Entscheidungsstichwort (Thema)
Fiktive Berücksichtigung der Kirchensteuer bei Berechnung des Arbeitslosengeldes
Leitsatz (redaktionell)
Die bis zum Jahre 2004 geltende Regelung des § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 des Sozialgesetzbuchs Drittes Buch vom 24. März 1997 (BGBl I S. 594), wonach bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes fiktiv die Kirchensteuer auch bei solchen Arbeitslosen berücksichtigt wurde, die keiner steuererhebenden Kirche angehörten verletzt keine Verfassungsrechte.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1; SGB III § 136 Abs. 2 S. 2 Nr. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die bis zum Jahre 2004 geltende Regelung des § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 des Sozialgesetzbuchs Drittes Buch (SGB III) vom 24. März 1997 (BGBl I S. 594), wonach bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes fiktiv die Kirchensteuer auch bei solchen Arbeitslosen berücksichtigt wurde, die keiner steuererhebenden Kirche angehörten.
I.
1. Das Arbeitslosengeld wird aus dem Leistungsentgelt, dem “pauschalierten Nettoentgelt”, berechnet. Dieses ergibt sich aus dem Bemessungsentgelt, dem Bruttoentgelt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erhalten hat (§ 129 SGB III). Nach § 136 Abs. 1 SGB III in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung (im Folgenden: SGB III a.F.) war das Leistungsentgelt das “um die gesetzlichen Entgeltabzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen”, verminderte Bemessungsentgelt. Nach § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III a.F. zählte zu diesen gewöhnlichen Abzügen auch die Kirchensteuer. Eine Ausnahme für Arbeitslose, die keiner steuererhebenden Kirche angehörten, existierte nicht. Es handelte sich hierbei um einen fiktiven Berechnungsposten; das Arbeitslosengeld war nicht einkommen- und damit auch nicht kirchensteuerpflichtig.
2. Die Vorgängerregelung der angegriffenen Vorschrift (§ 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes) hatte das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 23. März 1994 für verfassungsmäßig erklärt (BVerfGE 90, 226 ≪236 ff.≫; vgl. zu der Berechnung auf Grund fiktiver pauschaler Abzüge schon BVerfGE 63, 255 ≪261 ff.≫). Es hatte dem Gesetzgeber allerdings aufgegeben, die weitere Entwicklung zu beobachten, weil die Kirchensteuer nur so lange als “gewöhnlich” anfallender Entgeltabzug angesehen werden könne, wie eine “deutliche Mehrheit” von Arbeitnehmern einer steuererhebenden Kirche angehöre. In Anknüpfung an diesen Beschluss hat das Bundessozialgericht am 25. Juni 2002 entschieden, der Gesetzgeber sei zu einer Änderung verpflichtet, sobald ihm Zahlen vorlägen, wonach der Anteil kirchenzugehöriger Arbeitnehmer unter 55 vom Hundert gesunken sei (SozR 3-4300 § 136 Nr. 1).
3. Durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (BGBl I S. 2848 ≪2859 f.≫) wurde die Berechnung des Arbeitslosengeldes ab dem 1. Januar 2005 neu geregelt. Nach § 133 Abs. 1 SGB III n.F. wird die Kirchensteuer nicht mehr berücksichtigt. In der Gesetzesbegründung ist dazu ausgeführt, zwar hätten im Jahre 2001 noch 55 vom Hundert der Arbeitnehmer einer steuererhebenden Kirche angehört; mittelfristig werde diese Voraussetzung jedoch nicht mehr erfüllt sein (vgl. BTDrucks 15/1515, S. 86).
4. Der Beschwerdeführer gehört keiner steuererhebenden Kirche an. Er bezog ab 2001 Arbeitslosengeld. Die entsprechenden Bewilligungsbescheide focht er mit der Begründung an, zumindest seit Oktober 2001 keine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer mehr einer steuererhebenden Kirche angehöre. Die in Frage stehende Regelung sei daher verfassungswidrig. Die Rechtsbehelfe blieben erfolglos. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg vertrat in dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil die Auffassung, nach der jüngsten vorliegenden Lohn- und Einkommensteuerstatistik hätten im Jahre 1998 noch 57,1 vom Hundert der Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland einer steuererhebenden Kirche angehört. Es stehe nicht fest, dass dieser Anteil im Jahre 2001 unter die maßgebliche Grenze von 55 vom Hundert gesunken sei. Das Bundessozialgericht verwarf die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig.
