Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gesellschaften. Körperschaftsteuer. Steuerprüfung. Anwendungsbereich des Unionsrechts. Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Durchführung des Unionsrechts. Fehlen. Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen. Verbuchung von Einnahmen aus Rechten des geistigen Eigentums. Grundsatz des den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes. Bewertung der Posten im Jahresabschluss. Beachtung der Grundsätze ordnungsmäßiger Rechnungslegung
Normenkette
EWGRL 660/78 Art. 2 Abs. 3, Art. 31, 51 Abs. 1
Beteiligte
Marcas MC Szolgáltató Zrt |
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága |
Verfahrensgang
Fovárosi Törvényszék (Ungarn) (Beschluss vom 29.06.2020; ABl. EU 2020, Nr. C 423/17) |
Tenor
1. Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 29. Juni 2020 vorgelegten Fragen unzuständig, soweit sie sich auf die Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats beziehen, die die Prüfung und Ahndung von Steuerdelikten im Bereich der Körperschaftsteuer betrifft.
2. Art. 2 Abs. 3 und Art. 31 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel [50 Absatz 2 Buchstabe g AEUV] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen in der durch die Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2003 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die Buchhaltungsunterlagen einer Gesellschaft mit der Begründung beanstandet, dass diese gegen die in den Vorschriften dieses Mitgliedstaats enthaltenen Grundsätze der Vollständigkeit und der Unabhängigkeit der Geschäftsjahre verstoßen, auch wenn alle anderen in diesen Vorschriften vorgesehenen Grundsätze der Rechnungslegung beachtet werden, wenn dieser Verstoß keine Abweichung in einem Ausnahmefall darstellt, die erforderlich ist, um die Beachtung des Grundsatzes des den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes sicherzustellen, und die im Anhang des Jahresabschlusses mit der Angabe ihres Einflusses auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage angegeben und hinreichend begründet wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 29. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 5. August 2020, in dem Verfahren
Marcas MC Szolgáltató Zrt.
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Siebten Kammer J. Passer (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richter F. Biltgen und N. Wahl,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. September 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Marcas MC Szolgáltató Zrt., vertreten durch B. Tóásó, ügyvéd,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Maddalo, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch G. Braun, V. Uher und L. Havas, dann durch G. Braun, V. Uher und K. Talabér-Ritz als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 47 und 54 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes sowie von Art. 2 Abs. 3 und Art. 31 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel [50 Absatz 2 Buchstabe g AEUV] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. 1978, L 222, S. 11) in der durch die Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2003 (ABl. 2003, L 178, S. 16) geänderten Fassung (im Folgenden: Vierte Richtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Marcas MC Szolgáltató Zrt. (im Folgenden: Marcas) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn, im Folgenden auch: Steuerverwaltung) wegen eines Bescheids, mit der diese einen Steuerfehlbetrag von Marcas feststellte und gegen Marcas Verzugszinsen sowie eine Steuergeldbuße festsetzte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In Art. 2 der Vierten Richtlinie heißt es:
„(1) Der Jahresabschluss besteht aus der Bilanz, der Gewinn- und Verlustrechnung und dem Anhang zum Jahresabschluss. Diese Unterlagen bilden...