Leitsatz (amtlich)
Für die Frage, ob eine Ehegattenbürgschaft allein wegen offenkundiger, krasser Überforderung des Bürgen sittenwidrig ist, sind alle bei Vertragsschluß erkennbaren Umstände einschließlich der voraussichtlichen Leistungsfähigkeit des Hauptschuldners zu berücksichtigen.
Normenkette
BGB §§ 765, 138 Abs. 1
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 15. März 1995 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Ehemann der 1946 geborenen Klägerin gründete im September 1990 ohne Eigenkapital einen Bauhandwerksbetrieb mit elf Mitarbeitern in Dresden. Die Beklagte bewilligte dem Ehemann der Klägerin – befristet bis 30. April 1991 – einen Umlaufmittelkredit von 100.000 DM, der alsbald auf 160.000 DM aufgestockt wurde. Infolge Oberziehungen betrugen die Verbindlichkeiten im März 1991 etwas über 213.000 DM. Am 29. Juli 1991 übernahm die Klägerin gegenüber der Beklagten die selbstschuldnerische Bürgschaft für alle bestehenden und künftigen Verbindlichkeiten aus der Geschäftsverbindung des Ehemannes mit der Beklagten bis zum Betrag von 200.000 DM. Daraufhin bewilligte die Beklagte ihm einen Kontokorrentkredit über diesen Betrag bis Jahresende 1991. Nachdem die Schuld bis dahin erneut auf über 208.000 DM angestiegen war, verlängerte die Beklagte den Kredit nicht. Der Handwerksbetrieb wurde eingestellt, ein Antrag auf Gesamtvollstreckung gestellt.
In einer notariellen Urkunde vom 17. Februar 1992 erkannte die Klägerin „zur selbständigen Begründung der Verpflichtung” an, der Beklagten 211.000 DM nebst 5 % Zinsen über dem Bundesbankdiskontsatz (seinerzeit 8 %) seit 1. Januar 1992 zu schulden; sie unterwarf sich wegen dieser Forderung der Zwangsvollstreckung in ihr Vermögen. Sie war und ist als Lohnbuchhalterin berufstätig und verdient monatlich etwas über 2.500 DM netto.
Mit der Klage beantragt die Klägerin, die Zwangsvollstreckung aus der Urkunde für unzulässig zu erklären sowie die Nichtigkeit der Bürgschaft festzustellen. Die Klägerin hält die Bürgschaftserklärung für sittenwidrig und hat deren Anfechtung erklärt. Die Klage hatte in erster Instanz Erfolg, während sie in zweiter Instanz abgewiesen wurde. Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin.
Entscheidungsgründe
Das Rechtsmittel ist nicht begründet.
I.
Die Vollstreckungsgegenklage ist gemäß § 767 in Verbindung mit §§ 794 Abs. 1 Nr. 5, 795, 797 Abs. 5 ZPO zulässig. Das Berufungsgericht hat ferner zutreffend und im Revisionsrechtszug unangegriffen erkannte daß der zu vollstreckende Anspruch aus einem selbständigen Schuldanerkenntnis im Sinne von § 781 BGB folgt, daß dieses aber keine Verstärkung des zugrundeliegenden Schuldverhältnisses bewirkte: Es besteht kein Anlaß dafür. daß die Klägerin – über die Schaffung eines vollstreckbaren Titels für ihre Zahlungspflicht hinaus – ihre als Grundlage angenommene Bürgenverbindlichkeit auch als solche hätte außer Streit stellen sollen und wollen. Die Klägerin bleibt deshalb befugt, Befreiung von der abstrakten Verbindlichkeit zu verlangen, soweit dafür ein Grundgeschäft fehlt (vgl. BGH, Urt. v. 18. September 1970 – IV ZR 1199/68, WM 1970. 1557, 1559; v. 16. April 1991 – XI ZR 68/90. NJW 1991, 2140 f). Eine sich daraus ergebende Bereicherungseinrede nach §§ 821. 812 Abs. 1 und 2 BGB richtet sich im Sinne von § 767 Abs. 1 ZPO gegen den in der notariellen Urkunde festgestellten Anspruch.
II.
Die von der Klägerin übernommene Bürgschaft ist nach den Maßstäben des Senatsurteils vom 18. Mai 1995 CIX ZR 108/94, WM 1995, 1397, 1399 und 1401, z.V.b. in BGHZ) nicht wegen Verstoßes gegen § 3 oder § 9 AGBG unwirksam. Die Klägerin hat die Bürgschaft nur aus Anlaß der Sicherung des einzigen, bestimmten Umlaufmittelkredits übernommen, der Grundlage der jetzigen Forderung ist. Zudem war ihre Bürgschaft der Höhe nach auf das Kreditlimit ziffernmäßig begrenzt.
III.
Die von der Klägerin erklärte Anfechtung greift nicht durch. Das eigene Vorbringen der Klägerin ergibt nicht, daß sie widerrechtlich durch Drohung (§ 123 Abs. 1 BGB) zur Abgabe der Bürgschaftserklärung bestimmt worden ist. Die Klägerin verkennt, daß im Juli 1991 der Kredit, den ihr Ehemann von der Beklagten in Anspruch genommen hatte, schon zur Rückzahlung fällig geworden war; einer Kündigung bedurfte es nicht mehr. Wenn die Beklagte der Klägerin in Aussicht stellte, von ihrem Ehemann alsbald Zahlungen zu fordern, die dieser nicht leisten konnte, so war das angekündigte Übel objektiv rechtmäßig. Statt dessen den fälligen Betrag weiterhin dem Ehemann der Klägerin als Darlehen zu belassen und ihm damit eine Chance zur Fortführung seines Betriebs zu geben, stand im freien Ermessen der Beklagten. Für eine solche Darlehensgewährung durfte sie auch Sicherheiten fordern. Zwar hatte sie keinen Anspruch gerade darauf, daß die Beklagte sich verbürgte. Das allein macht aber die Durchsetzung eines an sich nicht verbotenen oder sittenwidrigen Erfolgs noch nicht rechtswidrig (vgl. BGHZ 25, 217, 219 f m.w.N.; BGH, Urt. v. 15. Juni 1983 – IVa ZR 10/82, NJW 1983, 2494, 2495 unter e; BAG NJW 1970, 775). Im Wirtschaftsleben hat jeder grundsätzlich ein berechtigtes Interesse daran, für ein eigenes Entgegenkommen eine angemessene „Gegenleistung” zu fordern.
Die Verknüpfung des in Aussicht gestellten Übels mit dem erstrebten Erfolg war hier ebenfalls nicht rechtswidrig. Entscheidend ist insoweit, ob das eingesetzte Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck steht (vgl. BGH, Urt. v. 20. Juni 1962 – VIII ZR 249/61, LII 5 123 BGB Nr. 28; v. 4. November 1982 – VII ZR 11/82, NJW 1983, 384 f). Nach der Zeugenaussage des Ehemannes der Klägerin vor dem Landgericht – deren Inhalt sich die Klägerin zu eigen gemacht hat – hatte die Vertreterin der Beklagten ihm vorher mitgeteilt, neue Kredite könnten nur gegen Sicherheiten bewilligt werden. Die Klägerin wurde dann von ihrem Ehemann angesprochen und deren Bereitschaft, sich zu verbürgen, der Beklagten telefonisch angetragen. Später begleitete die Klägerin ihren Ehemann zur Beklagten. Deren Vertreterin stellte die geschäftliche Entwicklung des Ehemannes als rückläufig dar und erklärte, ein neuer Kredit könne nur bei einer Bürgschaft der Ehefrau bewilligt werden. Sie fügte hinzu, was die Folge einer Kreditverweigerung sei, könne sich die Klägerin selbst ausmalen, dann müsse das Geschäft geschlossen werden. Diese Konsequenz entsprach auch der eigenen Überzeugung des Ehemannes der Klägerin selbst.
