Prof. Dr. rer. pol. Hanno Kirsch
Rz. 68
Der Aspekt der Wirkungsdauer betrifft hauptsächlich die materielle Bilanzpolitik, weil aufgrund der sog. Zweischneidigkeit der Bilanz eine bilanzpolitische Maßnahme sich in der Folgezeit grundsätzlich entgegengesetzt auswirkt. So bedingt z. B. bei einem Anlagegut die höhere Abschreibung in der Anfangszeit geringere Abschreibungsmöglichkeiten für die restliche Nutzungsdauer. Anfängliche Gewinnminderungen ziehen also später i. d. R. Gewinnerhöhungen nach sich; entsprechendes gilt für den Fall anfänglicher Gewinnerhöhungen durch bilanzpolitische Maßnahmen.
Die konträren Folgewirkungen der materiellen Bilanzpolitik können durch neue bilanzpolitische Maßnahmen überlagert und damit hinausgezögert werden. Unter Umständen handelt es sich dabei – im Extremfall kontinuierlich revolvierender Maßnahmen – um eine Hinauszögerung über die Lebensdauer der Unternehmung.
Rz. 69
Nach der Frist, innerhalb der die Gegenwirkung bei den einzelnen bilanzpolitischen Maßnahmen im Wesentlichen eintritt, lassen sich die Mittel, wie in Abbildung 8 beispielhaft dargestellt, unterscheiden.
Bei den kurzfristig wirksamen Maßnahmen dominieren Mittel im Bereich des Umlaufvermögens. Für mittelfristig wirksame Maßnahmen sind Gestaltungen beim beweglichen Anlagevermögen typisch, während sich Maßnahmen mit erst langfristig eintretenden Gegenwirkungen vor allem auf Grundstücke, Gebäude, Beteiligungen und langfristige Rückstellungen, insbesondere Pensionsrückstellungen, beziehen.
Demgegenüber haben aufgrund des Stetigkeitsgebots Bewertungsmaßnahmen bei den Vorräten und Forderungen (Methode der Ermittlung der Bewertungsabschläge) zwar eine langfristige Wirkung, allerdings schlägt sich das Umlaufvermögen im Regelfall kurzfristig um. Daher erscheint es angebracht, hier von kurzfristig wirksamen Maßnahmen auszugehen.
Rz. 70
Aus Abbildung 8 ergibt sich die Konsequenz, dass es im Rahmen der materiellen Bilanzpolitik nicht nur auf die Höhe der möglichen Ergebnisverlagerung ankommt, sondern auch auf den zeitlichen Aspekt, d. h. auf die Dauer der Ergebnisverlagerung. Der Zeitpunkt der Folgewirkungen muss von vornherein in das Kalkül einbezogen werden. Ein Fall möge dies verdeutlichen.
Die Geschäftsleitung eines Unternehmens erkennt gegen Ende des Geschäftsjahres 10, dass sie dieses Jahr ein überaus gutes Ergebnis ausweisen wird. Gleichzeitig lässt sich aber anhand der Auftragsentwicklung ablesen, dass im Jahr 11 voraussichtlich ein sehr schlechtes Ergebnis zu erwarten ist. Eine Gewinnverlagerung vom Jahr 10 in das Jahr 11 bietet sich an. In dieser Situation wäre es nicht sinnvoll, den Gewinn des Jahres 10 durch Maßnahmen zu schmälern, bei denen die Gegenwirkung erst langfristig eintritt, also etwa die Fertigstellung eines Gebäudes zu beschleunigen, damit im Jahr 10 noch mit der Abschreibung begonnen werden kann. Die dadurch erzielte Gewinnminderung stünde im Jahr 11 nicht als einsetzbare Gewinnerhöhung zur Verfügung. Hier sind vielmehr kurzfristige Verlagerungen angebracht, bei denen die Gegenwirkung bereits im Folgejahr zu verzeichnen ist, z. B. eine besonders vorsichtige Bewertung dubioser Lieferforderungen oder die Verschiebung von Absatzgeschäften, u. a. die Abnahme langfristiger Fertigungsaufträge, in das Folgejahr oder – falls möglich – die steuerlich unbeachtliche Vornahme einer außerplanmäßigen Abschreibung auf eine Finanzanlage, deren Wertminderung voraussichtlich vorübergehend ist (vgl. Rz. 64).
Ganz anders wäre hingegen zu entscheiden, wenn das Geschäftsjahr 10 ein außergewöhnlich gutes Jahr in einer Reihe normaler Geschäftsjahre ist. Unter diesen Aspekten würde vieles dafürsprechen, die Gewinnspitze zur Selbstfinanzierung zu verwenden und eine bilanzpolitisch bewirkte Gewinnminderung langfristig zu binden. Ist umgekehrt das Jahr 10 ein außergewöhnlich schlechtes Jahr in einer Reihe normaler Jahre, so erscheint ebenfalls eine langfristige Verteilung der Gegenwirkung zweckmäßig. Im zuletzt genannten Falle kommt beispielsweise im Jahr 10 die Aktivierung von Fremdkapitalzinsen auf in diesem Jahr selbsterstellte und in Betrieb genommene Gebäude in Betracht; die aktivierten Fremdkapitalzinsen lösen sich dann in Form erhöhter Abschreibungen über die Nutzungsdauer des Gebäudes auf.
Wirkungsdauer von Maßnahmen der materiellen Bilanzpolitik (in der wesentlichen Auswirkung) |
kurzfristig (1 Jahr) |
mittelfristig (2 bis einschl. 5 Jahre) |
langfristig (mehr als 5 Jahre) |
- Höhe der Einzelwertberichtigungen auf Forderungen
- Höhe der Abwertungen auf nur langsam sich umschlagende Vorräte
- Bewertungsmethoden für die Herstellungskosten der Erzeugnisse
- Beschleunigung oder Verzögerung des Absatzes bzw. der Produktion vor dem Bilanzstichtag
- Beschleunigte oder verzögerte Anschaffung von geringwertigen Wirtschaftsgütern vor dem Bilanzstichtag
- Beschleunigte Anschaffung digitaler Wirtschaftsgütern vor dem Bilanzstichtag (nur steuerlich)
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- Abgrenzung Herstellungsaufwand/Erhaltungsaufwand bei beweglichen Anlagegütern
- Bewertungsmethoden bei der Ermittlung der Herstellungs...
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