Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Verbrauchsteuern. Elektrischer Strom. Nationale Regelung, die einen Zuschlag zur Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom einführt. Fehlen besonderer Zwecke. Zuschlag, der von den nationalen Gerichten als mit der Richtlinie 2008/118/EG unvereinbar angesehen wird. Rückforderung der rechtsgrundlos entrichteten Steuer durch den Endverbraucher allein vom Lieferer. Unmittelbare Wirkung. Effektivitätsgrundsatz
Normenkette
AEUV Art. 288 Abs. 3
Beteiligte
Gabel Industria Tessile und Canavesi |
Gabel Industria Tessile SpA |
Agenzia delle Dogane e dei Monopoli |
Verfahrensgang
Tribunale di Como (Italien) (Beschluss vom 28.04.2022; ABl. EU 2022, Nr. C 276/8) |
Tenor
1. Art. 288 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass er ein nationales Gericht daran hindert, in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen eine nationale Rechtsvorschrift, mit der eine indirekte Steuer eingeführt wird, die gegen eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer nicht umgesetzten oder mangelhaft umgesetzten Richtlinie verstößt, unangewendet zu lassen, es sei denn, das innerstaatliche Recht bestimmt etwas anderes oder die Einrichtung, der gegenüber die Rechtswidrigkeit dieser Steuer geltend gemacht wird, untersteht dem Staat oder dessen Aufsicht oder ist mit besonderen Rechten ausgestattet, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten.
2. Der Effektivitätsgrundsatz ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es dem Endverbraucher nicht erlaubt, die Erstattung der zusätzlichen wirtschaftlichen Belastung, die ihm dadurch entstanden ist, dass ein Lieferer eine von ihm selbst rechtsgrundlos entrichtete Abgabe gemäß einer ihm nach den nationalen Rechtsvorschriften zustehenden Befugnis abgewälzt hat, unmittelbar vom Mitgliedstaat zu verlangen, sondern ihn auf eine zivilrechtliche Klage gegen den Lieferer auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung verweist, wenn die Rechtsgrundlosigkeit der Entrichtung dieser Abgabe daraus folgt, dass die Abgabe gegen eine klare, genaue und unbedingte Bestimmung einer nicht umgesetzten oder mangelhaft umgesetzten Richtlinie verstößt, und wenn dieser Rechtsverstoß im Rahmen einer solchen Klage nicht wirksam geltend gemacht werden kann, weil die Berufung auf eine Richtlinie als solche in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht möglich ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Como (Gericht Como, Italien) mit Entscheidung vom 28. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Mai 2022, in dem Verfahren
Gabel Industria Tessile SpA,
Canavesi SpA
gegen
A2A Energia SpA,
Energit SpA,
Agenzia delle Dogane e dei Monopoli
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter Z. Csehi, M. Ilešič (Berichterstatter), I. Jarukaitis und D. Gratsias,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. September 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der spanischen Regierung, vertreten durch A. Ballesteros Panizo und J. Rodríguez de la Rúa Puig als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und F. Moro als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. November 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 288 Abs. 3 AEUV und des Effektivitätsgrundsatzes.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen zweier verbundener Ausgangsverfahren zwischen zum einen der Gabel Industria Tessile SpA und der A2A Energia SpA und zum anderen der Canavesi SpA auf der einen Seite und der Energit SpA sowie der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli (Zoll- und Monopolagentur, Italien) auf der anderen Seite wegen Anträgen auf Erstattung des von Gabel Industria Tessile und Canavesi in den Jahren 2010 und 2011 an A2A Energia und Energit gezahlten, von der italienischen Regelung vorgesehenen Zuschlags zur Verbrauchsteuer auf elektrischen Strom.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12) wurde durch die Richtlinie (EU) 2020/262 des Rates vom 19. Dezember 2019 zur Festlegung des allgemeinen Verbrauchsteuersystems (ABl. 2020, L 58, S. 4) aufgehoben. Die Richtlinie 2008/118 ist jedoch in zeitlicher Hinsicht weiterhin auf den Sachverhalt der Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbar.
Rz. 4
Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Diese Richtlinie legt ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern fest, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch folgender Waren (im Folgenden ‚verbrauchsteuerpflichtige Waren’ genannt) erhoben werden:
a) Energieerzeugnisse und elektrischer Strom gemäß...