Hiernach bot die Beklagte der Klägerin an, das für deren Ehemann bereits aus seinem eigenen vorrangigen Verantwortungsbereich heraus nahezu eingetretene wirtschaftliche Übel der Zahlungsunfähigkeit für den Fall einer Bürgschaftsübernahme noch abzuwenden. Das eingesetzte Mittel entsprach allein einer zutreffenden Aufklärung über die rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge; die Entscheidung verblieb bei der Klägerin. Daß sie dabei auf die Belange ihres Ehemannes Rücksicht nahm, begründete aus ihrer Sicht überhaupt erst das drohende Übel, macht die Verbindung des gewählten Mittels zum angebotenen Zweck aber nicht sittlich anstößig. Jener Umstand allein braucht einen Verhandlungspartner, der darauf nicht zusätzlich einwirkt oder ihn nicht ausnutzt, nicht von einem Interzessionsgeschäft mit dem Ehepartner abzuhalten.
Es kommt somit nicht mehr entscheidend darauf an, daß die Verhandlungsführerin der Beklagten, B., als Zeugin bestritten hat, eine Geschäftsschließung des Ehemannes als Folge einer Weigerung der Klägerin erwähnt zu haben. Ferner braucht das Berufungsgericht – entgegen der Rüge der Revision – die in erster Instanz vernommenen Zeugen nicht erneut anzuhören (§ 398 ZPO), weil die Klägerin selbst nicht behauptet hat, daß ihr Ehemann zu den insoweit entscheidenden Punkten weitergehende Angaben machen könnte als in erster Instanz.
IV.
Die Beklagte hat ferner nicht Aufklärungspflichten gegenüber der Klägerin verletzt, also nicht gegen vorvertragliche Sorgfaltspflichten verstoßen.
Auch im Zusammenhang mit Bürgschaftsverträgen können vorvertragliche Aufklärungspflichten grundsätzlich gemäß den allgemeinen Regeln bestehen. Jedoch ist der Gläubiger wegen der Rechtsnatur der anzubahnenden einseitigen Verpflichtung nur ausnahmsweise für eine vorvertragliche Aufklärung des Bürgen verantwortlich; insbesondere ist in aller Regel davon auszugehen, daß der Bürge die Tragweite des von ihm zu übernehmenden Risikos selbst kennt (BGH, Urt. v. 17. März 1994 – IX ZR 174/93, NJW 1994, 2146, 2148 m.w.N.).
Ob ausnahmsweise etwas anderes gilt, wenn der Gläubiger im Gegensatz zum Bürgen Umstände kennt, die für dessen Willensbildung von ausschlaggebender Bedeutung sein müssen, braucht nicht entschieden zu werden. Denn für die zweite Voraussetzung hat die Klägerin nicht ausreichend vorgetragen.
Sie wirft der Beklagten zwar pauschal vor, die Einräumung neuer Kredite an den Ehemann sei von vornherein wirtschaftlich sinnlos gewesen und die Beklagte habe das gewußt. Die eigenen tatsächlichen Angaben der Klägerin widersprechen dem jedoch. Ihrem Ehemann gelang es nach der Kreditverlängerung, den Schuldsaldo bis September 1991 auf rund 151.500 DM zurückzuführen; erst danach stieg er wieder an. Das beruhte nach Behauptung der Klägerin (Seite 7 der Klageschrift = Bl. 7 GA) einerseits auf der Zinsbelastung, zum anderen darauf, daß einige Kunden zahlungsunfähig wurden. Daß dies schon bei Eingehung der Bürgschaft vorauszusehen war, ist nicht dargetan. Erst recht fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, daß gerade die Beklagte eine solche Entwicklung vorausgesehen hätte oder auch nur hätte voraussehen müssen. Das Vorbringen der Klägerin, ihr Ehemann habe der Beklagten „die jeweiligen betriebswirtschaftlichen Auswertungen überlassen” (Seite 8 ihres Schriftsatzes vom 25. Oktober 1992 = Bl. 68 GA), ist weder zeitlich noch hinsichtlich der Art der Erkenntnismöglichkeiten eingeordnet. Das gilt insbesondere gegenüber dem Bestreiten der Beklagten, sie habe den Ehemann der Klägerin häufig daran erinnert, längst überfällige betriebswirtschaf tliche Unterlagen – wie Unternehmens- und Finanzierungskonzepte, Kalkulationen, die Bilanz für 1990 sowie die Auswertungen ab 9/91 – vorzulegen; zur Betriebseinstellung habe letztlich geführt, daß der Ehemann der Klägerin seine Leistungen nicht kostendeckend kalkuliert und wiederholt Einbußen durch nicht qualitätsgerechte Arbeit erlitten hätte (Seite 8 und 9 der Klageerwiderung = Bl. 39 f CA; Seite 3 f des Schriftsatzes vom 14. Mai 1993 = Bl. 81 f GA). Nimmt man hinzu. daß die als Buchhalterin ausgebildete Klägerin selbst unstreitig die Lohnabrechnung im Betrieb ihres Ehemannes tätigte, ergibt sich kein wesentlicher Wissensvorsprung der Beklagten.
