Prof. Dr. rer. pol. Hanno Kirsch
Rz. 1
Der Jahresabschluss eines Unternehmens ergibt sich nach Form und Inhalt keineswegs zwangsläufig und unabänderlich aus dem Rechnungswesen am Ende des Geschäftsjahres. Vielmehr zeigen sich bei seiner Vorbereitung und Erstellung hinsichtlich der zu erfassenden, auszuweisenden, zu bewertenden und zu erläuternden Vorgänge zahlreiche Handlungsalternativen. Notwendigerweise muss ständig zwischen mehreren zulässigen Alternativen gewählt werden. Die verschiedenen Wahlmöglichkeiten lassen sich in einem HGB-Abschluss aber auch gezielt ausnutzen, weil sich das den Abschluss aufstellende Unternehmen daraus Vorteile verspricht. Dann spricht man von Bilanzpolitik.
Bilanzpolitik lässt sich definieren "als die willentliche und hinsichtlich der Unternehmensziele zweckorientierte Beeinflussung von Form und Inhalt des Jahresabschlusses und der damit einhergehenden Berichterstattung, soweit das geltende Recht beachtet wird."
Rz. 2
Der zumeist verwendete und gebräuchliche Ausdruck "Bilanzpolitik" ist vielfach zu eng, denn es geht ja hier nicht nur um die Bilanz, sondern um alle den Jahresabschluss betreffenden Vorgänge, was die Gewinn- und Verlustrechnung und – bei Kapitalgesellschaften – zumindest auch den Anhang einschließt. Und letztendlich fällt auch die Gestaltung und insbesondere der Umfang des Lageberichts der Kapitalgesellschaft, einschließlich des ggfs. aufzustellenden Nachhaltigkeitsberichts, oder zusätzlich mit dem Jahresabschluss und dem Lagebericht offenzulegenden Berichte (z. B. Vergütungsbericht nach § 162 AktG, Bericht zur Gleichstellung und Entgeltgleichheit nach § 21 EntgTranspG oder der Ertragsteuerinformationsbericht) in den Anwendungsbereich. Passender wäre deshalb eigentlich der Begriff "Jahresabschlusspolitik" oder "Rechnungslegungspolitik". In der Praxis hat sich jedoch die Bezeichnung "Bilanzpolitik" eingebürgert, sodass auch im Folgenden von Bilanzpolitik gesprochen werden soll.