Leitsatz
1. Eine bestandskräftige Steuerfestsetzung kann im Billigkeitsverfahren nach § 227 AO nur dann sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung – beurteilt nach der Rechtslage bei der Festsetzung der Steuer – offensichtlich und eindeutig falsch ist und wenn dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren.
2. Der Umstand allein, dass eine bestandskräftig festgesetzte Steuer im Widerspruch zu einer später entwickelten Rechtsprechung steht, rechtfertigt noch nicht den Erlass der Steuer.
3. Das FG darf Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist.
4. Ein qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht (Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der 6. EG-RL) liegt nicht vor, wenn das FA die Umsätze einer Massagepraxis in der Rechtsform einer GmbH in den Jahren 1989 bis 1991 als steuerpflichtig behandelt hat.
Normenkette
§ 227 AO , § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG , Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der 6. EG-RL
Sachverhalt
Die Klägerin, eine GmbH, betrieb in den Streitjahren (1989 bis 1991) eine Massagepraxis. Das FA setzte 1992 bzw. 1994 USt fest, weil die Befreiungsvorschrift nicht für eine GmbH gelte. Die Klägerin beantragte erfolglos im Jahr 1998 mit Hinweis auf die BFH-Entscheidung vom März 1998, wonach auch eine GmbH steuerfreie Umsätze nach § 4 Nr. 14 UStG erzielen kann, den Erlass der Steuer.
Das FG verpflichtete das FA, den Erlassantrag der Klägerin erneut zu bescheiden.
Entscheidung
Die Revision des FA führte zur Abweisung der Klage. Im – allein maßgeblichen – Zeitpunkt der Steuerfestsetzung hat der BFH die Steuerfreiheit für eine GmbH nach Art. Teil A Abs. 1 Buchst. c der 6. EG-RL im Jahr 2000 (noch) als zweifelhaft angesehen (Vorlagebeschluss an den EuGH); der EuGH hat sie erst im Urteil vom 10.9.2002, Rs. C-141/00, Ambulanter Pflegedienst Kügler (UR 2002, 513) geklärt.
Soweit das FG versuchte, das BMF-Schreiben (Anwendung der Grundsätze zu heilberuflichen Leistungen einer GmbH auf "alle offenen Fälle") selbst auszulegen (gilt auch für offene Billigkeitsverfahren), schoss es übers Ziel hinaus: Das FG darf Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist.
Hinweis
1. Steuern, die bestandskräftig festgesetzt worden sind, können nach ständiger Rechtsprechung des BFH nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich gegen deren Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen.
Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Steuerfestsetzung des FA, nicht der Zeitpunkt der Billigkeitsentscheidung.
2. Auch das Gemeinschaftsrecht erkennt einen Entschädigungsanspruch – nur – an, sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind:
- Die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen,
- der Verstoß ist hinreichend qualifiziert und
- zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang.
Bei der Frage, ob ein qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegt, sind alle Gesichtspunkte des Einzelfalls zu berücksichtigen. Zu diesen Gesichtspunkten gehören u.a. das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes und die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums; ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die fragliche Entscheidung ?ie einschlägige Rechtsprechung des EuGH offenkundig verkennt (zuletzt EuGH, Urteil vom 30.9.2003, – Köbler – DB 2003, 2331 Rdnrn. 54 bis 56).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 13.1.2005, V R 35/03