IV.
Das Berufungsgericht hat mit Recht angenommen, daß die von der Klägerin übernommene Bürgschaft nicht gemäß § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig und nichtig ist.
1. Allerdings ist die Klägerin nicht in der Lage, die verbürgte Schuld zu tilgen. Sie verdient – berechnet gemäß § 850 e Nr. 1 und § 850 a Nr. 3 ZPO – monatlich 2.515,50 DM netto. Davon sind nach der Tabelle zu § 850 c ZPO monatlich 903,70 DM pfändbar, weil die Klägerin niemandem unterhaltspflichtig ist. Ihr pfändbares Einkommen reicht also nicht ganz aus, um alle auf die Verbindlichkeit laufend anfallenden Zinsen zu tilgen, so daß jene ohne zusätzliche Tilgungen durch den Hauptschuldner weiter anwachsen wird. Daran würde sich auch nichts ändern, falls der Ehemann der Klägerin persönlich Vollstreckungsschutz gemäß § 18 Abs. 2 Satz 3 GesO beanspruchen könnte. Denn seine Zahlungspflicht an sich bleibt auch dann erhalten; Mitschuldner und Bürgen des Gesamtvollstreckungsschuldners werden nicht von ihren Verbindlichkeiten befreit (ebenso künftig § 254 Abs. 2, § 301 Abs. 2 InsO).
Der Umstand allein, daß eine Ehefrau für ihren Ehemann eine Bürgschaft übernimmt, die sie nicht voll erfüllen kann, macht dieses Rechtsgeschäft jedoch noch nicht sittenwidrig (BGH, Urt. v. 16. März 1989 – III ZR 37/88, NJW 1989, 1665, 1666; v. 5. Januar 1995 – IX ZR 85/94, WM 1995, 237, 238, z.V.b. in BGHZ 128, 230; v. 30. März 1995 – IX ZR 98/94, 0£ 1995, 900. 902; vgl. auch BGHZ 125, 206, 209 f). Das geltende Zivilrecht steht der Mithaftung von Eheleuten nicht entgegen. Die eheliche Lebensgemeinschaft (§ 1353 Abs. 1 BGB) umfaßt auch die vermögensrechtlichen Verhältnisse der Ehegatten; eine Wirtschafts- und Risikogemeinschaft ist ihrem Wesen nicht fremd. Für güterrechtliche Regelungen, die zu einer Mithaftung von Ehegatten führen, sehen die §§ 1408 Abs. 1, 1415, 1437, 1459 BGB grundsätzlich die Vertragsfreiheit vor; am Zugewinn jedes Ehegatten hat der andere kraft Gesetzes Anteil (§§ 1363 ff BGB). Eine dem Familienbetrieb dienende, von beiden Partnern für sinnvoll erachtete Kreditgewährung dient schon im Hinblick auf die gegenseitige Unterhaltspflicht zugleich den Interessen desjenigen Teils, der selbst nicht im Unternehmen tätig ist. Die Entscheidung eines Ehegatten, sich über die eigene finanzielle Leistungsfähigkeit hinaus für den Ehepartner zu verbürgen, beruht daher nicht ohne weiteres auf einem Mißbrauch der Vertragsfreiheit. Vielmehr setzt unter Berücksichtigung dieser wirtschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten das Unwerturteil der Sittenwidrigkeit weitergehende Umstände voraus (dazu unten 2.). Darauf hat auch der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes für die Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB stets abgestellt (BGHZ 120, 272, 276 f; BGH, Urt. v. 22. Januar 1991 – XI ZR 111/90, ZIP 1991, 224, 226 unter c und d cc; v. 26. April 1994 – XI ZR 184/93, VIN 1994, 1022, 1024).
2. Erschwerende Umstände, die über eine inhaltliche Überforderung der Klägerin hinausgehen, liegen hier nicht vor:
a) Nach allgemeinen Grundsätzen ist ein Rechtsgeschäft sittenwidrig. das – für den anderen Teil erkennbar – nur aufgrund einer Zwangslage des einen Partners zustande gekommen ist, wenn zusätzliche gewichtige Umstände die Begründung der Verbindlichkeit als sittlich unerträglich erscheinen lassen (vgl. BGH, Urt. v. 10. März 1982 – VIII ZR 222/81, NJW 1982, 1457 f; v. 24. Februar 1994 – IX ZR 227/93, ZIP 1994, 614 f; v. 5. Januar 1995 – IX ZR 85/94, 0£ 1995, 237. 238, z.V.b. für BGHZ 128, 230; Heinrichsmeier FamRZ 1994, 129. 132 unter a). Dafür ist hier nichts dargetan.
Die Klägerin ist nicht in rücksichtsloser Weise unter Druck gesetzt worden, um die Bürgschaft zu übernehmen. Eine entsprechende Einwirkung ihres eigenen Ehemannes behauptet sie selbst nicht. Nach dessen Zeugenaussage hat sie sich nach zutreffender Aufklärung über die rechtliche und wirtschaftliche Ausgangslage zur Abgabe der Bürgschaftserklärung entschlossen, um ihm zu helfen (siehe oben III). Dies ist die typische Motivlage bei Bürgschaften von Ehegatten, nicht aber zugleich ein weiterer erschwerender Umstand. Dagegen hat die Beklagte mit dem geschilderten Verhalten nicht von sich aus in unlauterer Weise in das Selbstbestimmungsrecht der Klägerin – einer damals fast 45jährigen, berufstätigen Frau – eingegriffen. Sie wurde nicht etwa überrumpelt, sondern hatte Tage – nach Darstellung der Beklagten sogar sechs Wochen – Zeit zur Überlegung. Dadurch, daß sie nebenher unstreitig die Lohnbuchhaltung im Betriebe ihres Ehemannes führte, besaß sie wenigstens einen gewissen Einblick in das Unternehmen.
Die Beklagte hat ferner nicht durch eine von Anfang an unzulängliche Aufklärung die Klägerin in eine seelische Zwangslage gebracht, in welcher ihr keine freie Wahlmöglichkeit mehr blieb. Hiervon könnte etwa auszugehen sein, wenn die Beklagte schon bei der Auszahlung des Umlaufmittelkredits im Jahre 1990 als sicher damit gerechnet hätte, später noch eine Bürgschaft der Klägerin zu fordern, ohne darauf hinzuweisen (vgl. Senatsurt. v. 2. November 1995 – IX ZR 222/94, ZIP 1996, 65, 66). Dafür ist jedoch nichts dargetan. Insbesondere behauptet die Klägerin selbst nicht substantiiert, daß die Beklagte von vornherein eine negative wirtschaftliche Entwicklung des Betriebes des Ehemannes erwartet hätte (s.o. IV).
b) Sittenwidrig kann ferner ein Rechtsgeschäft sein, durch das der Schuldner gegenwärtig und für die Zukunft in eine wirtschaftlich aussichtslose Lage gebracht wird, wenn der Gläubiger sich dieses Umstandes bewußt ist und zusätzliche erschwerende Umstände hinzukommen (vgl. BGHZ 125, 206, 210 f; BGH, Urt. v. 25. März 1966 – VIII ZR 225/65, NJW 1966, 1451 f; v. 5. Januar 1995 – IX ZR 85/94, WM 1995, 237, 239, z.V.b. in BGHZ 128, 230; Heinrichsmeier FamRZ 1994, 129, 132 unter b). Im vorliegenden Falle war die Übernahme der Bürgschaft allerdings geeignet, die Klägerin finanziell zu überfordern, weil ihr pfändbares Einkommen nicht ausreichte, um die auf die verbürgte Schuld jährlich anfallenden Zinsen voll zu tilgen. Es spricht ferner nichts dafür, daß die Beklagte etwa von einem höheren Einkommen der Klägerin ausgegangen wäre. Jedoch liegen auch insoweit keine besonderen Umstände vor, welche den Inhalt der konkreten Bürgschaft als sittlich unerträglich erscheinen ließen.
