, BStBl II 1988, 176), und vom 17. September 1987 VII R 62/84 (BFH/NV 1988, 7) abgewichen. Danach könnten Stundungsanträge, soweit diese nicht bereits vor dem Zahlungstermin positiv beschieden worden seien, nicht zu einer Entschuldbarkeit der Nichtzahlung am Fälligkeitstag führen. Für die Annahme einer Pflichtverletzung i. S. des § 69 AO 1977 komme es auch nicht darauf an, inwieweit der Steuerpflichtige mit einem Erfolg seines Stundungsbegehrens habe rechnen können. Der BFH habe festgestellt, daß auch eine später ausgesprochene Stundung nichts an der vorher verwirklichten Pflichtverletzung ändere. Außerdem liege eine Abweichung von dem BFH-Urteil vom 29. Juli 1986 VII R 132/83 (BFH/NV 1987, 74) vor. Danach sei eine Entschuldbarkeit der Nichtzahlung einbehaltener Lohnsteuer nur gegeben, wenn der Steuerpflichtige ein Guthaben gegenüber dem FA gehabt, er mit der Anmeldung der Lohnsteuer einen Verrechnungsantrag gestellt und das FA in der Vergangenheit derartige Verrechnungen vorgenommen oder aber eine generelle Verrechnungsabrede bestanden habe. Im Streitfall habe die KG jedoch keinerlei Guthaben gehabt, mit denen eine Verrechnung hätte vorgenommen werden können. Es habe auch keine Verrechnungsabrede bestanden und es seien auch keine mündlichen Stundungszusagen vor Fälligkeit gemacht worden. Eine Divergenz sei hinsichtlich der Lohnsteuer für . . . auch zu dem BFH-Urteil vom 20. April 1982 VII R 96/79 (BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521) gegeben. Das FG habe im Gegensatz zu der vom BFH vertretenen Auffassung ausgeführt, daß die Stundung ursächlich für den Steuerausfall sein müsse, um eine Inhaftungnahme des Klägers zu begründen. Richtigerweise sei jedoch allein darauf abzustellen, ob im Zeitpunkt der Lohnzahlung Mittel für die Zahlung vorhanden gewesen seien. Sei dies nicht der Fall, müßten gekürzte Löhne ausgezahlt werden. Werde nicht danach verfahren, so könnten spätere Ereignisse, wie z. B. eine Stundung, an der einmal begründeten Haftung nichts ändern. Die Vorinstanz habe auch den Inhalt der Steuerakten unzutreffend gewürdigt. Ihre Annahme, der Kläger habe aufgrund der Stundung der Lohnsteuer für . . . mit weiteren Stundungen rechnen können, stehe im Widerspruch zu dem Inhalt der sog. ERST-Akten, in denen ausdrücklich darauf hingewiesen worden sei, daß in Zukunft eine Stundung bestehender Steuerrückstände nicht mehr möglich sein werde. Aus den Steuerakten habe sich auch ergeben, daß Stundungen teilweise nicht bzw. erst nach nochmaliger Rücksprache mit dem Kläger bzw. seinem Finanzbuchhalter gewährt worden seien. Auch insoweit habe der Kläger nicht darauf vertrauen können, daß eine Stundung ausgesprochen werde.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Die Auffassung des FG, ein grob fahrlässiges Verhalten des Klägers i. S. von § 69 AO 1977 liege auch insoweit nicht vor, als er die streitige Lohn- und Umsatzsteuer im Zeitpunkt der Fälligkeit nicht wenigstens gekürzt oder anteilig abgeführt habe, weil er darauf habe vertrauen können, daß eine Stundung erfolgen werde, ist nach den bisher vom FG getroffenen Feststellungen rechtsfehlerhaft.
Der Senat hat für die Haftung nach § 109 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO), die lediglich eine schuldhafte Pflichtverletzung voraussetzt, entschieden, der Geschäftsführer dürfe nicht die schlichte Stellung eines Antrags auf Stundung ohne irgendwelche entsprechende vorherige Zusagen des FA zum Anlaß nehmen, seiner ihm vom Gesetz auferlegten Pflicht, die einbehaltenen ,,fremden" Mittel zum Fälligkeitstermin an das FA abzuführen, zu versäumen (vgl. BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521). Mit einem sicheren Erfolg eines Antrags auf Stundung dürfe der Geschäftsführer ohne vorherige Zusage nicht rechnen. Er habe so lange für die rechtzeitige Abführung der Lohnsteuer zu sorgen, wie über seinen Stundungsantrag nicht positiv entschieden sei. Reichten die vorhandenen Mittel nicht aus, hätten die Löhne entsprechend gekürzt als Vorschuß oder Teilbetrag ausgezahlt und die entsprechende Lohnsteuer abgeführt werden müssen.