5. Der Beschwerdeführer macht geltend, die angegriffene Regelung verletze die Religionsfreiheit, den Gleichheitssatz und die Eigentumsgarantie. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überzeuge nicht. Die Grenze von 55 vom Hundert sei willkürlich und stelle keine deutliche Mehrheit dar. Außerdem hätten die Gerichte des Ausgangsverfahrens seine Rechte auf Gehör und auf ein faires Verfahren verletzt, weil sie seinen Vortrag zum tatsächlichen Anteil an Kirchenmitgliedern unter den Arbeitnehmern und insbesondere zu einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes über diesen Anteil im Jahre 2001 nicht ausreichend berücksichtigt hätten.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung angenommen werden. Annahmegründe des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Dabei kann offen bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde zulässig ist.
1. Eine Annahme nach § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG scheidet aus. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Durch die ersatzlose Aufhebung der angegriffenen Regelung ab Januar 2005 hat sich die Rechtslage seit Anhängigkeit der Verfassungsbeschwerde geändert (vgl. BVerfGE 91, 186 ≪200≫; BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, NJW 2000, S. 797 ≪798≫). Die aufgehobene Regelung ist auch nicht für eine erhebliche Anzahl noch anhängiger Streitigkeiten bedeutsam (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25≫). Ebenso ist wegen der prognostizierten sinkenden Zahl von Kirchenmitgliedern nicht zu erwarten, dass der Gesetzgeber sie erneut einführt (vgl. BVerfGE 81, 138 ≪140≫; BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, 1 BvR 1174/88 vom 22. April 1997 [JURIS]).
2. Auch eine Annahme nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG ist nicht angezeigt. Eine Verletzung von Verfassungsrechten des Beschwerdeführers ist nicht ersichtlich.
a) Die negative Religionsfreiheit der betroffenen Arbeitslosen ist durch die fiktive Berücksichtigung der Kirchensteuer als pauschaler Abzugsposten bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes bereits nicht beeinträchtigt. Der Arbeitslose wird nicht zur Kirchensteuer herangezogen, die Regelung führt nicht dazu, dass Arbeitslose mit Leistungen zugunsten von Kirchen belastet werden. Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht schon zu der inhaltsgleichen Vorgängerregelung festgestellt (vgl. BVerfGE 90, 226 ≪236 ff.≫. Es ist nicht erkennbar, dass diese Beurteilung einer Überprüfung bedarf.
b) § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III a.F. verstieß auch nicht gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 23. März 1994 dem Gesetzgeber lediglich aufgegeben, die weitere Entwicklung zu beobachten und “wesentlichen” Veränderungen rechtzeitig Rechnung zu tragen (BVerfGE 90, 226 ≪238≫). Hieran hat es in seiner Entscheidung zur Berechnung des Altersübergangsgeldes angeknüpft (BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 22. Juli 2002, 1 BvR 131/95, http://www.bverfg.de). Es hat keine feste Quote genannt, von der an der Anteil der Kirchenmitglieder unter den Arbeitnehmern die Berücksichtigung der Kirchensteuer als gewöhnlich anfallender Abzug verfassungsrechtlich nicht mehr rechtfertigt. Der Gesetzgeber hat sich jedenfalls innerhalb des ihm zur Regelung dieser Frage vom Grundgesetz eröffneten Spielraums bewegt, wenn er die in Frage stehende Vorschrift bis zum 31. Dezember 2004 aufrecht erhalten hat. Zwar ist der Anteil kirchenzugehöriger Arbeitnehmer von etwa 85 vom Hundert im Jahre 1983, von dem der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 1994 ausging, auf 57,1 vom Hundert im Jahre 1998, nicht zuletzt als Folge der Deutschen Einheit, zurückgegangen. Der Gesetzgeber durfte jedoch – auch mit Rücksicht auf die Schwierigkeit der zeitnahen Datenerhebung – jedenfalls bis Ende 2004 annehmen, dass eine wesentliche Veränderung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht eingetreten war.
c) Die Gerichte des Ausgangsverfahrens haben auch nicht die Rechte des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und auf ein faires Verfahren (Art. 19 Abs. 4 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt. Dass sie bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelung anderer Rechtsansicht waren als der Beschwerdeführer, begründet für sich noch keinen Verstoß gegen die genannten Verfassungsrechte (vgl. BVerfGE 64, 1 ≪12≫). Auch seinen tatsächlichen Vortrag haben sie aufgenommen und gewürdigt. Das Landessozialgericht hat sich insbesondere mit dem Hinweis des Beschwerdeführers auf die Erhebung des Statistischen Bundesamtes beschäftigt. Dass es diese Erhebung für rechtlich nicht relevant gehalten hat, verletzt nicht Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 96, 205 ≪216≫). Auch eine Überraschungsentscheidung liegt nicht vor. Gerichte sind grundsätzlich nicht verpflichtet, vorab mitzuteilen, wie sie den Vortrag der Parteien würdigen und deshalb entscheiden wollen (vgl. BVerfGE 86, 133 ≪145≫).
3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Gaier
Fundstellen
Haufe-Index 1367307 |
Kirche & Recht 2006, 82 |
NJOZ 2005, 2408 |