aa) Die Klägerin war bei Eingehung der Bürgschaft nicht unerfahren und wurde auch in ihrer Entschließungsfreiheit nicht unzulässig beeinträchtigt (s. oben a). Daran ändert der Umstand nichts, daß die Klägerin den größten Teil ihres Berufslebens unter den wirtschaftlichen Verhältnissen der damaligen DDR verbracht hatte. Ein Jahr nach Herstellung der Währungseinheit und zehn Monate, nachdem der Ehemann den Handwerksbetrieb gegründet hatte, mußte ihr das Risiko der Bürgschaft – auch aufgrund ihrer eigenen, fortgesetzten Berufserfahrung als Lohnbuchhalterin – jedenfalls im wesentlichen klar sein (vgl. auch Senatsurt. v. 30. März 1995 – IX ZR 98/94, 0£ 1995, 900, 904).
bb) Der Beklagten kann ferner nicht vorgeworfen werden, sehenden Auges eine für die Klägerin aussichtslose Lage geschaffen zu haben (vgl. zu dieser Voraussetzung Medicus AcP 188, 489, 501 f; Germhuber JZ 1995, 1086, 1094). Zwar kann auch ein besonders grobes Mißverhältnis zwischen der Leistungsfähigkeit des Schuldners und der von ihm übernommenen Verpflichtung die Vermutung begründen, daß er sich nur aus einer unterlegenen Position heraus auf das Geschäft einläßt, und den redlich denkenden Gläubiger zur Vorsicht mahnen. Voraussetzung dafür ist aber eine offenkundige, krasse Überforderung des Schuldners, die sich insbesondere jedem Kreditgeber ohne weiteres aufdrängen muß; nur dann kann dem Gläubiger die mindestens erforderliche grob fahrlässige Mißachtung (vgl. hierzu BGHZ 10, 228, 233; BGH, Urt. v. 21. Mai 1957 – VIII ZR 226/56, LII § 138 (Ba) Nr. 2; v. 27. Januar 1988 – VIII ZR 155/87, NJW 1988, 1373, 1374 unter I 1) existenzieller Belange des Schuldners vorgeworfen werden. Ein derartiges, auch für den Gläubiger selbst sinnloses Geschäft kommt in Betracht, wenn die Verbindlichkeit, für die insbesondere ein Bürge einstehen soll, so hoch ist, daß bereits bei Vertragsschluß feststeht, er werde ein sich verwirklichendes Risiko auch bei günstigster Prognose mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht einmal zu großen Teilen abdecken können (BGHZ 125, 206, 211; BGH, Urt. v. 30. März 1995 – IX ZR 98/94, VW 1995, 900, 902).
Hierbei sind – wie stets im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB – alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, die im maßgeblichen Zeitpunkt des Vertragsschlusses (vgl. hierzu BGHZ 100, 353, 359) zu erkennen waren. Es ist also nicht zulässig, allein rückblickend je nach dem konkreten Ausgang – zur Entscheidung durch die Gerichte gelangen durchweg nur diejenigen Fälle, in denen das Vorhaben letztlich scheiterte – zu beurteilen, ob die einzelne Verpflichtung „existenzgefährdend” und damit sittenwidrig war. Statt dessen hat der Gläubigervorausschauend abzuwägen, ob die Kreditgewährung einschließlich aller gebotenen Sicherheiten insgesamt eine hinreichende Erfolgsaussicht bietet. Würde hierbei ein zu enger Maßstab angelegt, könnte die notwendige Bereitschaft, auch wirtschaftliche Risiken einzugehen, entscheidend beeinträchtigt werden. Die Sicherheiten sollen Bedeutung erhalten, wenn der gewährte Kredit nicht planmäßig abgewickelt werden kann. Der Umstand, daß ein Kreditgeber sich auch für den schlimmsten Fall sichert, bedeutet durchweg nicht, daß er dessen Eintritt erwartet, und nur unter besonderen Umständen muß er damit rechnen.
Im vorliegenden Falle bot schon das eigene Einkommen der Klägerin ein beachtliches Zugriffsobjekt. Auch wenn es allein nicht ausreicht. um das gewährte Darlehen voll zu bedienen, dürfen die Parteien bei Vertragsschluß die mutmaßliche künftige Entwicklung mit in ihre Erwägungen einbeziehen. Insoweit fiel ins Gewicht, daß die Klägerin – die keine Kinder betreute – nebenberuflich mit in das Unternehmen des Ehemannes eingebunden war, indem sie die Lohnbuchhaltung wahrnahm. Dies konnte bei einem Erfolg des Betriebes ausbaufähig erscheinen. Notfalls konnte der Ehemann der Klägerin aber auch als Elektromeister eine abhängige Beschäftigung aufnehmen: Dadurch hat er später unstreitig zeitweise monatlich 5.700 DM brutto erhalten; gegenwärtig verdient er, ohne Zeitarbeit, monatlich mindestens 2.200 DM netto. Seine Zahlungen hätten die Beklagte gemäß § 767 Abs. 1 Satz 1 BGB vorrangig entlastet. Beide Eheleute zusammen sind somit in der Lage, bei vollem Einsatz ihres pfändbaren Einkommens nicht nur die derzeitigen Zinsen auf das verbürgte Darlehen abzudecken, sondern auch nicht ganz unerhebliche Tilgungsleistungen zu erbringen. Das ist entscheidend. Denn soweit die finanzielle Oberforderung des Mitverpflichteten zur Sittenwidrigkeit gem. § 138 Abs. 1 BGB führen kann, darf nicht darauf abgestellt werden, ob jeder einzelne auch bei Ausfall des anderen die Verpflichtung allein erfüllen kann (BGH. Urt. v. 16. März 1989 – III ZR 37/88, NJW 1989, 1665, 1666 f). Der Senat hat nur bei der Bürgschaft eines Kindes für die Hauptschuld des Vaters auf die begrenzte Leistungsfähigkeit des Kindes für sich abgestellte weil es mit den Eltern keine dauerhafte Wirtschaftsgemeinschaft unterhielt (Urt. v. 24. Februar 1994 – IX ZR 22793, WM 1994, 660. 662). Er versteht auch das Urteil vom 26. April 1994 (XI ZR 184/93, WM 1994. 1022, 1023 unter II 3a) nicht als Abweichung von der bezeichneten Rechtsprechung: Zwar ist die finanzielle Überforderung jedes Mitverpflichteten allein aus seiner eigenen Leistungsfähigkeit heraus zu beurteilen (s.o. 1.). Davon zu unterscheiden ist aber die umfassendere Frage, ob diese Oberforderung aufgrund aller maßgeblichen Umstände des Falles zur Sittenwidrigkeit führt (vgl. Urt. v. 26. April 1994 – XI ZR 184/93, aaO S. 1024 f). Nur darum geht es hier.
Es kommt hinzu, daß bisher Maßstäbe für eine objektive Beurteilung des wirtschaftlichen Sicherungswertes von Bürgschaften fehlen; für jeden Gläubiger begründet das eine beträchtliche Ungewißheit in der Hinsicht, wie die Obergrenze für eine Bürgschaft sinnvollerweise zu bestimmen ist. Endlich durfte die Beklagte die Mitverpflichtung der Klägerin auch bis zu einem solchen Umfange verlangen, der eine denkbare Verlagerung von haftendem Vermögen ihres Ehemannes auf sie wirtschaftlich uninteressant machte (vgl. dazu Senatsurt. v. 5. Januar 1995 – IX ZR 85/94, 0£ 1995, 237, 239 z.V.b. in BGHZ 128, 230; Becker DZWir 1995, 237, 238 f).
