Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzlicher Richter: Vorlagepflicht an den EuGH. Bindung an Vorabentscheidungen des EuGH
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
2. Ein Marktbürger kann sich gegenüber Behörden und Gerichten eines Mitgliedsstaates der Europäischen Gemeinschaften, der eine Richtlinie der Gemeinschaft nicht fristgerecht innerstaatlich vollzogen hat, auf die Bestimmungen einer solchen Richtlinie, sofern diese hinreichend klar und unbedingt sind, mit der Rechtsfolge berufen, daß ihnen der Anwendungsvorrang vor entgegenstehendem innerstaatlichem Gesetzesrecht zukommt.
3. Weicht ein letztinstanzliches Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewußt von der Rechtsprechung des EuGH zu einer in Rede stehenden, entscheidungserheblichen Frage ab und legt gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vor, so verkennt es die Vorlagepflicht aus Art. 177 Abs. 3 EWGV und verletzt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in willkürlicher Weise (hier: zur unmittelbaren Wirksamkeit der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie vor Umsetzung ins innerstaatliche Recht).
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; EWGV Art. 177 Abs. 3; 6. UStRL
Verfahrensgang
Gründe
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das angegriffene Urteil des Bundesfinanzhofs verstößt gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und war deshalb aufzuheben.
1. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 ≪366 ff.≫).
2. In seinem Beschluß vom 8. April 1987 – 2 BvR 687/85 – (S. 14 ff. des Umdrucks) hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, daß der Bundesfinanzhof Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt hat, weil er sich seiner Bindung zufolge Art. 177 Abs. 3 EWGV an eine im selben Verfahren ergangene Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs entzogen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Beschluß ausgesprochen, daß die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, derzufolge ein Marktbürger sich gegenüber Behörden und Gerichten eines Mitgliedsstaates der Europäischen Gemeinschaften, der eine Richtlinie der Gemeinschaft nicht fristgerecht innerstaatlich vollzogen hat, auf die Bestimmungen einer solchen Richtlinie, sofern diese hinreichend klar und unbedingt sind, mit der Rechtsfolge berufen kann, daß ihnen der Anwendungsvorrang vor entgegenstehendem innerstaatlichem Gesetzesrecht zukommt, verfassungsrechtlichen Bedenken nicht begegnet.
Das Bundesverfassungsgericht hat ferner entschieden, daß ein vorlagepflichtiges deutsches Gericht, falls es der Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs gleichwohl nicht folgen will, gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV zu einer neuerlichen Vorlage verpflichtet ist. In seinem Vorlagebeschluß muß es seine Bedenken gegen die Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs zur Anrufbarkeit nicht fristgerecht in innerstaatliches Recht umgesetzter Richtlinien dartun (Beschluß vom 8. April 1987, a.a.0., S. 28 f. des Umdrucks). Verweigert sich ein letztinstanzliches Gericht dieser Vorlagepflicht bezüglich derjenigen Rechtsfragen, die bereits Entscheidungsgegenstand einer im selben Verfahren ergangenen Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs waren, so ist das eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2. GG.
3. Der hier zur Entscheidung anstehende Sachverhalt unterscheidet sich nur insofern von dem dem Beschluß vom 8. April 1987 zugrundeliegenden Sachverhalt, als vorliegend eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Anwendungsvorrang der Bestimmungen der Sechsten Umstatzsteuerrichtlinie nicht im selben Ausgangsverfahren ergangen ist. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 6. Oktober 1982, RS 283/81, Slg. 1982, S. 3415 ≪3431≫) besteht eine Vorlageverpflichtung eines letztinstanzlichen Gerichts dann, „wenn in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt wird, es sei denn, es hat festgestellt, … daß die betreffende gemeinschaftsrechtliche Frage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war”. Der Wegfall der Vorlagepflicht gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV beruht in einem solchen Fall darauf, daß für eine neuerliche Vorlage an den Europäischen Gerichtshof deswegen keine Veranlassung besteht, weil die klärungsbedürftige entscheidungserhebliche Frage vom Europäischen Gerichtshof bereits beantwortet ist. Wollte ein Gericht eines Mitgliedsstaates in einem solchen Fall der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht folgen, ist es gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV zu einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet; in seinem Vorlagebeschluß muß es seine Bedenken gegen die entscheidungserhebliche Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs – hier zur Anrufbarkeit nicht fristgerecht in innerstaatliches Recht umgesetzter Richtlinien – dartun.
Weicht aber ein letztinstanzliches Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewußt von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu einer in Rede stehenden, entscheidungserheblichen Frage ab und legt gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vor, so verkennt es die Vorlagepflicht aus Art. 177 Abs. 3 EWGV und verletzt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in willkürlicher Weise, wie immer im übrigen der Maßstab der Willkür im Hinblick auf Verstöße gegen die Vorlagepflicht aus Art. 177 EWGV zu fassen sein mag. So liegt der Fall hier.
Nach alledem ist das angegriffene Urteil des Bundesfinanzhofs wegen einer Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aufzuheben.
4. Eine Aufhebung der angegriffenen Entscheidung wegen Unterlassens einer Vorlage des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag gemäß Art. 100 Abs. 1 GG kommt nicht in Betracht. Der Bundesfinanzhof hält das Zustimmungsgesetz für verfassungsgemäß. Voraussetzung der Zulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist, daß das Fachgericht von der Grundgesetzwidrigkeit des in Rede stehenden Gesetzes überzeugt ist.
5. Da das Urteil des Bundesfinanzhofs bereits wegen des Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aufzuheben war, kann dahinstehen, ob es gegen weitere von dem Beschwerdeführer benannten Grundrechte verstößt.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen