Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzlicher Richter: Vorlagepflicht an den EuGH
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
2. Ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, muß seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt wird, außer es hat festgestellt, daß die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, daß die betreffende gemeinschaftsrechtliche Frage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder daß die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt; ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft zu beurteilen (hier: Abschöpfungsabgabe für Pfirsiche, Brugnolen, Nektarinen).
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; EWGV Art. 177 Abs. 3
Verfahrensgang
Gründe
Die angegriffenen finanzgerichtlichen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrechten oder in ihren grundrechtsgleichen Rechten.
1. Die finanzgerichtlichen Entscheidungen verstoßen nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 ≪366 ff.≫). Der gesetzliche Richter wird in diesen Fällen immer dann entzogen, wenn ein Gericht seiner aus Art. 177 Abs. 3 EWGV obliegenden Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nicht nachkommt und wenn diese Maßnahme, Unterlassung oder Entscheidung auf Willkür beruht.
b) Es ist schon zweifelhaft, ob im vorliegenden Fall für den Bundesfinanzhof überhaupt eine Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV bestand.
aa) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., Rs 283/81, Slg. 1982, S. 3415 ≪3431≫) muß gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV „ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt wird, es sei denn, es hat festgestellt, daß die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, daß die betreffende gemeinschaftsrechtliche Frage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder daß die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt; ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft zu beurteilen”. Darüber hinaus sind alle innerstaatlichen Gerichte zur Vorlage verpflichtet, wenn sie eine Handlung von Gemeinschaftsorganen für ungültig halten, denn sie sind nicht befugt, die Ungültigkeit selber festzustellen (FuGH, Urteil vom 22. Oktober 1987, FotoFrost, Rs 314/85).
Danach entfällt die Vorlageverpflichtung für ein innerstaatliches Gericht, wenn das Gericht davon ausgehen darf, daß ein Fall vorliegt, in dem die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, daß kein Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt. Ein Gericht darf daher davon absehen, eine Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen und sie statt dessen in eigener Verantwortung lösen, wenn es auf die sich stellende Frage für jeden erfahrenen Juristen offensichtlich und vernünftigerweise nur eine Antwort geben kann (vgl. Daig, in: Groeben/Boeckh/ Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag ≪3. Aufl., 1983≫, Art. 177 Anm. 42 m.w.N.).
Aus diesem Verständnis der Vorlagepflicht des Art. 177 EWGV folgt, daß diese nicht schon deswegen besteht, weil eine Partei geltend macht, die Auslegung einer für den Rechtsstreit entscheidungserheblichen Vorschrift des Gemeinschaftsrechts sei nicht klar und bedürfe daher einer inhaltlichen Bestimmung durch den Gerichtshof. Die innerstaatlichen Gerichte sind vielmehr zu einer an objektiven Maßstäben ausgerichteten Prüfung verpflichtet, ob die entscheidungserhebliche gemeinschaftsrechtliche Norm in der Tat mehrere, für einen kundigen Juristen vernünftigerweise gleichermaßen mögliche Auslegungen zuläßt, wobei auch das gesamte Gemeinschaftsrecht, seine Ziele und sein Entwicklungsstand zur Zeit der Anwendung der betroffenen Vorschrift heranzuziehen sind.
bb) Im vorliegenden Verfahren erscheint die Auffassung des Bundesfinanzhofs, eine Verpflichtung zur Vorlage gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV habe nicht bestanden, zumindest naheliegend. Der Wortlaut der entscheidungserheblichen gemeinschaftsrechtlichenVerordnungen (EWG Nr. 1782/78 und Nr. 1937/78) spricht für die Auslegung durch den Bundesfinanzhof. Der Verweis auf die Tarifstelle 08.07 B des gemeinsamen Zolltarifs sowie der eindeutige Wortlaut der Regelungen in den Verordnungen und im gemeinsamen Zolltarif belegen, daß die Abschöpfungsabgabe für Pfirsiche, einschließlich Brugnolen und Nektarinen gelten soll. Dies gilt um so mehr, als in den Verordnungen (EWG Nr. 1637/77 und Nr. 1704/77) über die Schutzmaßnahmen bei der Einfuhr von Pfirsichen aus Griechenland Brugnolen und Nektarinen ausdrücklich aus dem Regelungsbereich ausgenommen worden sind.
c) Es kann jedoch dahinstehen, ob angesichts der Tatsache, daß die Behörden der Bundesrepublik Deutschland die rechtliche Auffassung der Beschwerdeführerin teilen, jeder kundige Jurist offensichtlich und vernünftigerweise zu diesem Auslegungsergebnis gelangen muß. Jedenfalls haben die Finanzgerichte ihre eventuelle Vorlagepflicht nicht willkürlich verkannt. Eine Verletzung der Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG scheidet aus.
aa) Durch eine Maßnahme, Unterlassung oder Entscheidung eines Gerichts wird der gesetzliche Richter nur dann entzogen, wenn diese Maßnahme, Unterlassung oder Entscheidung auf Willkür beruht (st. Rspr. seit BVerfGE 3, 359 ≪363 f.≫). Das gilt auch, wenn ein Gericht die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht, das über eine bestimmte Rechtsfrage zu entscheiden hat, außer acht läßt (BVerfGE 3, 359 ≪363≫; 9, 213 ≪215 f.≫; 13, 132 ≪143≫; 18, 441 ≪447≫; 29, 198 ≪207≫). Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG schützt nicht gegen Verfahrensfehler, die infolge eines Irrtums des Gerichts unterlaufen, sondern nur gegen Willkür (st. Rspr.; vgl. BVerfGE 29, 198 ≪207≫). Der gesetzliche Richter wird auch in den Fällen, in denen keine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs eingeholt worden ist, nur dann entzogen, wenn die Vorlageverpflichtung gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV willkürlich unterlassen wird (st. Rspr.; BVerfGE 29, 198 ≪207≫; 29, 213 ≪219≫; 31, 145 ≪169≫; 45, 142 ≪181≫; 73, 339 ≪369≫; 75, 223 ≪245≫; BVerfG, Beschluß vom 9. November 1987 – 2 BvR 808/82 –, EuGRZ 1988, S. 109).