Insgesamt läßt sich nicht feststellen, daß die Beklagte etwa von vornherein kein schützenswertes Eigeninteresse verfolgt hätte, indem sie die Klägerin durch die Bürgschaft mit in die volle Zahlungspflicht einbezog.
3. Verfassungsrechtliche Gründe – insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG in der Ausprägung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – führen hier ebenfalls nicht zu einer Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat zwar entschieden, daß die Zivilgerichte in Beachtung der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie sowie des Sozialstaatsprinzips eine Anwendung der §§ 138 und 242 BGB auf Verträge in Betracht ziehen müssen, die einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis „strukturell ungleicher” Verhandlungsstärke sind (BVerfGE 89, 214, 229 ff; BVerfG NJW 1994, 2749, 2750). Es hat aber nicht allein wegen eines Mißverhältnisses von Verpflichtungsumfang und Leistungsfähigkeit des Bürgen die Unverbindlichkeit des Rechtsgeschäfts angenommen, sondern zusätzlich jeweils die Frage nach den Voraussetzungen und Gründen des Vertragsschlusses gestellt. Gemäß dieser Rechtsprechung kommt es bei ausgeprägter Unterlegenheit des Vertragspartners entscheidend darauf an, auf welche Weise der Vertrag zustande gekommen ist (BVerfGE 89, 214, 235); die in § 138 Abs. 2 BGB genannten Umstände werden in diesem Zusammenhang als typische Merkmale für eine Verhandlungsunterlegenheit hervorgehoben, die richterliche Korrektur erfordert (aaO S. 233). Wesentlich sind Umstände, die es nahelegen, daß die Fähigkeit des Bürgen zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung beeinträchtigt war (BVerfG NJW 1994, 2749, 2750).
b) Solche Umstände bietet der vorliegende Fall nach den unanfechtbaren Feststellungen des Berufungsgerichts nicht: Die Klägerin war weder unerfahren noch in erheblichem Maße in ihrer Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt; der Umstand allein, daß sie sich von familiären Erwägungen leiten ließ, genügt auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht, um eine Zwangslage zu begründen. Erst recht besteht kein Anhaltspunkt für eine Ausnutzung der Klägerin durch die Beklagte. Diese durfte im Gegenteil berücksichtigen, daß die Klägerin selbst aus einem wirtschaftlichen Erfolg des vom Ehemann unterhaltenen Handwerksbetriebes Nutzen hätte ziehen können. Die infolge ungünstiger Umstände letztlich eingetretene wirtschaftliche Überforderung der Klägerin indiziert allein nicht eine besonders unterlegene Verhandlungsposition.
4. Aus alledem ergibt sich zugleich, daß der auf Feststellung der Nichtigkeit des Bürgschaftsvertrages gerichtete Antrag der Klägerin (§ 256 Abs. 2 ZPO) unbegründet ist.
VI.
Der Senat sieht keine Möglichkeit, den Umfang der Bürgenpflicht gem. § 242 BGB entsprechend der eigenen Leistungsfähigkeit der Bürgin zu verringern.
Daß ein Schuldner nicht in der Lage ist, seine Verbindlichkeiten zu erfüllen, und dadurch in eine langdauernde Abhängigkeit von seinem Gläubiger geraten kann, ist keine Besonderheit gerade von Ehegattenbürgschaften. Ein Eingriff in den Vertrag ist gegenwärtig schon deshalb nicht erforderlich, weil der Gesetzgeber die bevorstehende Möglichkeit der Restschuldbefreiung (§ 301 InsO) zur Abhilfe bestimmt hat. Besondere Umstände, die hier ausnahmsweise schon jetzt einen noch weitergehenden Schutz der Klägerin erfordern würden, sind nicht dargetan.
Unterschriften
Brandes, Stodolkowitz, Kirchhof, Fischer, RiBGH Dr. Zugehör ist urlaubshalber gehindert zu unterschreiben Brandes
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 18.01.1996 durch Vetter-Haschke Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 604951 |
BB 1996, 660 |
NJW 1996, 1274 |
Nachschlagewerk BGH |
ZIP 1996, 495 |
ZBB 1996, 142 |