An dieser Beurteilung hat sich auch nach Inkrafttreten der AO 1977 nichts dadurch geändert, daß nach § 69 AO 1977 für die Haftung mindestens eine grobe Fahrlässigkeit verlangt wird. Denn ein Geschäftsführer, der in Kenntnis seiner Pflicht zur Abführung der Steuern zum Fälligkeitstermin nicht zahlt, handelt sogar vorsätzlich. Das Verschulden i. S. des § 69 AO 1977 bezieht sich auf die Pflichtverletzung als solche und nicht auf die Folgen der Pflichtverletzung (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 1988, 7).
Das bedeutet, daß aufgrund der Stundungsanträge dem Kläger wegen der Nichtabführung der von der KG geschuldeten Steuern im Fälligkeitszeitpunkt ein grob fahrlässiges Verhalten nur dann nicht anzulasten wäre, wenn diese vor Fälligkeit gestellt worden wären oder wenn dem Kläger mündliche Zusagen über eine Stundung gemacht worden wären. Einen derartigen Sachverhalt hat das FG bislang nicht festgestellt.
2. Der Rechtsansicht der Vorinstanz, daß eine Haftung des Klägers auch deshalb ausscheide, weil das FA die streitigen Steuern nachträglich mit Rückwirkung zum Fälligkeitstage gestundet habe, kann sich der Senat auf der Grundlage der bislang festgestellten Tatsachen nicht anschließen. Das FG hat seine Meinung nicht näher begründet. Allerdings wird auch in der Literatur die Auffassung vertreten, eine zunächst entstandene Haftungsverpflichtung aus § 69 AO 1977 entfalle, wenn die Steuer nachträglich rückwirkend gestundet werde, und zwar mit der Begründung, daß damit eines der Tatbestandsmerkmale der Haftung rückwirkend entfalle (Carl, Der Betrieb 1987, 2120, 2122). Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Sollte diese Auffassung darauf beruhen, daß mit rückwirkendem Wegfall der Fälligkeit auch das Tatbestandsmerkmal der nicht rechtzeitigen Erfüllung des Steueranspruchs nicht mehr gegeben sei, so ist dazu zu bemerken, daß die einmal eingetretene Tatbestandsverwirklichung nicht rückwirkend wieder entfallen kann.
Allenfalls könnte bei nachträglich bis zum Zeitpunkt der Fälligkeit rückwirkend bewilligter Stundung die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den tatsächlich eingetretenen Schaden dem Grunde und der Höhe von besonderen Voraussetzungen abhängig sein. Es entspricht allgemeiner Meinung und auch der Rechtsprechung des Senats, daß im Rahmen der Haftung nach § 69 AO 1977 die Pflichtverletzung ursächlich sein muß für den eingetretenen Schaden. Diese Erfordernis ergibt sich daraus, daß die Haftung nach §§ 34, 35, 69 AO 1977 ihrer Rechtsnatur nach Schadensersatzcharakter hat (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 69 AO 1977 Tz. 2; BFH-Urteile vom 26. April 1984 V R 128/79, BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776, 778; vom 16. März 1988 I R 129/83, BFH/NV 1989, 409; Senatsurteile vom 12. Juli 1988 VII R 4/88, BFHE 154, 206, BStBl II 1988, 980, 981; vom 26. Juli 1988 VII R 83/87, BFHE 153, 512, BStBl II 1988, 859, 860; vom 5. September 1989 VII R 61/87, BFHE 158, 13, BStBl II 1989, 979, 980).
3. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird die - nach seiner Rechtsansicht zu Recht von ihm nicht für entscheidungserheblich gehaltene - Frage klären müssen, ob entsprechend dem Vorbringen des Klägers im Revisionsverfahren vor Fälligkeit Abreden getroffen worden sind, die als mündliche Stundungszusage gewertet werden können. Das FG wird ferner bezüglich der Umsatzsteuer den Grundsatz der sog. anteiligen Haftung für Umsatzsteuer (vgl. dazu BFH-Urteile in BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776; vom 12. Juni 1986 VII R 192/83, BFHE 146, 511, BStBl II 1986, 657; vom 14. Juli 1987 VII R 188/82, BFHE 150, 312, BStBl II 1988, 172; vom 11. Juli 1989 VII R 81/87, BFHE 157, 315, BStBl II 1990, 357) zu beachten haben. Das bedeutet, daß ein schuldhaftes Verhalten des Klägers und damit eine Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den Schaden auf jeden Fall nur in der Höhe angenommen werden kann, in der der Kläger die Umsatzsteuer im Fälligkeitszeitpunkt bei einer gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger hätte abführen können.
Fundstellen
Haufe-Index 417646 |
BFH/NV 1991, 578 |