Die Frage nach dem gesetzlichen Richter ist auch hier eine Frage des innerstaatlichen Rechts, die in allen Fällen der Vorlageverpflichtung unter gleichen Maßstäben geprüft werden muß. Auffassungen im europarechtlichen Schrifttum; vgl. statt vieler z.B. Nicolaysen, Europarecht 1985, S. 372; Hilf, EuGRZ 1978, S. 5 ff.), die für eine mehr oder weniger umfassende Nachprüfung der Vorlageverpflichtung aus Art. 177 EWGV und ihrer Nichtbeachtung im Einzelfall eintreten, kann nicht gefolgt werden; sie würden das Bundesverfassungsgericht entgegen seiner eigentlichen Aufgabe in die Rolle eines nationalen obersten „Vorlagen-Kontroll-Gerichts” versetzen (BVerfG, Beschluiß vom 9. November 1987, a.a.O.). Allerdings ist der anzulegende Willkürmaßstab auch vom Sinn und Zweck der in Art. 177 Abs. 3 EWGV statuierten Vorlagepflicht geprägt, nämlich eine möglichst einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten (BVerfG, Beschluß vom 9. November 1987, a.a.O.).
bb) Nach diesem vom Gemeinschaftsrecht bestimmten Willkürmaßstab ist Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls dann nicht verletzt, wenn ein Gericht die Vorlageverpflichtung an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 177 Abs. 3 EWGV mit rechtlich nachvollziehbarer und sachlich einleuchtender Begründung verneint und sich begründete Zweifel an der Richtigkeit der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Frage durch das Gericht nicht aufdrängen. Der gesetzliche Richter wird dann nicht entzogen, wenn ein Gericht prüft, ob es eine in Art. 177 Abs. 1 EWGV genannte Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen hat und die Voraussetzungen der Vorlageverpflichtung gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV mit vertretbarer rechtlicher Begründung verneint.
cc) Der Bundesfinanzhof hat danach im vorliegenden Fall die Vorlage an den Europäischen Gerichtshof jedenfalls nicht willkürlich unterlassen. Die Begründung des Bundesfinanzhofs, daß eine Vorlagepflicht nicht besteht, ist rechtlich nachvollziehbar und sachlich einleuchtend. Der Bundesfinanzhof ist auch nicht von Entscheidungen anderer innerstaatlicher Gerichte oder des Europäischen Gerichtshofs abgewichen. Der Bundesfinanzhof verneint eine Vorlagepflicht nach Art. 177 Abs. 3 EWGV, weil für ihn keine Zweifel an der Gültigkeit und über den Inhalt der anzuwendenden EWG-Verordnungen bestehen.
Der Bundesfinanzhof stützt sich auf den Wortlaut der Verordnungen, die aufgrund des Hinweises auf Tarifstelle 08.07 B GZT nicht nur Pfirsiche, sondern auch Brugnolen und Nektarinen erfassen. Er verweist darauf, daß es im Ermessen der Kommission liege für welche Erzeugnisse ein eigener Referenzpreis festgesetzt werde. Die Verordnung (EWG) Nr. 1035/72 enthalte keine Aussagen darüber, nach welchen Kriterien die Erzeugnisse abzugrenzen seien, für die ein jeweils eigener Referenzpreis festzusetzen sei. Die Verordnung Nr. 2118/74 über die Durchführungsbestimmungen für die Referenzpreisregelung bei Obst und Gemüse bestimme ebenfalls nicht, für welches Erzeugnis ein eigener Referenzpreis festzusetzen sei. Es sei gerechtfertigt, eine pauschale Betrachtung anzuwenden und im vorliegenden Fall für das Maß der Differenzierung zwischen den einzelnen Fruchtgattungen und -arten auf das Erfordernis einer möglichst einfachen und praktischen Handhabung des Systems Rücksicht zu nehmen. Es sei deshalb nichts dagegen einzuwenden, daß bei der Festsetzung der Referenzpreise für Pfirsiche einschließlich Brugnolen und Nektarinen die Notierungen für letztere unberücksichtigt blieben und einheitliche Referenzpreise für Pfirsiche gelten. Daß die Kommission 1977 anders als 1978 zwischen Pfirsichen und Nektarinen differenziert habe, liege in ihrem Ermessen.
Diese Begründung verstößt nicht gegen Denkgesetze und ist rechtlich vertretbar. Dem Bundesfinanzhof mußten sich begründete Zweifel an der Richtigkeit seiner Auslegung nicht aufdrängen. Die Beschwerdeführerin macht mit ihrer Verfassungsbeschwerde zwar geltend, daß es sich um eine kontroverse Rechtsfrage handelt; aus ihrem Vorbringen läßt sich jedoch nicht entnehmen, daß die von ihr vertretene Auffassung zu der gemeinschaftsrechtlichen Frage deutlich den Vorzug vor der vom Bundesfinanzhof vertretenen Rechtsmeinung verdient. Damit wird ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht dargelegt.
2. Die Entscheidungen der Finanzgerichte verletzen die Beschwerdeführerin auch nicht in anderen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten. Aus ihrem Vorbringen ergibt sich nicht, daß sie in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG oder in ihrer Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG verletzt ist.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen